Ernst Laske:
Lesen, ein Leben lang
Der Antiquar Ernst Laske
lebt mit seinem Bücherschatz in Tel Aviv – seine erste Heimat aber ist
Berlin
Von Thorsten Schmitz
Mal angenommen, die Welt geht unter. Dann würde Herr Laske
kurz von seinem Buch aufschauen, den Untergang zur Kenntnis nehmen - und
weiterlesen, solange es eben geht. Er würde in "Hitlers willige
Vollstrecker" von Daniel Goldhagen schmökern oder im Spiegel blättern, dabei
immer eine Benson&Hedges zwischen den Lippen. Den Goldhagen hat er bis zur
Hälfte durch, den Spiegel liest er sowieso vom ersten bis zum letzten
Buchstaben, seit 1953 Montag für Montag, obwohl der in Israel ja immerhin
umgerechnet zwölf Mark kostet. Ohne das Blatt, sagt Herr Laske, "könnte ich
nicht leben". Was nur die halbe Wahrheit ist - denn eine Welt ohne Bücher
wäre dem 82 Jahre alten Berliner auch ein Greuel.
Herr Laske, Ernst Laske, ein Mann mit wenigen grauen Haaren und
vielen Leberflecken im Gesicht, vertraut also mehr dem gedruckten Wort
als dem gesprochenen. Wenn er mal überlegt, was er sehr gerne laut tut,
dann sei doch ein im Standesamt gehauchtes "Ja" genauso bedeutungsvoll
wie ein "Nein". Das Beispiel klingt ein wenig aus der Luft gegriffen,
ist es aber nicht: 1942 heiratete Ernst Laske, sechs Jahre später ließ
er sich wieder scheiden, "das war meine Schuld". Seitdem ist er solo,
Single aus Überzeugung: "Ich bin zu sehr auf meine Bücher und meine
Lesegewohnheiten fixiert." Wenn es also nicht so abgedroschen klänge,
müßte man spätestens jetzt schreiben, daß Ernst Laske mit Büchern
verheiratet ist.
In seiner verwinkelten Drei-Zimmer-Wohnung im nördlichen Teil
von Tel Aviv, wo es so sauber und beschaulich zugeht wie in Friedenau,
stapeln sich Bücher, Zeitschriften, Papierschnipsel, Briefe. Und zwar
überall. Im Schlafzimmer auf der Kommode, sogar auf der Betthälfte, die
nie benutzt wird, im Badezimmer, in der Küche. In den Fluren stehen
Regale mit Fächern, die sich unter der Last von Heine, Hesse und Horvath
nach unten biegen. Im Wohnzimmer liegen Dutzende von Luftpostbriefen und
Postkarten nach Eingangsdatum sortiert, und wenn er den Stapel sieht,
seufzt er: "Oh mein Gott, die muß ich alle noch beantworten." Ernst
Laske verfügt über Freunde weltweit, leider nie über genug Zeit - manche
Briefe sind von Februar. Wenn es aber um Bücher geht, sind alle seine
Sinne aktiviert.
Bei Apfelstrudel, Bienenstich und Nescafé warnt er vor zwei
Fragen, die man ihm nicht stellen soll, weil er sie haßt. Erstens: Haben
Sie alle Ihre Bücher auch gelesen? Zweitens: Was sind die wert? Die
Aversion gegen diese Fragen hat er von seinem Vater, überhaupt hat der
Sohn dem Vater die Sammelwut zu verdanken und ein Erbe von 10000
Büchern: "Papa war ein Bibliophiler, was lag da näher, als daß ich die
Tradition weiterbetreibe?" Während seine Freunde den Mädchen Juckpulver
in die Blusen streuten und dem Lehrer Schneebälle an den Kopf warfen,
schmökerte Laske junior lieber in dicken Büchern. "Jeder", sagt Ernst
Laske und rückt die Platzdeckchen auf dem Wohnzimmertisch zurecht,
"jeder wie er will. Meinen Sie nicht auch?" Sein Nachbar riet ihm: "Herr
Laske, Sie müssen langsam ihre Bücher verkaufen, Sie sind ja auch nicht
mehr der jüngste..." Laske schüttelte den Kopf: "Guter Mann", belehrte
er den Nachbarn, "von meinen Büchern trenne ich mich nie. Was mit ihnen
passiert, wenn ich tot bin, interessiert mich nicht. "
Deutsche Bücher für Israel
Im kommenden Jahr feiert Israel 50jähriges Bestehen, Laske wird
dann einfach mitfeiern, das hat er sich fest vorgenommen. Er kam zwar im
Februar 1948 via Dänemark und Schweden nach Palästina, das zu dieser
Zeit noch von den Briten verwaltet wurde - aber drei Monate später schon
rief Ben Gurion den Staat Israel aus. Dort lebt Laske also seit fünf
Jahrzehnten, drei davon in einem Kibbuz nahe der syrischen Grenze, wo er
Kühe molk und in einer Schuhfabrik arbeitete, und zwei in Tel Aviv. Er
liebt das heiße kleine Land und die quirlige heimliche Hauptstadt Tel
Aviv - schon allein deshalb, weil er hier im Antiquariat "Landsberger"
deutsche Bücher archiviert, an- und verkauft. Esther Parnes, die
Besitzerin des Buchladens, hatte ihren Stammkunden eines Tages gefragt,
ob er nicht ein bißchen Ordnung machen wolle. Laske war vom Kibbuz aus
jede freie Minute nach Tel Aviv getrampt, um in Antiquariaten zu
stöbern. Als Laske dann nach Tel Aviv zog, schaute er wieder vorbei -
und blieb zwanzig Jahre. "Wir dachten, das Ordnen dauert vielleicht
einen Monat..."
So sehr Laske die Stadt am Mittelmeer auch liebt - im Herzen und
in Gedanken trägt er seine echte Heimat, und das ist Berlin. Begeistert
erinnert er sich an den jüdischen Ruderclub in Grünau ("Wir hatten das
schönste Bootshaus der Stadt!"), er schwärmt von den Wasserstraßen ("Wo
auf der Welt sonst kann man eine Großstadt mit dem Schiff durchqueren?")
- und jedesmal, wenn er in der letzten Zeit für eine Stippvisite nach
Berlin kam, fiel ihm der Rückflug schwer: "Die Stadt ist ja so spannend.
Berlin ist doch aufregend, oder?" Er würde sogar zurückziehen ins
Hansaviertel, wo er geboren wurde, aber mit 82 Jahren zieht man nicht
mehr um. Höchstens ins Altersheim, "was soll ich da?"
Bis vor kurzem fuhr er jeden Morgen mit dem Bus Nr. 4 in die
Innenstadt ins Antiquariat "Landsberger", wo er auf schätzungsweise fünf
Quadratmetern und unter zwei Neonröhren soviele deutsche Bücher
sammelte, daß man sich gerade noch bewegen kann. Es ist ein Raum, den
Steven Spielberg so herrichten lassen würde, wenn er einen Film drehte
über jemanden wie Herrn Laske. Nimmt man ein Buch aus dem Regal, rieselt
der Staub auf den marmornen Fußboden. Ein Ventilator surrt leise seine
Runden, auf einer mittelalterlichen Schreibmaschine notiert Laske Titel,
Verlag und Erscheinungsjahr. Regelmäßig schaut er noch nach dem rechten,
"ich kann es halt nicht lassen". Grass, Kafka, Enzensberger, Mann,
Zuckmayer - die alle hat Laske im Angebot, und auch eigenartige Titel
von unbekannten Autoren. Die Bücher stammen meist von deutschen Juden,
die ins Exil nach Israel geflüchtet waren. Laskes Hauptlieferanten sind
zugleich seine Hauptklienten. Leider sterben sie langsam weg, und die
Kinder der Kunden können oft kein Deutsch. "Irgendwie", sagt Ernst
Laske, "überlebt der Laden, ich weiß selber nicht wie." Wohl auch, weil
es Menschen gibt, die aus Deutschland anrufen und nach einem Buch
fahnden - das Laske oft besitzt. "Absurd", sagt Herr Laske und rollt
dabei das R wie Reich-Ranicki.
Lücken im Gedächtnis
Dabei ist absurd ja eher, wie Ernst Laske ins
Konzentrationslager Buchenwald kam: Er grüßte einen Freund, der gerade
von der SS angehalten worden war, woraufhin ein SS-Mann wissen wollte:
"Sind Sie auch Jude?" Laske bejahte wahrheitsgetreu - und der SS-Mann
befahl: "Na, dann kommen Sie mal gleich mit." Absurd ist auch, daß Laske
das Konzentrationslager schon nach vier Wochen wieder verlassen durfte.
Er weiß nicht mehr,warum, das entzieht sich seiner Erinnerung, sie
funktioniert jeden Tag schlechter. Wobei das, sagt Laske schmunzelnd und
rührt sich eine vierte Tasse Nescafé an, ja auch seine guten Seiten
habe: "Es ist schön, daß ich soviel vergesse. Jeder Tag ist, als würde
ich neu geboren." Gerade liest er ein Buch, wie man Gedächtnislücken
füllt - "bin aber leider erst auf Seite drei...".
"Kommen Sie mich begleiten?" fragt Herr Laske. Es zieht ihn zu
seinem Stammimbiß - McDonald s am Strand. Beim Rausgehen verrät Laske
dann doch seine zwei Lieblingsschriftsteller. Es sind Kurt Tucholsky und
Gottfried Benn. Mit Benns Tochter ist er befreundet, sie lebt in
Dänemark. "Oh Gott", ruft er und schließt die Wohnungstür, "ich habe
ihren Brief noch immer nicht beantwortet."
|