Juden in
Deutschland:
Mehr als eine reine Opfergemeinschaft
Von RAFAEL SELIGMANN
Auschwitz war nicht das Ende der deutsch-jüdischen
Geschichte. Die Art und Weise, in der Juden und Deutsche heute mit dem
Völkermord umgehen, droht jedoch das deutsche Judentum auszulöschen.
Eine mehr als tausendjährige Geschichte band
Deutschlands Juden an ihre Heimat, deren Menschen und ihre Sprache. Selbst wenn
die Hebräer Deutschland verlassen mußten, nahmen sie ein Stück portabler Heimat
mit sich: die deutsche Sprache. Jiddisch, das Idiom der osteuropäischen Juden,
hat seine Basis im Mittelhochdeutschen. Mehr als 80 Prozent des Vokabulars sind
deutschen Ursprungs - wer Deutsch spricht, kann ohne Mühe Jiddisch verstehen.
Jiddisch ist die deutsch-jüdische Symbiose schlechthin: deutsche und hebräische
Wortstämme, gebändigt und geordnet durch eine deutsche Grammatik, geschrieben
mit hebräischen Buchstaben.
Die heute vielbeschworene "deutsch-jüdische
Symbiose" entsprach jedoch weitgehend jüdischem Wunschdenken. "Der
deutsch-jüdische Dialog war ein jüdisches Selbstgespräch", spottete der Berliner
Gerschom Scholem. Weite Schichten der deutschen Gesellschaft akzeptierten die
Juden nicht als ihresgleichen.
Doch die Hebräer klammerten sich unverdrossen an
ihr Deutschtum. Der Name ihrer wichtigsten Vereinigung war Programm:
"Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens". Der preußische
Industrielle Walter Rathenau fordert gar ". . . eine Anartung (der Juden) in dem
Sinne, daß Stammeseigenschaften . . ., von denen erwiesen ist, daß sie den
Landsleuten verhaßt sind, abgelegt und durch geeignete ersetzt werden müssen".
Vergeblich. 1922 wurde Rathenau ermordet. Ein Jahrzehnt später wählten die
Deutschen die Nazis zur stärksten Partei. Nicht alle NS-Anhänger waren
Judenfeinde, aber sie nahmen den fanatischen Hitler-Antisemitismus in Kauf.
Am 8. Mai 1945 ging das Nazi-Reich zugrunde.
Seither lieben die Deutschen Juden. Der neudeutsche Philosemitismus hat einen
Schönheitsfehler: Er ist weitgehend auf tote Hebräer fixiert. Eine gigantische
Holocaust-Gedenkstätte wird gefordert. Jeder Israelbesuch einer deutschen
Feuerwehrkapelle beginnt in der Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem. Tote und
vertriebene jüdische Künstler und Wissenschaftler werden mit postumen Ehren
überhäuft. Steven Spielbergs Holocaust-Film "Schindlers Liste" wurde zum
Kassenschlager. Die deutschen Leser begeistern sich für Daniel Goldhagens
"Hitlers willige Vollstrecker" und Viktor Klempers Tagebücher. Mit deutscher
Gründlichkeit ergeht man sich in Betroffenheit. Sie läßt vergessen, daß seit
einem halben Jahrhundert wieder Juden in Deutschland leben.
Deutschlands Juden wiederum leben im inneren Exil.
Wie der Teufel das Weihwasser, fürchten sie die Frage: "Wie können Sie als Jude
in Deutschland leben?" Ist jüdisches Leben im ehemaligen "Mörderland"
vertretbar? Der Ausweg ist Realitätsflucht. Das temporäre Bewußtsein spiegelt
sich im Namen ihrer Vertretung: "Zentralrat der Juden in Deutschland".
Konsequent nehmen die Juden Deutschlands die Identität an, auf die sie die
Nichtjuden ohnehin reduzieren. Sie begreifen sich als lebenslange Opfer. Das
Vakuum, das durch die abnehmende Bedeutung der Religion und die schwindende
Kenntnis der eigenen Geschichte bei Juden (wie Christen) entsteht, wird durch
das Grauen der Schoah aufgefüllt. Jüdische Literatur in Deutschland beschäftigt
sich, abgesehen von den Büchern einer Handvoll Autoren, noch heute fast
ausschließlich mit dem Holocaust. So überschattet der Schrecken der
Vergangenheit das Leben der Gegenwart.
Seit dem vierten Jahrhundert leben Juden in
Deutschland. Sie waren und sind Teil der deutschen Geschichte, Gesellschaft,
Kultur, Wissenschaft, Wirtschaft und Politik. Deutsche Juden haben erstrangige
Leistungen vollbracht, weil es ihnen gelang, Werte beider Gemeinschaften
zusammenzuführen und weiterzuentwickeln.
Das deutsche Judentum hat nur dann eine Zukunft,
wenn Juden und Christen begreifen, daß lebendiges Judentum mehr sein muß als
eine Opfergemeinschaft. Daß sich das deutsche Judentum, trotz und gerade wegen
der Schrecken der Vergangenheit, wieder dem Leben zuwenden muß. Dies wird nur
gelingen, wenn Nichtjuden einsehen, daß historische Verantwortung mehr fordert
als folgenlose Betroffenheit: Akzeptanz der Hebräer als Mitbürger. Ansonsten
hätten die Nazis ihren einzigen nachhaltigen Triumph errungen: Deutschland
würde, eines Teils seiner Geschichte beraubt, "judenrein".
27.05.1997 Berliner Morgenpost
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