Dreihundert Stunden Schicksal:
'Mir sejnen do – Wir sind da!'
Eine eindrucksvolle filmische
Dokumentation über Juden im Nachkriegsdeutschland
SUSAN VAHABZADEH
Ohne Zögern hält die alte Frau ihren Arm in die Kamera und
zeigt es vor, das Brandmal der Geschichte auf ihrer Haut. Sie erzählt davon,
wie es war nach dem Krieg, als sie, wie viele Überlebende des Holocausts aus
Osteuropa, ausgerechnet nach Deutschland kam. Die Deutschen wollten wissen,
was die Nummer auf ihrem Arm zu bedeuten habe; "das ist eure Schuld", habe
sie dann gesagt. "Aber nicht, wenn mich Kinder fragten. Dann habe ich
gesagt: Weißt du, ich bin so vergeßlich, das ist meine Telephonnummer.
Die Szene wird in dem Film Mir sejnen do – Wir sind da! zu sehen
sein: Die alte Dame ist nicht einfach irgendeine Interviewpartnerin, sie
ist die Mutter des Produzenten Janusch Kozminski. Seit 1994 arbeiten er
und der Regisseur Richard Chaim Schneider an dieser Dokumentation: Die
Geschichte der Juden in Deutschland nach 1945 wollen die beiden
aufzeichnen, in Berichten von Zeitzeugen und Gesprächen mit Historikern,
unzähligen Interviews mit den unterschiedlichsten Menschen – Ruth
Galinski und Daniel Cohn-Bendit, Shimon Peres und Helmut Kohl. Eine
Kinofassung, eine vierteilige Fernsehreihe, die noch im Herbst diesen
Jahres gesendet wird, und ein Buch soll das Projekt hergeben, wenn es
fertig ist.
"Wir wollen ein Standardwerk schaffen", sagt Kozminski nicht
ganz ohne Stolz. Mir sejnen do – Wir sind da! füllt sozusagen ein
schwarzes Loch in der Geschichtsschreibung – denn wie es weiterging für
die Überlebenden des Holocaust, ist kaum dokumentiert. "Wenn man bei uns
etwas über Juden hört oder liest, geht es zum tausendsten Mal um
Auschwitz – oder bestenfalls um Juden vor dem Krieg", sagt Schneider.
Wer weiß schon noch, daß in den Displaced-Persons-Lagern in Bayern nach
dem Krieg einmal 200 000 Juden gelebt haben, daß die meisten dieser
Menschen aus Osteuropa kamen, weil sie dort nicht bleiben konnten, und
ausgerechnet in Deutschland landeten? Daß sie nicht mehr fortgingen,
weil sie zu krank waren oder zu arm oder zu sehr damit beschäftigt, ein
neues Leben aufzubauen; wie sich die ersten jüdischen Gemeinden nach dem
Krieg formierten – davon spricht heute kaum noch jemand.
Ein solches Projekt ist naturgemäß teuer: Insgesamt kostet die
Produktion mehr als zwei Millionen Mark. Kozminski suchte sich gleich
mehrere Co-Produzenten. Mir sejnen do wird von WDR und BR mitproduziert,
von der Filmstiftung NRW, der Hamburger Filmförderung, der sächsischen
Landesmedienzentrale und dem Film- und Fernsehfonds Bayern unterstützt.
Darüberhinaus hat er eine ganze Reihe von Privatinvestoren mobilisiert,
die jeweils mit 5000 Mark oder mehr eingestiegen sind, sozusagen auf
Spendenbasis. Eine bemerkenswerte Liste ist dabei herausgekommen, auf
der sich unter anderem auch die Dresdner Bank, die Varta AG, Uschi Glas
und Charles Schumann finden.
Dreihundert Stunden Material wurden bislang gedreht. Für viele
der Menschen, die hier zu Wort kommen, ist es die letzte Gelegenheit,
ihre Erinnerungen zu Protokoll zu geben – die Zeit läuft ihnen davon.
Dieses Erbe wollen Schneider und Kozminski auswerten und archivieren.
Einen ähnlichen Gedanken hatte ein gewisser Herr Spielberg, dessen
Shoah-Stiftung ähnliches betreibt: Sie zeichnet die Erinnerungen
Überlebender auf. Allerdings endet auch die Arbeit der Shoah-Stiftung
bei der sogenannten Stunde Null; die Nachkriegsjahre werden in dem
Projekt nicht berücksichtigt.
Weil im Prinzip die gleiche Gruppe von Menschen zu Wort kommt,
haben Kozminski und Schneider natürlich Kontakt aufgenommen mit Steven
Spielberg und angeboten, für die Stiftung die Interviews in Deutschland
zu führen. Es wurde nichts draus. Getroffen haben sie ihn trotzdem: "Er
findet den Film interessant und hat gesagt, er möchte ihn sehen, wenn er
fertig ist", sagt Schneider. Aber: "Das sagt er vermutlich oft."
Trotzdem, findet er, habe seine Arbeitsweise ohnehin nicht viel
Ähnlichkeit mit der der Shoah-Stiftung. Die Interviews für Mir sejnen do
wurden nicht schematisiert, Schneider wollte jedem Gespräch genug Raum
lassen, sich zu entwickeln. "Unsere Herangehensweise ist einfach anders
– das liegt größtenteils daran, daß unser Zugang persönlicher ist."
Manche Gesprächspassagen kann man erst drehen, wenn die Interviewpartner
die Kamera nicht mehr wahrnehmen; in einer Szene scheinen ein alter Mann
und sein Sohn sie längst vergessen zu haben, sie reden vom Fortgehen aus
Deutschland, als wären sie allein, und der Vater beginnt, sich dafür zu
rechtfertigen, daß er geblieben ist.
Daß sie solche Szenen provozieren und zulassen konnten, liegt
daran, daß Schneider und Kozminski auch auf der Suche sind nach ihrer
eigenen Identität; Mir sejnen do spiegelt auch ihre Geschichte. Sie
selbst können Geschichten erzählen von den gepackten Koffern ihrer
Kindheit und davon, wie sie nach England und Frankreich geschickt
wurden. Allzu deutsch sollten sie nicht werden, die Kinder der
Überlebenden, die Eltern konnten sich keinen sicheren Ort mehr
vorstellen auf der Welt. Kozminskis Eltern sind, spät im Leben, doch
noch gegangen – nach Amerika. Schneiders Eltern sind geblieben. Weil man
mit der Zeit doch neue Wurzeln bildet und sich bindet an eine Sprache
und eine Kultur. Es mag sein, daß nur langsam aus den Juden in
Deutschland wieder deutsche Juden werden. "Aber dennoch", sagt Kozminski
und lacht, "wir sind da.
haGalil onLine -
Montag 08-03-99
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