Liebe Pnina Nave Levinson,
nie mehr werde ich eine Antwort auf den Brief
bekommen, den ich Dir vor längerer Zeit geschrieben habe - nie mehr!
Du warst es, die mich sogleich in die Arme
schloß, als ich Dich - innerlich zitternd - zum ersten Mal sah.
Ich kannte keine deutschen Juden, obwohl ich
Deiner Generation angehöre. Viele Jahre schon hatte ich trauernd und
weinend nach Deinen Spuren gesucht, meine Schwester. Ach so viele waren
ausgelöscht, sechs Millionen. Ich fand wenige in der Literatur. Erst
durch eigene Forschungen erfuhr ich immer mehr über den Reichtum in
unserer gemeinsamen europäischen Geschichte.
Die jüdische Philosophie und Theologie erschloß
ich mir in meinem bescheidenen Rahmen. Du warst es, die in ihrer ganzen
schlichten und warmen Art so eindrücklich meine Scham überwandt und mir
persönlich begegnete. Nun konnte ich aus Deiner weitgefaßten
wissenschaftlichen Arbeit weitere Räume erschließen und mehr jüdische
Menschen kennenlernen. Danke, liebe Pnina.
„Nächstes Jahr in Jerusalem", es waren Deine
Worte. In Deinem Hause in Israel erlebte ich meinen ersten Vorabend des
Sabbat. Geschrieben hatte ich einiges dazu, aber gefeiert habe ich ihn
zum ersten Mal mit Dir und Deinem lieben Mann. Ich wollte Dich doch noch
so oft treffen!
Von Dir konnte ich lernen, in den europäischen
Emanzipationsbewegungen der Frauen die klaren jüdischen Spuren mit zu
bedenken und zu finden. Das befreite mich von dem ständigen Rückgriff
auf die zweitausend Jahre alten Bildgeschichten und dem uns ChristInnen
daraus überlieferten Antijudaismus. Ich habe ihn endlich an dieser
Stelle bemerkt, wurde durch Dich für ihn sensibilisiert in allen meinen
Auslegungsarbeiten.
Du Wegbereiterin der Verständigung zwischen
unserer Generation und der folgenden. Du Heilerin der zerstörten Teile
unseres Volkes. Du gabst keine Ruhe, solange Du nur etwas Kraft hattest,
zwischen den Kontinenten zu reisen, zu wärmen, zu vermitteln und aus
Deiner großen wissenschaftlichen Arbeit weiterzugeben. Du bliebst nicht
einfach in Deiner neuen Heimat Israel. Du warst auch bei mir und vielen,
vielen Menschen in Deutschland, unermüdlich jedes Jahr!
Deine wunderbaren Bücher bleiben uns. Einen
Kaddish für Dich und einen Stein aus meiner Heimat werde ich auf Dein
Grab legen bei meinem nächsten Besuch in Jerusalem.
In tiefer Trauer
Deine Friedel Geisler
Nun ist es eine Sache, was jemand privat oder
halböffentlich in einem Nachruf äußert und eine andere, was öffentlich
publiziert wird. Selbst für einen privaten oder halböffentlichen Rahmen
finde ich den ganzen Tonfall des Nachrufs reichlich larmoyant, aber das
mag Geschmackssache sein.
Keine Geschmacksache ist jedoch, wie hier
eine Verstorbene, die sich nicht dagegen wehren kann funktionalisiert
wird zur VERSÖHNUNGSGESTALT - eine spezifisch christliche Interessenlage
und zu einer „Heilerin".
„Du warst es, die mich sogleich in
die Arme schloß, als ich Dich - innerlich zitternd - zum ersten Mal sah"
Wovor
zitterte die Verfasserin vor dieser ersten Begegnung? Vor dem realen
Menschen Pnina Nave Levinson doch vermutlich nicht. Näheres benennt sie
nicht, sondern beläßt es im Diffusen, womit sie eine große
Projektionsfläche eröffnet. Wovor muß die Verfasserin zittern?
Normalerweise ist zittern doch eine Reaktion auf Kälte, Angst,
Entsetzen, Panik, emotionaler Erregung! Was wird hier in ein jüdisches
Individuum hineinprojiziert, welche übermächtigen Realitäten vertritt
Frau Levinson, daß sie eine derartige Reaktion bei der Verfasserin
hervorruft?
Aber glücklicherweise war alles überflüssig: PN schloß Frau Geissler in
ihre Arme!
Ist das die Rolle, die Juden / Jüdinnen
zugedacht ist.
Und was passiert, wenn sie nicht so „entgegenkommend" reagieren.
„Ich kannte keine deutschen Juden,
obwohl ich Deiner Generation angehöre"
Wie macht Frau Geisler das? Sie gehört doch
der gleichen Generation an wie Frau Levinson, die in den 20iger Jahren
in Berlin geboren ist. In ihrer Kindheit hat sie keine Juden und
Jüdinnen wahrgenommen? Was ist in ihrem Erwachsenenleben? Kannte sie
keine Jüdinnen oder hat sie die Jüdinnen in ihrem Umfeld nicht als
solche wahrgenommen. Birgit Rommelspacher hat dieses Phänomen in ihrem
Buch „Schuldlos schuldig" erforscht und dargestellt und auch mir ist es
hinreichend bekannt. Juden nicht als Juden wahrzunehmen ist auch eine
verschleierte Form des Antijudaismus / Antisemitismus.
„Viele Jahre schon hatte ich trauernd
und weinend nach Deinen Spuren gesucht, meine Schwester."
Was hat das zu bedeuten? Wer weint hier warum
um wen oder was? Ich glaube, hier werden Realitäten verdreht: Pnina Nave
Levinson gehört zur Minderheit der Juden, denen es gelungen ist aus
Deutschland zu fliehen. Wer hat hier Anlaß wegen der verlorenen Heimat,
der Vertreibung, der Ermordung von Angehörigen, dem Verlust von
Lebensmöglichkeiten zu trauern und zu weinen.
Die nicht-jüdisch deutsche Verfasserin stellt sich hier auf eine Stufe mit
der Vertriebenen. Sie ist auch ein Opfer, das einen Verlust zu beklagen
hat - einen unbekannten Verlust, einen Verlust der so groß ist, daß er
nicht näher benennbar ist.
Deutschland und die Deutschen als die größten Opfer der Judenvertreibung
und Judenermordung?
''Ach so viele waren ausgelöscht,
sechs Millionen"
AUSGELÖSCHT - AUSGELÖSCHT: Welche perfide
Verharmlosung und Beschönigung. Ein Euphemismus, der die Tragweite des
Geschehenen verschleiert!
Ausgelöscht - wird im deutschen Sprachgebrauch eine Kerze, ein Feuer, eine
voll beschriebene Tafel
Eine Kerze: weil sie abgebrannt ist, also ihre Zeit vorbei ist - oder lang
genug gebrannt hat.
Ein Feuer: weil es Leben oder Besitz bedroht - gefährlich ist
Eine Tafel: weil sie voll beschrieben ist, also das was drauf ist nicht
mehr benötigt wird oder Platz für etwas Neues zu Schreibendes geschaffen
werden soll.
Genau die Realitäten, die diese Metapher vom
„auslöschen" umschreibt, haben die Nazis propagiert! Deswegen wurden
Millionen von Juden und anderen umgebracht.
Sie wurden nicht ausgelöscht, sondern ERMORDET - ERMORDET
Weiter bezieht sich Frau Geisler darauf, daß
sie einiges zum Schabbat geschrieben habe, ihn aber zum erstenmal DANACH
mit Familie Levinson gefeiert habe. Ich bin immer wieder erstaunt, mit
welcher Selbstverständlichkeit einzelne christliche Theologinnen sich zu
jüdischen Themen äußern ohne einen entsprechenden Erfahrungsbezug zu
haben. Wenn mir etwas entsprechendes unterlaufen wäre, würde ich
zumindest den Mund darüber halten, aber nicht auch noch darauf
verweisen.
Aber die meisten Angehörigen der christlich weißen Dominanzkultur wissen
noch nicht einmal, was Juden / Jüdinnen überhaupt meinen, wenn sie
dieses Verhalten kritisieren.
''Erst durch eigene Forschungen
erfuhr ich immer mehr über den Reichtum in unserer gemeinsamen
europäischen Geschichte."
Auf welche Gemeinsamkeiten bezieht sich die
Verfasserin? Soweit mir die europäische Geschichte bekannt ist, war das
Verhältnis zwischen Juden und nichtjüdischen Umweltkulturen größtenteils
das von Verfolgten und Verfolgern! Mit welchem Recht maßt sich die
Verfasserin an, hier eine gemeinsame Geschichte zu konstruieren. Diese
Äußerung verrät mehr über die Bedürfnislage der Nachrufenden als über
die Realitäten der europäischen Geschichte. Die einzige Gemeinsamkeit,
die ich erkennen kann, ist der territoriale Aspekt. Die europäische
Geschichte sieht aus der Sicht der Minderheiten völlig anders aus, als
aus der Perspektive der Mehrheitskultur.
''Das befreite mich von dem ständigen
Rückgriff auf die zweitausend Jahre alten Bildgeschichten und dem uns
ChristInnen daraus überlieferten Antijudaismus."
Die zugegebenermaßen polemische Rückfrage sei
mir gestattet, auf was Frau G. noch alles zurückgreifen würde, wenn sie
Pnina Nave-Levinson nicht begegnet wäre.
''Du Wegbereiterin der Verständigung
zwischen unserer Generation und der folgenden. Du Heilerin der
zerstörten Teile unseres Volkes."
Zu was wird Pnina Nave Levinson hier
hochstilisiert? Mir lief es kalt den Rücken runter bei dieser Stelle „Du
HEILERIN der zerstörten Teile unseres Volkes".
Ich dachte daran daß in Deutschland vor 60 Jahren geschrien wurde: „Die
Juden sind unser Unglück". Anscheinend sind Juden nur für
Extrempositionen gut: „Unglück" oder „Heilerin". Was gibt es dazwischen?
Und was, wenn sie da nicht mitmachen?
Heilerin - was drückt das für einen Anspruch, für eine Anforderung - eine
ÜBERforderung aus. Pnina Nave Levinson - ein Übermensch - vor 60 Jahren
wurde sie vertrieben, weil sie zu den UNTERmenschen gerechnet wurde:
früher Dämonisierung - heute Idealisierung!
„Heilerin der zerstörten Teile unseres
Volkes": Was wird ihr da für eine Funktion zugeschoben und welches Volk
ist hier mit „unserem Volk" gemeint? Wieder eine Gemeinsamkeit, die
konstruiert wird. Welche Volkszugehörigkeit haben Frau Geisler und Frau
Levinson gemeinsam?
Das deutsche Volk kann ja nicht gemeint sein, das jüdische auch nicht, das
israelische auch nicht, das christliche Gottesvolk auch nicht - die
Enterbungstheologie läßt grüßen: Die besagte nämlich, daß der alte Bund
- das alte Gottesvolk Israel in Jesus durch den Neuen Bund - das neue
Gottesvolk der Christen abgelöst wird. Die Gemeinsamkeit macht von der
Sachlogik und der Sprachlogik her nur Sinn, wenn man eine Art
gemeinsamen Nenner zwischen dem jüdischen und dem christlichen Volk
sehen würde. Wer vereinnahmt hier wen für was?
Wenn ich solche Ausführungen, wie diesen
Nachruf von Frau Geisler lese, dann frage ich mich, welchen Sinn ein
christlich-jüdisches Gespräch - ganz zu schweigen von einem Dialog (der
hat noch nicht mal angefangen) - eigentlich hat.
Iris Noah
Im Forum:
Stellungnahme der Redaktion der Schlangenbrut / 20-12-98
01-99