Wenn Wang Faliang durch seine Heimat Hongkou geht,
hat er die Bilder dieser Vergangheit immer vor Augen. «Sehen Sie die
öffentliche Toilette da vorne. Früher war dort das Wiener Schuhhaus»,
deutet der 78jährige auf ein weißgekacheltes Gebäude an der
Huoshan-Straße hin. Der Alte Wang hat zusammen mit den Juden in Hongkou
gelebt. «Das Haus, in dem ich heute wohne, habe ich 1946 von einem
Flüchtling gekauft, von Herrn Stein», erzählt er.
Herr Stein war ein Kollege von Wang. Gemeinsam
arbeiteten sie in DD's Cafe, südlich von Hongkou. Bis zu seinem heutigen
Arbeitsplatz hat es der Alte Wang nicht weit. Er ist der einzige
Museumsführer in der früheren Ohel Moshè Synagoge, die mitten im
ehemaligen Ghetto steht. Im zweiten Stock des Gebäudes an der
Changyang-Straße 62 dokumentiert seit ein paar Jahren eine noch
bescheidene Fotosammlung das Schicksal der vor allem aus Deutschland,
Österreich, Italien oder der Schweiz geflohenen Juden.
Als Ende der 30er Jahre viele Staaten
ihre Einreisebestimmungen verschärften, war Schanghai fast der einzige
Ausweg für die Vertriebenen. Denn in der Metropole mit ihren damals 6,5
Millionen Einwohnern, mit mondänen internationalen Niederlassungen und
von Chinesen übervölkerten Slums, verlangte keine Behörde ein
Einreisevisum oder eine Aufenthaltserlaubnis.
Wem es gelang, nach einer vierwöchigen Passage auf
einem italienischen Schiff oder einer Fahrt mit der Transsibirischen
Eisenbahn in der von Japan besetzten «Stadt über dem Meer» zu landen,
der war zunächst gerettet.
Vergeblich versuchte Deutschland, das verbündete
Japan von einer »Endlösung der Judenfrage» auch in Schanghai zu
überzeugen. Die Besatzungsmacht war lediglich bereit, in Hongkou ein
Sperrgebiet für die Flüchtlinge einzurichten.
Nur mit einer Ausnahmegenehmigung durften die Juden
in anderen Teilen Schanghais arbeiten. Wer bei den japanischen
Militärbehörden eine solche Erlaubnis beantragen wollte, mußte
stundenlang Schlangestehen und war den Launen von General Ghoya
ausgesetzt, der sich «König der Juden» nannte. Folterungen oder
Ermordungen aber gab es nicht.
Das Leben im Ghetto war dennoch elend für die
Emigranten, die ihr Hab und Gut auf der Flucht zurückgelassen hatten.
«Wir Chinesen waren an Armut gewöhnt, wir konnten leiden. Aber für die
Flüchtlinge war das sehr schwierig», sagt Wang Faliang. Mit großzügiger
Hilfe alteingesessener Juden Schanghais sowie mit Unterstützung aus dem
Ausland wurden in Hongkou, das bei den Angriffen der Japaner stark
zerstört worden war, notdürftige Heime eingerichtet, Häuser repariert
und neue gebaut.
Es fehlte an sanitären Anlagen, heißes Wasser mußte
auf der Straße gekauft werden. Viele starben an Malaria oder anderen
Krankheiten. Hilfskomitees verteilten warme Mahlzeiten. Wer eine Chance
bekam, seinen Lebensunterhalt selbst zu verdienen, nahm jede Arbeit an.
Lehrer, Professoren oder Künstler wurden zu Tellerwäschern, Kellnern
oder Wachleuten. Andere hatten den Mut, eine eigene Existenz zu gründen.
Friseursalons, Lebensmittelgeschäfte, Arztpraxen, Anwaltskanzleien oder
Buchläden wurden eröffnet, dazu viele Cafehäuser und Restaurants.
Inmitten der Not blühte ein kulturelles Leben. Es
gab Theateraufführungen, Konzerte oder Lesungen, Zeitungen und
Zeitschriften wurden herausgegeben. Hongkou bekam einen europäischen
Charakter. «Wir nannten es damals Klein-Wien oder Klein-Berlin»,
erinnert sich Wang.
Auf engstem Raum lebten Chinesen und jüdische
Flüchtlinge zusammen. Vor allem die Sprachbarriere trennte die beiden
Gruppen. Doch Verfolgung und Not ließen sie zusammenwachsen. «Wir beiden
Völker wurden damals entweder von Hitler oder von den Japanern getötet.
Und beide Völker litten unter der Armut», meint der Alte Wang.
Als im Juli 1945 amerikanische Bomben beim Angriff
auf einen japanischen Radiosender ihr Ziel verfehlten und in Hongkou
zahlreiche Todesopfer und Verletzte forderten, waren Chinesen und
Emigranten gleichermassen betroffen.
Kurz nach der Kapitulation Japans und dem Ende des
Krieges wurde das Ghetto Anfang September 1945 aufgelöst. «Die
Flüchtlinge hatten Glück. Sie haben viel gelitten, aber überlebt», sagt
Wang. Die Juden verließen Schanghai, wanderten weiter in die USA, nach
Israel, Australien oder nach Europa.
Herr Stein verkaufte dem chinesischen Kollegen sein
Haus und ging ebenfalls fort. Wohin, das weiß der Alte Wang nicht.
Getroffen haben sich die beiden nie mehr.