antisemitismus.net / klick-nach-rechts.de / nahost-politik.de / zionismus.info
haGalil onLine - http://www.hagalil.com

  

hagalil.com

Search haGalil

Veranstaltungskalender

Newsletter abonnieren
e-Postkarten
Bücher / Morascha
Musik

Koscher leben...
Tourismus

Aktiv gegen Nazi-Propaganda!
Jüdische Weisheit
 
Archivierte Meldungen aus den Jahren 1995 - 1999

Eine neue Welle im WWW

Die Schrecken der Politik und die Geistesgegenwart der Kunst:
Eine Reise durch die kulturelle Szene Israels

Wer ist Godot? Das Stadttheater in Haifa, das mit Joshua Sobols Stücken durch die halbe Welt gezogen ist, rebelliert gegen die Tradition des Hauses. Nach Jahrzehnten theatralischer, wie man heute sagt: vordergründiger Gesellschaftskritik inszeniert das Ensemble "Warten auf Godot". Pozzo ist ein Landvermesser, an seiner Leine ein Araber, der die Koffer des Herrn nicht durch ein metaphysisches Nirgendwo, sondern durch besetzte Gebiete schleppt. Alles Warten ist konkret. Godot kommt, wenn er kommt, mitten in den politischen Alptraum. Und wer ist Godot? Das Publikum, sagt Oded Kotler, der Intendant, wisse es genau. Godot ist Arafat. Oder der Frieden. Oder ein Mercedes-Benz.

Natürlich ist Godot alles, was nicht ist: die Metapher des Möglichen, die offene Stelle im Kreislauf der Gewalt, die stumme Hoffnung des Schauspiels. Godot ist ein anderer Name für politische Vernunft. Alle, sagen die Schauspieler nach der Extravorstellung, Freund und Feind, verstehen das erlösende Wort, aber jeder versteht es anders, in Streit und Widerstreit. Godot ist jener Augenblick, in dem die babylonische Sprachverwirrung endet und alle mit einer Zunge sprechen. Godot wird den Stein schon wälzen. Endlich herrscht der Frieden der Sprachen. Doch es bleiben schöne Sätze. Theaterkunstsätze. Weil er nicht zu Wort kommt, verläßt ein arabischer Schauspieler wütend die Diskussion.

Die Bühne in Haifa ist von einem Dissidenten aus dem Cameri-Theater in Tel Aviv gegründet worden. Das ist lang her, doch vergessen scheint die Lossagung noch immer nicht. Beckett in Haifa? Warten wir's ab. Das Cameri-Theater, eine große, schmucklose Bühne, spielt das neue Stück von Hanuch Levin, Israels berühmtestem Dramatiker. Üblicherweise heißt es, dieser Autor sei "umstritten", und bislang diente jeder Eklat der Mehrung seines dramatischen Ruhms. Doch nach der Eskalation im israelischen Kulturkampf, ist man sich nicht mehr sicher. Gerade hat Ovadia Yosef, ein ultraorthodoxer Rabbi und spiritueller Kopf der Shas-Partei, der Öffentlichkeit einen neuen Anschlag auf die gottlosen Künste unterbreitet. Rituell ruft Yosef nach Maßnahmen zur Unterbindung künstlerischer Umtriebe. Vor einigen Jahren wäre die Drohung zum Lachen gewesen. Heute ist sie zum Fürchten. Israels erfolgreichster Popsänger, Aviv Geffen, wurde von rechten Fanatikern auf der Bühne mit Messern angegriffen. Inzwischen hat er seiner Heimat den Rücken gekehrt und lebt in Großbritannien. Sinéad O'Connor trat nach der Morddrohung eines jüdischen Rechtsextremisten erst gar nicht auf. Lauthals feiert die Ideologische Front, ein Ableger der verbotenen antiarabischen Kach-Bewegung, ihre Absage als großen Sieg. Kulturkampf in Israel.

"Mörder" heißt Hanuch Levins Theaterstück, ein grausames Kammerspiel über Gewalt, die sich selbst erzeugt. Daß Offizielle aus der Kulturabteilung des Außenministeriums zuhören, die diese Reise veranstalten, um Journalisten durch die "blühenden Landschaften" der Kunst zu führen, ist den Akteuren nicht ganz geheuer. Soll man spielen? Auf der winzigen Hinterbühne fühlt sich eine junge Schauspielerin vorgeführt; die Journalisten verletzen die Vertraulichkeit der Probe. Dann spielt sie. In die Intimität eines Paares platzt der israelisch-arabische Konflikt. Neuer Streit entbrennt aus altem Haß. Die Vernunft kann den Stein nicht wälzen und das Blutvergießen nimmt kein Ende. Verzweiflung ruft nach Rache und Schuld nach neuen Opfern. Der Egoismus des Leidens, so hört man immer wieder, nährt den Geist der Vergeltung. Ein seltsamer Satz. "Nein", sagt Noam Semel, der Intendant, "dieses Stück wird die Welt nicht verändern."

"Wer sind wir, wenn uns die Erinnerung nichts mehr sagt?" Das Gesher-Theater in Tel Aviv inszeniert "Adam Hundesohn", den zum Theaterstück verwandelten Roman des Schriftstellers Yoram Kaniuk, in einem Zelt, mit Nachtwind und Regen, einen Tag nachdem in Hebron ein Palästinenser erschossen worden ist. Wie schon in Sobols "Ghetto"-Inszenierung, wird aus dem Roman eine absurde Nummernrevue über die deutsche Barbarei. Doch nicht im kabarettistischen Intermezzo besteht Kaniuks unbeschreibliche Provokation, sondern im Versuch, den Holocaust als Umkehrbild deutscher Gemütlichkeit in Szene zu setzen. "O Heimat, schöne Heimat." Bordellstimmung und Bühnennebel; Faschismus als Normalisierung der Hölle. In den Vernichtungspausen grölt der Kommandant die Konfektionsschnulzen der späten Zwanziger. Heimat und Barbarei sind freundliche Schwestern. Wer Heimat brüllt, der wird auch säubern. Das ist der Terror der Folklore, und er hat die "humanistische Sendung" der Deutschen pervertiert. Weimar konnte Buchenwald nicht verhindern. "Wer sind wir, wenn uns die Erinnerung nichts mehr sagt?"

Den Schriftsteller Yoram Kaniuk einen Pessimisten zu nennen grenzt an Untertreibung. Wenn es eine politische Melancholie gibt, dann trägt sie seinen Namen. Aber sie lähmt ihn nicht. Kein Defätismus, keine Rechthaberei. Nur Klarheit. Politikern hat der asketische Linke, der kompromißlos für die Aussöhnung mit den Palästinensern eintrat, noch nie über den Weg getraut. Israels Konservative und Orthodoxe hielten Wort. Der Friedensprozeß ist eine Farce; nun haben auch Tauben Falkenaugen. Als Kaniuk in Tel Aviv sprechen soll, ist er mit Stummheit geschlagen. Kein Wort zur Politik. Später, am Telefon, läßt er seinen Gefühlen freien Lauf. Die Regierung, das sei eine Handvoll schlechter Clowns, die eine neue Intifada entfesseln werden, viel blutiger als die erste. Und dann die Schwäche und Korruption bei den palästinensischen Behörden. "Grand Guignol, aber tödlich." Alles Trennende einer langen Geschichte trete ans Licht. Die religiösen Fundamentalisten trügen daran die größte Schuld. Nun sei er ein Flüchtling im eigenen Land. "Warum läßt man die Säkularen nicht endlich in Ruhe?"

Daß sich die israelische Politik selbst kommentiert, ist auch der Kommentar des Schriftstellers David Grossman. Mit dem diskreten Selbstbewußtsein eines israelischen Intellektuellen erzählt er von den Überlebensbedingungen seiner Phantasie, von der selbstgewählten Einsamkeit, wenn er schreibt und sich aufs Land zurückzieht. Grossman sagt das ohne elitäre Verachtung und metaphysische Wahrsagerei. Die selbstgewählte Distanz sei nur eine andere Form der Nähe. Grossman möchte seinen Lesern die Augen öffnen für den Alltag in der israelischen Moderne, für die Wunder der Liebenden. Wunder, weil sich die Paare aus den Ablagerungen abgenutzter Wörter eine gemeinsame, unverwechselbare Sprache formen, den Himmel und das Elend ihres Lebens. Denn Sprache ist kulturelles Gedächtnis, "Geröll im Fluß der Generationen".

Das Publikum schweigt zustimmend. Und was ist mit der Politik? Ja, es sei so einfach, sich den Versuchungen der Intoleranz hinzugeben. "It's such a sexy option." Einerseits. Und schwer, Nachsicht gegenüber jenen zu üben, die Israels Existenzrecht bestreiten. Mehr sagt er an diesem Tag nicht.

Die zierliche Achinoam Nini, genannt Noa, ist der neue israelische Popstar, das Wunderkind der Szene, ein "Friedensengel" in den wolkigen Klischees der Presse. Gelernt hat sie in den Musikcorps der israelischen Armee, Pat Metheny war ihr Förderer, und in Paris mußte sie auf Händen zum Ruhm getragen werden. So sagt es ihr Manager in einem sehr eigenwilligen, sehr privaten Englisch, und dann hält er eine Rede, die schönste und bescheidenste von allen. Er glaubt an Noa, an ihren introvertierten Charme, ihre Botschaft vom Frieden der Religionen. An den politischen Mythos der neuen Scharfmacher, an die jubilierende Drohung vom clash der Kulturen glaubt er nicht. Noas jüdisch-orthodoxe Eltern stammen aus dem Jemen; in der Bronx wurde sie groß, und seit ihrem siebzehnten Geburtstag lebt sie in Israel. Ihr Trauma ist das Konzert auf der Friedensdemonstration in Tel Aviv, an deren Ende Rabin ermordet wurde. Dann sagt auch sie einige Sätze über das Land und die Lage. Sie sagt, was alle sagen, aber sie sagt es so wie niemand sonst. Über die Wörter der Menschen könne man streiten, über die Sprache der Musik nicht. In der Musik sei der Streit der Kulturen längst versöhnt. Musik ist die Fürbitte der Seele, während die Politik nur den Verstand erreicht. Kitschigen Ethnomix kann Noa nicht ausstehen. Kitsch lügt. "All is well" heißt ihr Lied über den Terror der Hamas, die Busattentate in Tel Aviv. Am Schluß lobt Noa noch die Kulturszene ihres Landes, all das, was "CNN nicht zeigt". Man macht sich Mut in Israel.

Auch ein Kibbuz ist längst keine Enklave mehr. Die Kibbuzbewegung hat zwar versucht, dem Sturm der Vereinzelung und des Privatismus zu trotzen, aber die alten Ideale sind kaum wiederzuerkennen. Im Kibbuz Ga'aton überlebt das Kollektiv als ästhetische Veranstaltung und versammelt sich um die weltweit gefeierte Kibbutz Contemporary Dance Company. Auf den ersten Blick hat hier, wie im Suzanne Dellal Center in Tel Aviv, der Mainstream gesiegt, die Choreographie der Jet-set-Kultur, die alles beherrschende Weltsprache des Tanzes: Bewegungen, die mit mysteriöser Intensität die Körper nur kreuzen, um in ihrer Oberfläche zu verschwinden. Die Company zeigt eine kühle, stationäre Dynamik des Tanzes mit endlos wiederholten Figuren, die das Einverständnis mit der Leere und dem Nichts zu besiegeln scheinen.

Doch der Schein trügt, schon in der ersten Szene. Rami Beer und die Kibbutz Dance Company überreizen das Vokabular einer erschöpften Postmoderne, bis es ungültig wird und eine eindrucksvolle, unverwechselbare Sprache entsteht. "Variation über die israelische Vergangenheit" heißt das Stück, ohne daß es zum choreographischen Monument, zum falschen Gedenken erstarrt. Aide mémoire. Trauer ohne Zeichen, Erinnerung ohne Gewalt.

Danach ist es wie überall. MTV, CNN, die Labelkultur des weltweiten Westens wirkt im technikversessenen Israel erdrückend. Die Werbe-Internationale missioniert mit anorektischen Parfumpüppchen und aggressiver Apathie. Here we are. So jung und schon so alt. Das riesige, unfaßbar laute und unfaßbar häßliche Dizengoff-Einkaufszentrum in Tel Aviv ist Israels Wahrzeichen für die kapitalistische Tristmoderne, vollgestopft mit Trash auf Weltniveau, ein Laufsteg für die kolorierten Plateau-Menschen, die sich durch nichts von ihren europäischen Mitläufern unterscheiden. Taschenkontrollen auf Schritt und Tritt; vor dem Geisterhaus detonierte jene Bombe, die, so der Historiker Moshe Zimmermann, "der Peres-Regierung den Gnadenstoß gab". Für die "Gottesfürchtigen" ist das Einkaufslabyrinth eine säkulare Provokation, die Fratze des Westens, das amerikanisierte Inbild des Verrats. Verrat an "Ganz Israel", dem militanten Traum von der Einheit aus Land und Sprache, Volk und Gesetz.

Wer Israel das Laboratorium der multikulturellen Gesellschaft nennt, übertreibt nichts und verniedlicht alles. Wo, so fragen sich die liberalen Intellektuellen, wäre die Einheit der Gegensätze, wo könnte man ohne Angst verschieden sein? Nicht die Wiederkehr der Religion droht diese Gesellschaft zu zerreißen, sondern ihr brutaler Mißbrauch durch die Priesterpropheten der Politik. Längst ist die Religion die geistige Standardwaffe im Tageskampf der Interessen, und mit auftrumpfender Unfehlbarkeit agieren die Fundamentalisten "im Auftrag": im Auftrag der Wahrheit oder des Guten. Je rabiater die ethnoreligiöse Aufladung von Politik und Kultur, desto unversöhnlicher die Konflikte. Das Wort wird zur Tat und der Glaube zur spirituellen Gewalt. Und dann endet auch die Geduld der Gutwilligen. In einem Künstlerlokal in Haifa wird der israelische Araber Yussef Arbu Varda, einer der bekanntesten Schauspieler des Landes, deutlich. "Die Beleidigung von Arabern ist in Israel zum Volkssport geworden." Ob er das Land verlassen wird, fragt ein amerikanischer Journalist. Nein, er bleibe. Warum? "Ich bin eben ein Idiot."

Die aufgewühlte Leidenschaft, die Hysterie der Zugehörigkeiten, der Kampf um die Glaubensmächte und den Polytheismus der Lebensstile: Es ist eben nicht nur der Konflikt zwischen legitimen Sicherheitsbedürfnissen und der Sehnsucht nach Frieden, der diese Gesellschaft auseinandertreibt. Israel, sagt der Literaturkritiker Jeffrey Green, "ist ein im Innersten gespaltenes Land". Arm gegen Reich, europäische gegen orientalische Werte, liberale Ironiker gegen fundamentalistische Fanatiker, das "westliche" Tel Aviv gegen das "religiöse" Jerusalem, Reformjuden und Konservative gegen Orthodoxe und Ultraorthodoxe - ein Crossover handgreiflicher Konflikte, das immer seltener ins Schema von rechts und links passen will.

Es ist eine tief verwirrte Realität, auf die die israelische Kunst mit großartiger Geistesgegenwart und wunderbarer Passion antwortet - als wisse nur das Spiel, was auf dem Spiel steht. Noch einmal wird die Kunst zur Maske der Angst, und auch darum ist der Kulturbetrieb kein Betrieb und kann sich vor Besuchern kaum retten. Sinnlos, auf Godot zu warten. Er wird den Stein nicht wälzen. Immer wieder hört man ein Wort, das von Mund zu Mund geht und sich nie mit dem Zynismus Mitteleuropas gemein machen wird. Es ist der Lieblingsrefrain der Künstler, das Bekenntnis der Intellektuellen, der Gruß des Publikums. "Don't take it for granted." Nichts ist uns gewiß. Alles kann sich ändern.

(C) DIE ZEIT - Thomas Assheuer

Gal hadash baResheth

A Jewish Sign from Germany: www.hagalil.com
Freie Rundschau Mitteleuropa

 
Die hier archivierten Artikel stammen aus den "Anfangsjahren" der breiten Nutzung des Internet. Damals waren die gestalterischen Möglichkeiten noch etwas ursprünglicher als heute. Wir haben die Artikel jedoch weiterhin archiviert, da die Informationen durchaus noch interessant sein können, u..a. auch zu Dokumentationszwecken.


Spenden Sie mit PayPal - schnell, kostenlos und sicher!
Werben in haGalil?
Ihre Anzeige hier!

Advertize in haGalil?
Your Ad here!
haGalil.com ist kostenlos! Trotzdem: haGalil kostet Geld!

Die bei haGalil onLine und den angeschlossenen Domains veröffentlichten Texte spiegeln Meinungen und Kenntnisstand der jeweiligen Autoren.
Sie geben nicht unbedingt die Meinung der Herausgeber bzw. der Gesamtredaktion wieder.
haGalil onLine

[Impressum]
Kontakt: hagalil@hagalil.com
haGalil - Postfach 900504 - D-81505 München

1995-2006 © haGalil onLine® bzw. den angeg. Rechteinhabern
Munich - Tel Aviv - All Rights Reserved