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Süddeutsche Zeitung

Sie sind unser Unglück

Der neue alte Antisemitismusstreit / Von Michael Brenner

Wer die Feuilletonspalten deutscher Zeitungen in den letzten Wochen verfolgte, wird unschwer erkennen, daß wir uns mitten in einem neuerlichen Antisemitismusstreit befinden – einer Debatte, die in Deutschland eine lange Tradition hat und im sogenannten Berliner Antisemitismusstreit von 1879 kulminierte. Ein Blick zurück läßt erkennen, daß sich trotz aller Verschiedenheit durchaus auch Parallelen mit der heutigen Auseinandersetzung erkennen lassen.

Richten wir unser Augenmerk einmal nicht so sehr auf die unterschiedliche Bewertung der jüngsten deutschen Vergangenheit, sondern auf das Bild der Juden, wie es unlängst bei Rudolf Augstein und bei Martin Walser gezeichnet wurde. Die Ausführungen von Augstein und Walser, die heute auf den ersten Blick als eine gemeinsame Seite der Debatte betrachtet werden, entpuppen sich bei näherem Hinsehen als zwei unterschiedliche deutsche Traditionen: auf der einen Seite eine, auch in der Wortwahl, wenig verhüllte Abneigung gegenüber den Juden, auf der anderen Seite eine Abneigung gegen das Jüdische als eigenständiges Kulturelement. Im Berliner Antisemitismusstreit standen sich vor über hundert Jahren zwei der berühmtesten deutschen Historiker gegenüber, um eine wenig historische Frage zu erörtern. Auf der einen Seite goß der nationalgesinnte Historiker Heinrich Treitschke frisches Öl in die vom Hofprediger Stöcker geschürten Flammen des politischen Antisemitismus. In seinem Aufsatz in den „Preußischen Jahrbüchern“, in dem erstmals das Schlagwort „Die Juden sind unser Unglück“ zu lesen war, bezichtigte er die „hosenverkaufenden Jünglinge“ aus dem Osten, zur Überfremdung der deutschen Kultur beizutragen. In einer entschiedenen Erwiderung ließ sein Kollege Theodor Mommsen keinen Zweifel an seiner grundsätzlich liberalen Einstellung, die sich gegen jeglichen Versuch verwahrte, deutschen Juden ihre Rechte zu schmälern oder ihr Deutschtum zu bestreiten. Gleichzeitig fühlte sich Mommsen jedoch auch verplichtet, den deutschen Juden Mitverantwortung am aufflammenden Antisemitismus zuzuschreiben.

Nach all den Worten der Entrüstung über die antisemitischen Töne seines Historikerkollegen Treitschke kam Mommsen im Schlußwort seiner Entgegnung zu der Erkenntnis, daß die Juden sich außerhalb der modernen Zivilisation befänden, wenn sie schließlich nicht doch die Wahrheit des Christentums erkannten; so sei die beste Art der Integration immer noch die Taufe. Gewiß lagen die Vorstellungen Treitschkes und Mommsens meilenweit auseinander, doch in einem waren sie sich einig: die Juden als Juden würden aus der Gesellschaft verschwinden müssen.

Selbst Treitschke, der wesentlich dazu beitrug, den Antisemitismus im Kaiserreich hoffähig zu machen, hütete sich wohl, die Juden als Juden allzu direkt anzugreifen. Im erwähnten Pamphlet, „Unsere Aussichten“ warnt er vor „der Schaar hosenverkaufender strebsamer Jünglinge, deren Kinder und Kindeskinder dereinst Deutschlands Börsen und Zeitungen beherrschen sollen“ – das verhängnisvolle Wort „Die Juden sind unser Unglück“ schreibt er dem Volksmund zu. Auch Augstein schafft es, einen Kommentar über die Juden zu schreiben, ohne sich aber des Ausdrucks „Jude“ zu bedienen. Deutschlands Börsen und Zeitungen werden die Juden wohl nicht mehr beherrschen, dafür gibt es „die New Yorker Presse und die Haifische im Alltagsgewand“, und Augstein zitiert nur Adenauer, wenn er behauptet: „Das Weltjudentum ist eine große Macht.“

Auch der kommunistische Antisemitismus richtet sich nicht gegen „die Juden“ (Antisemitismus war immerhin in der Verfassung der Sowjetunion verboten), sondern gegen „Kosmopoliten“ und „Zionisten“. Man fragt sich am Ende nur noch, ob tatsächlich, wie Augstein freudig konstatiert, bereits alle Tabus gebrochen sind. Oder sollte es etwa immer noch ein Tabu in Deutschland sein, es offen zu bekennen, wenn man die Juden nicht so gerne mag?

Augstein wollte Walser zu Hilfe eilen. Ob dieser sich dafür bedanken wird oder über die Geister, die er rief, zu reflektieren beginnt, mag dahingestellt bleiben. Denn bei aller berechtigten Kritik ist seine Sichtweise doch eine unterschiedliche, muß das Problemtische an seinen Äußerungen auf anderer Ebene gesucht werden. Von Haifischen im Anwaltsgewand zu sprechen ist seine Sache nicht. Vielmehr fühlt er sich als Anwalt der Juden, zumindest der assimilierten deutschen Juden, die er posthum von den im osteuropäischen Schicksal verhafteten Juden selektiert. Vieles aus der Sonntagsrede wurde wieder und wieder zitiert, kaum aber jene Episode, mit der sich Walser gegen den Vorwurf der Verharmlosung von Ausschwitz zu wehren versucht: „Ich stellte das Schicksal einer jüdischen Familie von Landsberg an der Warthe bis Berlin nach genauester Quellenkenntnis dar als einen fünfzig Jahre lang durchgehaltenen Versuch, durch Taufe, Heirat und Leistung dem ostjüdischen Schicksal zu entkommen und Deutsche zu werden, sich ganz und gar zu assimilieren.“

Hat man ihn auch hier wieder mißverstanden? Kaum, denn wer sich an Walsers Laudatio auf den posthum mit dem Geschwister-Scholl-Preis geehrten Viktor Klemperer erinnert, dem wird diese These bekannt vorkommen. Die Süddeutsche Zeitung kommentierte damals: „Tote können sich ihre Laudatoren nicht aussuchen, und sie können auch keinen Einfluß mehr darauf nehmen, für was ihr Werk Zeugnis ablegen soll.“ Unter anderem stellte Walser damals dem getauften und deutsch-patriotischen Juden Klemperer den Zionisten Gersh Schober als Negativbeispiel gegenüber. Es erstaunt, daß Walser nicht einmal auf die Idee zu kommen scheint, hinter diesem beständigen Lob für jene Juden, die ihrem Jüdischsein „entkommen“, könnte man ein durchaus problematisches Konzept der Integration durch völlige Assimilation erkennen.

Hier scheint mir das Kernproblem nicht nur Walsers, sondern auch vieler Reaktionen auf seine Rede zu liegen. Der nahezu selbstverständlichen Weigerung, das Eigene, sagen wir ruhig das Fremde in den deutschen Juden anerkennen zu können. Sie sind so manchem auch heute noch nur als völlig assimilierte, ja christlich getaufte Deutsche vorstellbar. Als Menschen mag man sie wohl tolerieren, nicht jedoch als Juden. Es waren eben gerade nicht die Antisemiten, sondern die gutmeinenden Liberalen à la Mommsen, die im Kampf gegen den Antisemitismus dieses Argument einsetzten.

In der Verteidigungsschrift für die deutschen Juden hieß es bei Mommsen: „Außerhalb dieser Schranken (des Christentums) zu bleiben und innerhalb der Nation zu stehen ist möglich, aber schwer und gefahrvoll. Wem sein Gewissen, sei es positiv oder negativ, es verbietet dem Judentum zu bekennen, der wird dem entsprechend handeln und die Folgen auf sich nehmen.“ Daß die Juden sich gegen eine so verstandene Integration bei gleichzeitiger Aufgabe des Judentums wehrten, und ein jüdischer Publizist verzweifelt ausrief, „Gott schütze uns vor unseren Freunden,“ kümmerte sie auch damals recht wenig.

Trotz gegenwärtiger Zweifel – die „seriöse Diskussion über das Judentum betreffende Fragen“ wird auch nach dem Abkühlen dieser Debatte weitergehen. Doch mehr als die vorigen Diskussionen hat sie die Fronten geklärt. Es ist nicht nur legitim, sondern mehr denn je notwendig, von Deutschen und Juden zu sprechen, wenn es um Fragen der kollektiven Erinnerung geht. In dieser Beziehung kann es auch nach fünfzig Jahren keine Annäherung in Form einer deutsch-jüdischen Bindestrichidentität geben. Anstatt immer wieder eine „Normalität“ (gemäß welcher Norm eigentlich) einzufordern, wie sie Dohnanyi in seinem Lapsus vom „Zentralrat der deutschen Juden“ bereits konstatieren will, und wie sie Walser recht unbedarft mit seinem Ideal, „sich ganz und gar zu assimilieren“ beschreibt, wäre es geraten, die Juden auch als Juden zu akzeptieren.

Wenn man als Normalität auch ein Stück bleibender Verschiedenheit akzeptieren kann, die nicht nur wie bei Augstein in negativen Stereotypen ausgedrückt wird, dann würden zumindest einige Mißverständnisse der gegenwärtigen Debatte aus dem Weg geräumt. Sollte dies nicht gelingen, so wäre man wohl kaum weiter als die Treitschkes und Mommsens vor über hundert Jahren.

Der Verfasser ist Ordinarius für Jüdische Geschichte und Kultur an der Ludwig Maximilian Universität München.

SZ vom 21.12.1998

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