Lust:
Elfriede Jelinek im Zenit des Ruhms?
Ein Interview aus Wien,
Jolita Venckute, Korrespondentin der Tageszeitung "Lietuvos rytas"
Die österreichische Prosaschriftstellerin Elfriede Jelinek, die
den Augen der Gesellschaft ständig ihren Zerrspiegel vorhält, wurde
vor einigen Tagen mit dem wichtigsten deutschen Literaturpreis, dem
Georg-Büchner-Preis, ausgezeichnet. Seit 1980 provoziert die Autorin die
Gesellschaft mit ihrem Werk; dieses Jahr paßt nicht in ihren Kalender voller
böser Rezensionen. Jelinek fand Eingang in das Salzburger Festival, ihr
prototypischer Zyklus von Kinofilmen wurde gezeigt, die Zeitschrift "Theater
heute" wählte sie zur "Dramaturgin des Jahres". Hat die Prosaistin den Zenit
des Ruhms erreicht? Vor kurzem erschien in den Buchhandlungen Litauens das
Buch "Lust" (ins Litauische übersetzt von J. Kuncinas), das sie für "Muzu
malunas" vorstellt.
Ich weiß nicht, ob meine Sprache überhaupt übersetzbar ist - das
ist ein gemeinsames Problem meiner Texte. Mein Buch "Die Kinder der
Toten" konnte nicht einmal ins Niederländische übersetzt werden, das auf
den ersten Blick dem Deutschen sehr ähnlich ist. Ich schreiben mit einer
besonderen Methode, verwende Permutationen, Alliterationen,
Lautübertragungen, Metathesen und Vertauschungen, damit die Sprache
selbst anfängt zu sprechen. Die Sprache ist die Hauptakteurin meiner
Texte.
Meine Rede zur Verleihung des Georg-Büchner-Preises beginnt mit
einem Satz, in dem ich mit dem deutschen Wort "aufheben" in seinen
verschiedenen Bedeutungen spiele - vom Boden aufheben, löschen,
beleuchten. In welche Sprache läßt sich dieses Wort genau übersetzen?
Ich glaube, so eine Sprache gibt es nicht.
Als bekannte Autorin in einem kleinen Land will ich mich nicht
mit James Joyce vergleichen, aber ich meine, er schreibt ähnlich. Einige
Übersetzer wenden sich an mich, und dann besprechen wir den Text
gemeinsam, andere Texte muß ich aus der Hand geben, weil ich die Sprache
nicht verstehe. Die besten Übersetzungen meiner Texte stammen wohl von
Schriftstellern, die etwas Eigenes hinzufügen oder sogar etwas Neues
schaffen.
MM. Ihr Buch "Lust" ist in Österreich 1989 erschienen.
Von welchen Stimmungen waren Sie damals geprägt, und was wollten Sie mit
Ihrem Buch sagen?
Vor allem wollte ich die Privatheit der Sexualität an die
Oberfläche bringen und zeigen, daß das, was privat erscheint, und das,
was die Pornoindustrie vorsetzt (áteigia) - das ewige
Lustgefühl, das sie uns erweckt - in Wirklichkeit nur die Rückkehr ein
und desselben ist. Der Text basiert auf dem hegelianischen Verhältnis
von Herr und Diener.
In der Lebens- und Arbeitsumgebung ist Sexualität nichts anderes
als das Spiegelbild der Machtverhältnisse: Wer Eigentum hat, eignet sich
die Arbeit des anderen an. Dieses Verhältnis tritt in rückständigen
Ländern wie Österreich deutlicher zutage als dort, wo ein
partnerschaftliches Verhältnis zwischen Mann und Frau existiert. Bei uns
ist es immer noch so, daß der Mann nicht nur über den Körper der Frau
verfügt, sondern auch über ihre Arbeit. Sicher, die Frau hat davon auch
ihren Nutzen, die Frau kann Lust empfinden, das bestreite ich doch gar
nicht. Dann wird sie allerdings zur Komplizin (bendrininke)
des Mannes, selbst wenn sie einen anderen Körper benutzt.
MM. Eine Kritikerin der "Süddeutschen Zeitung" schrieb
kürzlich, die Figuren Ihres Romans "Lust" seien zu Fleisch und Blut
geworden; sie lebten in der Gesellschaft und in der Politik, sogar im
Weißen Haus: "es ist schon nicht mehr wahr, daß der Staat das für uns
Unsichtbare manipuliert - - wir sehen alles; Gerti und Hermann beten
schon morgens früh zu Gott, daß ihre Macht und ihr Sex andauern möge."
Haben Sie uns mit Ihrem Buch der Clinton-Affaire nähergebracht?
Da ist vielleicht etwas Wahres dran. Es war aber auch schon
früher kein Geheimnis, daß staatliche Machtfunktionen den Körper des
Mannes - denn Männer gelangen häufiger an die Macht - mit einem
Sprengsatz von Sinnlichkeit aufladen, und er den Körper der Frau
benutzen kann, der zu einem Komplizen wird, da er nicht gegen die Regeln
des Üblichen verstößt (neperzengia nustatytu taisykliu ribos) und
doch ständig selbst nach Macht strebt.
In meinem Buch verschweige ich nicht, daß es eine zusätzliche
berufliche Abhängigkeit gibt - der Manager der Papierfabrik heiratet
seine ehemalige Sekretärin. Ich versuche, die Abhängigkeitsverhältnisse
zu verschärfen, indem ich ihm nicht erlaubt habe, irgendeine reiche
Fabrikantentochter zu heiraten. Die Abhängigkeit ist hier so ähnlich wie
die zwischen Clinton und Monica Lewinsky; übrigens kommt es nur sehr
selten vor, daß ein Mann in beruflichem Sinn von der Frau abhängig wird.
Außerdem wirkt Macht erotisch elektrisierend auf Männer, aber
nicht auf Frauen -- die werden von der Macht "de-erotisiert". Vielleicht
wird es in hundert Jahren anders sein, aber nicht eher. Frauen strahlen
nicht die Erotik aus, die aus wirtschaftlicher Macht entsteht, aus
Wissen oder irgendwelchen künstlerischen Fähigkeiten. Ich sehe das an
mir - Männer begreifen mich oft als Monster, während für Frauen eine
berühmte Schriftstellerin ein sehr wertvolles und erstrebenswertes
Subjekt ist.
MM. Wenn man die erscheinenden Texte beobachtet,
entsteht der Eindruck von einer bestimmten Vorahnung der Schriftstellerin -
sie protestiert, bevor das Ereignis noch angefangen hat.
Ich möchte nicht behaupten, daß Schriftsteller prophetische
Eigenschaften haben, aber ich sehe oft, daß Künstler Ereignisse
vorausahnen. Das beste Beispiel könnte das Buch "Die Kinder der Toten"
sein, daß zu einer Zeit erschien, als sich niemand für die Wiederkehr
der Schuld interessierte und dafür, daß die Toten sich von den Lebenden
das wiederholen, was ihnen gehört. Vor drei, vier Jahren hätte einem
jeder in Österreich gesagt: "Nazigeschichten interessieren uns nicht."
Erst später stellte sich heraus, daß diese Zeiten bei weitem nicht
vorbei sind, sie haben bloß fünfzig Jahre lang geruht.
Heute sind die österreichischen Zeitschriften voll von
Mitteilungen über Eigentumsklagen, über Rückerstattungen; ein Bild von
E. Schiele wird in New York beschlagnahmt, plötzlich tauchen Arbeiter
aus der Nazizeit auf und erheben Anklage gegen deutsche Unternehmen,
plötzlich stellt sich heraus, daß an den Universitäten immer noch der
Pernkopfsche medizinische Atlas in Gebrauch ist, plötzlich gelangen
anatomische Präparate von zu Tode gequälten Menschen an die
Öffentlichkeit. Das hätte man auch vor fünf Jahren erfahren können, aber
niemand wollte es.
So lange die Schriftsteller schreiben, kann die Geschichte
Deutschlands nicht sterben. Sie wächst sozusagen aus dem Grab und wird
noch ganze Generationen beschäftigen. Österreich tut sich im Umgang mit
seiner Geschichte schwerer als Deutschland (dëlioja) - vielleicht
weil es schon in den vierziger Jahren unabhängig wurde und als
unschuldig galt, obwohl es sich als erstes schuldig gemacht hatte.
Außerdem ist die österreichische Presse eine Boulevardpresse, hier gibt
es nicht so eine Zeitung wie die "Frankfurter Allgemeine", die sich um
so eine Geschichte kümmern würde.
MM. Ihre Großmutter war Jüdin. Haben Sie deshalb ein anderes
Verhältnis zur Geschichte?
Mein Vater war auch Jude. Vielleicht bin ich empfindlicher, weil
ich aus einer Familie komme, die zum Teil dem Regime zum Opfer fiel.
Sehr früh habe ich mich mit Geschichte auseinandergesetzt, mein Vater
hat ständig Filme gezeigt, er war selbst Zwangsarbeiter. Ich habe einen
recht starken Gerechtigkeitsreflex, weiß aber nicht, woher er kommt.
Deshalb habe ich mich über die Rede geärgert, die Martin Walser bei der
Preisverleihung gehalten hat - sie zerstört den in Deutschland
herrschenden Konsens darüber, daß die Schuld der Deutschen und der
Österreicher eine gewisse Konstante ist, vor der man nicht weglaufen
kann.
MM. In der österreichischen und deutschen Presse
veröffentlichen Sie häufig Artikel über Ereignisse, die Sie bewegen. Kann
ein Schriftsteller Einfluß auf die öffentliche Meinung ausüben?
Auf diese Frage suchen wir alle seit langem eine Antwort und
können sie nicht finden. Ich meine nicht, daß ein Schriftsteller die
Ansichten der Gesellschaft verändern kann. Er kann nur eher als andere
den Finger erheben und auf wunde Stellen weisen. Einen Schrecken
einjagen. So lachen, daß dem anderen das Lachen im Halse steckenbleibt.
Einen Stein ins Wasser werfen und Ringe erzeugen. Vielleicht mit seinem
Buch den einen oder anderen Mann zum Nachdenken bringen, wie er mit
seiner Frau umgeht. Nicht mehr.
MM. Sie waren Kommunistin. Was heißt das in Österreich?
Sagen wir, ich praktiziere einen idealistischen prächristlichen
Vulgärmarxismus. Ich wäre aber niemals Kommunistin in einem Land
gewesen, wo Menschen unterdrückt wurden. Als Parteimitglied
wollte ich einfach Gleichgewicht für die rechte, sehr katholische Welt
in Österreichs, daß die Partei über die Fünf-Prozent-Hürde kam, und den
Einzug ins Parlament. Wenn alles nach rechts rennt, möchte man, daß
wenigstens einige Leute nach links rennen. Aber Sozialist kann man nur
dort sein, wo Sozialismus keine Staatsform ist.
MM. Was passiert, wenn Ihre Bücher ins Theater kommen? An
österreichischen Theatern wurden Ihre Stücke "Raststätte", "Stöckl, Stab und
Stangl" und "Sportstück" inszeniert; Lesungen fanden sogar auf dem
konservativen Salzburger Festival statt. Trotzdem haben Sie übers Theater
meist schlecht geredet.
Ein Bühnenwerk ist etwas ganz anderes als ein Buch. Der
Regisseur ist hier genauso wichtig wie de Autor, darum ist mein Anteil
am "Sportstück" genauso groß wie der des Regisseurs Einar Schleef.
Ich würde mich nicht als Dramaturgin bezeichnen, ich bin
Prosaistin, und meine Texte sind zum Lesen gedacht. Es ist wahr, ich
habe mich immer gegen das Theater gewehrt, aber genau das ist meine
Herausforderung - ich möchte von ihm etwas ganz anderes kriegen als das,
was es seit Jahrhunderten demonstriert. Ich gebe dem Regisseur die
Partitur des Textes, und er kann das Werk anordnen, wie er will. Die
meisten Dramaturgen verhalten sich umgekehrt und wollen, daß ihre Werke
mit minutiöser Genauigkeit (minutes tikslumu) gespielt werden.
Mich reizt das überhaupt nicht. Im Gegenteil - ich bin sehr angetan von
Theaterarbeiten, die etwas ganz Neues in meinen Werken zeigen.
Interessanterweise wurden meine Stücke immer mehr geschätzt als meine
Bücher. Ich kann nur vermuten, daß hier die Klasse der Spießbürger sich
selbst feiert.
MM. "Sportstück" wurde im Wiener Nationaltheater genau
zu der Zeit gezeigt, als die Fußballweltmeisterschaft stattfand. War das
Zufall?
Wenn ich schreibe, denke ich gar nicht daran, denn man kann doch
nicht wissen, wann irgendwer mein Stück auf die Bühne bringt. Aber reine
Zufälle gibt es nicht - vielleicht hat mein Unterbewußtsein geahnt, daß
ein großes sportliches Ereignis im Kommen war? Übrigens wurde beim
Festival von Avignon dieses Radio-Direktübertragungs-Stück gerade wegen
der Fußballweltmeisterschaften ausgewählt.
Sport hat mich immer interessiert, und der Haß auf Sportler
zieht sich als Thema durch alle meine Texte. Übrigens haben mir
Sportjournalisten von Zeitungen immer wieder gesagt, daß ich den Sport
so sehe, wie er ist. Es gab allerdings auch welche, die behaupteten, ich
würde Sport tendenziös darstellen und Sport wäre ein der wahre Anzeiger
für Gerechtigkeit. Aber Sport ist doch Krieg; oft wird mit anderen
Mitteln gekämpft, manchmal auch mit den gleichen.
MM. Sie haben keine Angst vor den neuen
Kommunikationsmitteln, haben auch eine Homepage im Internet. Was
bedeuten die elektronischen Kommunikationsmittel für Sie? Kann es sein,
daß die Elektronik irgendwann das Buch verdrängt, wie einige Verleger
auf der Frankfurter Buchmesse befürchten?
Ich schreibe schon seit 1984 auf dem Computer. In Europa bin ich
wahrscheinlich eine der Schriftsteller, die am längsten einen Computer
benutzen. Es entspricht am besten meiner Methode, mit Sprache zu
arbeiten - früher habe ich immer, wenn ich ein paar Änderungen gemacht
hatte, das Blatt neu getippt, denn ich wollte, daß es tadellos aussah.
Heute ist das nicht mehr nötig. Die Homepage hat mein Mann eingerichtet,
ein Computerspezialist, der so gern mit dem Computer spielt wie ich mit
der Sprache. Ich habe ein paar Bilder von Österreich auf meiner
Homepage, damit die Germanisten in Amerika sich besser vorstellen
können, was die Kapelle der Mariazeller Gnadenmutter bedeutet. Vor
kurzem habe ich gezählt, daß meine Homepage schon etwa dreitausend Gäste
hatte; langsam reiche ich an die Auflage des Buches heran.
Ich schätze die Schnelligkeit von e-Mail und das Internet und
begreife auch ihre Bedeutung für den Umweltschutz - wenn weniger Papier
gebraucht wird, werden ganze Wälder gerettet. Ich meine aber nicht, daß
die Elektronik in der nächsten Zeit das Buch verdrängen wird. Das Buch
wird als Hauptobjekt bleiben, das man sich per e-Mail allenfalls
bestellen kann.
Vielleicht erfordern Bücher mehr Mühe. Auch jetzt merke ich, daß
meine Bücher - sowohl "Lust" als auch "Die Kinder der Toten", das ich
für mein bestes Buch halte - nicht verstanden wurden. In unserer
Gesellschaft ist zusammen mit den Juden dieses spezifische Verständnis
von Humor und Ironie ausgestorben. Das spüre ich heute besonders stark.
haGalil onLine -
Montag 07-12-98 |