Das Schreiben in Auszügen:
"Durch das Londoner Schuldenabkommen, die
Rechtsprechung der höchsten deutschen Gerichte und eine kollektive
Verweigerungshaltung von alter Regierung und Industrie waren die
Überlebenden der NS-Zwangsarbeit und ihre Angehörigen über Jahrzehnte
daran gehindert, ihre Forderungen nach Lohn, Schmerzensgeld und
Schadenersatz rechtlich durchzusetzen.
Die jetzt in Deutschland und den Vereinigten Staaten
eingereichten Klagen sind daher ein erster Versuch einer selbstbewußten
Interessen-Artikulation dieser meist alten, und oft auch sehr kranken
Gruppe der Überlebenden. Liest man die Klageschriften, so erheben die
Verfolgten ureigenste Forderungen der Sozialdemokratie, sowie der
Arbeiter- und Gewerkschaftsbewegung:
- Angemessene Entlohnung
- Arbeitssicherheit
- Unfallschutz
- Menschenwürdige Lebens- und Arbeitsbedingungen
(...)
Die Beteiligung der deutschen Industrie am
Programm "Vernichtung durch Arbeit" hat zu unermeßlichem Schäden
geführt. Hunderttausende sind den im Wortsinne mörderischen
Arbeitsbedingungen zum Opfer gefallen. Die Meisten in den letzten
Monaten des Krieges beim Sprengen von Stollen für unterirdische
Produktionsanlagen. (...) Dadurch daß ein großer Teil dieser
Produktionsanlagen unmittelbar nach Kriegsende wieder
privatwirtschaftlich genutzt werden konnte, wurde das möglich, was im
Alltagsbewußtsein gemeinhin als "Wirtschaftswunder" bezeichnet worden
ist. Anders wäre es kaum vorstellbar gewesen, daß bereits 1946 der
zehntausendste Nachkriegskäfer die Bänder der Wolfsburger VW-Werke hätte
verlassen können.
Der durch die oben skizzierten Lebens- und
Arbeitsbedingungen entstandene Schaden ist nicht wieder gutzumachen.
Gerade deshalb geht es jetzt darum, in angemessener Form
Schadenersatz zu leisten.
Natürlich ist es erfreulich, daß die deutsche
Industrie jetzt schnell zu einer umfassenden Lösung kommen will und Sie
hierbei um Vermittlung bittet. Verstimmt sind wir allerdings über das
dahinter steckende Kalkül der Unternehmen: laut SPIEGEL gehen Ihre
Gesprächspartner für den kommenden Donnerstag davon aus, daß
"wenn die betroffenen Unternehmen sich
gemeinsam mit der Regierung um Lösungen bemühen.... US-Gerichte nach
Einschätzung amerikanischer Anwälte die Sammelklagen möglicherweise
erst gar nicht annehmen oder zumindest aussetzen."
Die Unterstützung dieses Kalküls darf nicht Aufgabe
eines Politikwechsels in Bonn gegenüber NS-Verfolgten sein. Die
Industrie mag ohne Ihre Intervention nicht zur Abgabe eines angemessenen
Angebotes gegenüber ihren ehemaligen Sklaven in der Lage sein. Die
überlebenden NS-Verfolgten und ihre Angehörigen brauchen jedoch Ihre
Unterstützung weitaus dringender als die beteiligten
Industrieunternehmen. (...) Die Einrichtung einer Bundesstiftung
"Entschädigung für NS-Zwangsarbeit" kann nicht allein zweiseitig
zwischen Regierung und Industrie verhandelt werden. Die NS-Verfolgten
selbst, ihre Organisationen und Interessenvertreter sind für faire
Verhandlungen als "Gegner im positiven Sinne" unverzichtbar.
Ohne eine solche Interessenvertretung der Opfer
blieben die in die neue Stiftung einfließenden Finanzmittel vom guten
oder schlechten Willen der beteiligten Industrieunternehmen abhängig.
Wären diese Mittel zu gering, würde es entweder gar nicht lohnen, eine
solche Stiftung einzurichten, oder die Auszahlungen blieben
unzureichend, was eine erneute Demütigung der Opfer zur Folge hätte.
Zur Vorbereitung Ihres Gespräches am Donnerstag
möchten wir daher einige zentrale Positionen der NS-Verfolgten und ihrer
Interessenverbände präzisieren:
- Die Schadenersatzforderungen dürfen sich nicht
nur auf die heute noch lebenden Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter
beschränken. Gerade auch die Witwen und Waisen der den mörderischen
Arbeitsbedingungen zum Opfer gefallenen Zwangsarbeiter haben Anspruch
auf unsere Zuwendung und materielle Kompensation.
- Die finanzielle Leistung der deutschen
Unternehmen muß deutlich höher sein, als die gerade zwischen jüdischen
Organisationen, amerikanischen Anwälten und den Schweizer Banken
ausgehandelte Summe von 1,25 Milliarden Dollar. Verglichen mit der
massiven Verletzung von Menschenrechte durch die Versklavung von
Millionen Menschen und dem Tod Hunderttausender als Konsequenz der
NS-Zwangsarbeit nehmen sich die den Klagen gegen die Schweiz
zugrundeliegenden Vorwürfe wie "Hehlerei" und "Unterschlagung" fast wie
Kavaliersdelikte aus.
- Die Bundesregierung sollte so schnell wie möglich
die jetzt gültigen Verjährungsfristen für die Durchsetzung von
Schadenersatzansprüchen der Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter
verlängern.
Der größte Teil der jetzt gerade erst gerichtlich durchsetzbaren
Ansprüche droht sonst im Mai 1999 (3 Jahre nach dem richtungsweisenden
Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 13. Mai 1996) erneut der
Verjährung anheim zu fallen. (...)
Wir möchten Sie recht herzlich bitten, möglichst
bald nach Konstituierung der neuen Bundesregierung auch die ehemaligen
Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter zu empfangen und ihre Forderungen
zu unterstützen."