Wer ist Godot? Das Stadttheater in
Haifa, das mit Joshua Sobols Stücken durch die
halbe Welt gezogen ist, rebelliert gegen die Tradition des Hauses. Nach
Jahrzehnten theatralischer, wie man heute sagt: vordergründiger
Gesellschaftskritik inszeniert das Ensemble "Warten auf Godot". Pozzo
ist ein Landvermesser, an seiner Leine ein Araber, der die Koffer des
Herrn nicht durch ein metaphysisches Nirgendwo, sondern durch besetzte
Gebiete schleppt. Alles Warten ist konkret. Godot kommt, wenn er kommt,
mitten in den politischen Alptraum. Und wer ist Godot? Das Publikum,
sagt Oded Kotler, der Intendant, wisse es genau. Godot ist Arafat. Oder
der Frieden. Oder ein Mercedes-Benz.
Natürlich ist Godot alles, was nicht ist: die
Metapher des Möglichen, die offene Stelle im Kreislauf der Gewalt, die
stumme Hoffnung des Schauspiels. Godot ist ein anderer Name für
politische Vernunft. Alle, sagen die Schauspieler nach der
Extravorstellung, Freund und Feind, verstehen das erlösende Wort, aber
jeder versteht es anders, in Streit und Widerstreit. Godot ist jener
Augenblick, in dem die babylonische Sprachverwirrung endet und alle mit
einer Zunge sprechen. Godot wird den Stein schon wälzen. Endlich
herrscht der Frieden der Sprachen. Doch es bleiben schöne Sätze.
Theaterkunstsätze. Weil er nicht zu Wort kommt, verläßt ein arabischer
Schauspieler wütend die Diskussion.
Die Bühne in Haifa ist von einem Dissidenten
aus dem Cameri-Theater in Tel Aviv gegründet worden. Das ist lang her,
doch vergessen scheint die Lossagung noch immer nicht. Beckett in Haifa?
Warten wir's ab. Das Cameri-Theater, eine große,
schmucklose Bühne, spielt das neue Stück von Hanuch Levin,
Israels berühmtestem Dramatiker. Üblicherweise heißt es, dieser Autor
sei "umstritten", und bislang diente jeder Eklat der Mehrung seines
dramatischen Ruhms. Doch nach der Eskalation im israelischen
Kulturkampf, ist man sich nicht mehr sicher. Gerade hat Ovadia Yosef,
ein ultraorthodoxer Rabbi und spiritueller Kopf der Shas-Partei, der
Öffentlichkeit einen neuen Anschlag auf die gottlosen Künste
unterbreitet. Rituell ruft Yosef nach Maßnahmen zur Unterbindung
künstlerischer Umtriebe. Vor einigen Jahren wäre die Drohung zum Lachen
gewesen. Heute ist sie zum Fürchten. Israels erfolgreichster
Popsänger, Aviv Geffen, wurde von rechten Fanatikern auf der Bühne mit
Messern angegriffen. Inzwischen hat er seiner Heimat den Rücken
gekehrt und lebt in Großbritannien. Sinéad O'Connor
trat nach der Morddrohung eines jüdischen Rechtsextremisten erst gar nicht
auf. Lauthals feiert die Ideologische Front, ein
Ableger der verbotenen antiarabischen Kach-Bewegung, ihre Absage als
großen Sieg. Kulturkampf in Israel.
"Mörder" heißt Hanuch Levins Theaterstück,
ein grausames Kammerspiel über Gewalt, die sich selbst erzeugt. Daß
Offizielle aus der Kulturabteilung des Außenministeriums zuhören, die
diese Reise veranstalten, um Journalisten durch die "blühenden
Landschaften" der Kunst zu führen, ist den Akteuren nicht ganz geheuer.
Soll man spielen? Auf der winzigen Hinterbühne fühlt sich eine junge
Schauspielerin vorgeführt; die Journalisten verletzen die
Vertraulichkeit der Probe. Dann spielt sie. In die Intimität eines
Paares platzt der israelisch-arabische Konflikt. Neuer Streit entbrennt
aus altem Haß. Die Vernunft kann den Stein nicht wälzen und das
Blutvergießen nimmt kein Ende. Verzweiflung ruft nach Rache und Schuld
nach neuen Opfern. Der Egoismus des Leidens, so hört man immer wieder,
nährt den Geist der Vergeltung. Ein seltsamer Satz. "Nein", sagt Noam
Semel, der Intendant, "dieses Stück wird die Welt nicht verändern."
"Wer sind wir, wenn uns die Erinnerung nichts
mehr sagt?" Das Gesher-Theater in Tel Aviv inszeniert "Adam
Hundesohn", den zum Theaterstück verwandelten Roman des
Schriftstellers Yoram Kaniuk,
in einem Zelt, mit Nachtwind und Regen, einen Tag nachdem in Hebron ein
Palästinenser erschossen worden ist. Wie schon in Sobols
"Ghetto"-Inszenierung, wird aus dem Roman eine absurde Nummernrevue über
die deutsche Barbarei. Doch nicht im kabarettistischen Intermezzo
besteht Kaniuks unbeschreibliche Provokation, sondern im Versuch, den
Holocaust als Umkehrbild deutscher Gemütlichkeit in Szene zu setzen. "O
Heimat, schöne Heimat." Bordellstimmung und Bühnennebel; Faschismus als
Normalisierung der Hölle. In den Vernichtungspausen grölt der Kommandant
die Konfektionsschnulzen der späten Zwanziger. Heimat und Barbarei sind
freundliche Schwestern. Wer Heimat brüllt, der wird auch säubern. Das
ist der Terror der Folklore, und er hat die "humanistische Sendung" der
Deutschen pervertiert. Weimar konnte Buchenwald nicht verhindern. "Wer
sind wir, wenn uns die Erinnerung nichts mehr sagt?"
Den Schriftsteller Yoram Kaniuk einen
Pessimisten zu nennen grenzt an Untertreibung. Wenn es eine politische
Melancholie gibt, dann trägt sie seinen Namen. Aber sie lähmt ihn nicht.
Kein Defätismus, keine Rechthaberei. Nur Klarheit. Politikern hat der
asketische Linke, der kompromißlos für die Aussöhnung mit den
Palästinensern eintrat, noch nie über den Weg getraut. Israels
Konservative und Orthodoxe hielten Wort. Der Friedensprozeß ist eine
Farce; nun haben auch Tauben Falkenaugen. Als Kaniuk in Tel Aviv
sprechen soll, ist er mit Stummheit geschlagen. Kein Wort zur Politik.
Später, am Telefon, läßt er seinen Gefühlen freien Lauf. Die Regierung,
das sei eine Handvoll schlechter Clowns, die eine neue Intifada
entfesseln werden, viel blutiger als die erste. Und dann die Schwäche
und Korruption bei den palästinensischen Behörden. "Grand Guignol, aber
tödlich." Alles Trennende einer langen Geschichte trete ans Licht. Die
religiösen Fundamentalisten trügen daran die größte Schuld. Nun sei er
ein Flüchtling im eigenen Land. "Warum läßt man die Säkularen nicht
endlich in Ruhe?"
Daß sich die israelische Politik selbst
kommentiert, ist auch der Kommentar des Schriftstellers David
Grossman. Mit dem diskreten Selbstbewußtsein eines israelischen
Intellektuellen erzählt er von den Überlebensbedingungen seiner
Phantasie, von der selbstgewählten Einsamkeit, wenn er schreibt und sich
aufs Land zurückzieht. Grossman sagt das ohne elitäre Verachtung und
metaphysische Wahrsagerei. Die selbstgewählte Distanz sei nur eine
andere Form der Nähe. Grossman möchte seinen Lesern die Augen öffnen für
den Alltag in der israelischen Moderne, für die Wunder der Liebenden.
Wunder, weil sich die Paare aus den Ablagerungen abgenutzter Wörter eine
gemeinsame, unverwechselbare Sprache formen, den Himmel und das Elend
ihres Lebens. Denn Sprache ist kulturelles Gedächtnis, "Geröll im Fluß
der Generationen".
Das Publikum schweigt zustimmend. Und was ist
mit der Politik? Ja, es sei so einfach, sich den Versuchungen der
Intoleranz hinzugeben. "It's such a sexy option." Einerseits. Und
schwer, Nachsicht gegenüber jenen zu üben, die Israels Existenzrecht
bestreiten. Mehr sagt er an diesem Tag nicht.
Die zierliche Achinoam Nini, genannt
Noa, ist der neue israelische Popstar, das Wunderkind der
Szene, ein "Friedensengel" in den wolkigen Klischees der Presse. Gelernt
hat sie in den Musikcorps der israelischen Armee, Pat Metheny war ihr
Förderer, und in Paris mußte sie auf Händen zum Ruhm getragen werden. So
sagt es ihr Manager in einem sehr eigenwilligen, sehr privaten Englisch,
und dann hält er eine Rede, die schönste und bescheidenste von allen. Er
glaubt an Noa, an ihren introvertierten Charme, ihre Botschaft vom
Frieden der Religionen. An den politischen Mythos der neuen
Scharfmacher, an die jubilierende Drohung vom clash der Kulturen glaubt
er nicht. Noas jüdisch-orthodoxe Eltern stammen aus dem Jemen; in der
Bronx wurde sie groß, und seit ihrem siebzehnten Geburtstag lebt sie in
Israel. Ihr Trauma ist das Konzert auf der Friedensdemonstration in Tel
Aviv, an deren Ende Rabin ermordet wurde. Dann sagt auch sie einige
Sätze über das Land und die Lage. Sie sagt, was alle sagen, aber sie
sagt es so wie niemand sonst. Über die Wörter der Menschen könne man
streiten, über die Sprache der Musik nicht. In der Musik sei der Streit
der Kulturen längst versöhnt. Musik ist die Fürbitte der Seele, während
die Politik nur den Verstand erreicht. Kitschigen Ethnomix kann Noa
nicht ausstehen. Kitsch lügt. "All is well" heißt ihr Lied über den
Terror der Hamas, die Busattentate in Tel Aviv. Am Schluß lobt Noa noch
die Kulturszene ihres Landes, all das, was "CNN nicht zeigt". Man macht
sich Mut in Israel.
Auch ein Kibbuz ist längst keine Enklave
mehr. Die Kibbuzbewegung hat zwar versucht, dem Sturm der Vereinzelung
und des Privatismus zu trotzen, aber die alten Ideale sind kaum
wiederzuerkennen. Im Kibbuz Ga'aton
überlebt das Kollektiv als ästhetische Veranstaltung und versammelt sich
um die weltweit gefeierte Kibbutz Contemporary Dance Company. Auf den
ersten Blick hat hier, wie im Suzanne Dellal Center in Tel Aviv, der
Mainstream gesiegt, die Choreographie der Jet-set-Kultur, die alles
beherrschende Weltsprache des Tanzes: Bewegungen, die mit mysteriöser
Intensität die Körper nur kreuzen, um in ihrer Oberfläche zu
verschwinden. Die Company zeigt eine kühle, stationäre Dynamik des
Tanzes mit endlos wiederholten Figuren, die das Einverständnis mit der
Leere und dem Nichts zu besiegeln scheinen.
Doch der Schein trügt, schon in der ersten
Szene. Rami Beer und die Kibbutz Dance Company überreizen das Vokabular
einer erschöpften Postmoderne, bis es ungültig wird und eine
eindrucksvolle, unverwechselbare Sprache entsteht. "Variation über die
israelische Vergangenheit" heißt das Stück, ohne daß es zum
choreographischen Monument, zum falschen Gedenken erstarrt. Aide
mémoire. Trauer ohne Zeichen, Erinnerung ohne Gewalt.
Danach ist es wie überall. MTV, CNN, die
Labelkultur des weltweiten Westens wirkt im technikversessenen Israel
erdrückend. Die Werbe-Internationale missioniert mit anorektischen
Parfumpüppchen und aggressiver Apathie. Here we are. So jung und schon
so alt. Das riesige, unfaßbar laute und unfaßbar häßliche
Dizengoff-Einkaufszentrum in Tel Aviv ist Israels Wahrzeichen
für die kapitalistische Tristmoderne, vollgestopft mit Trash auf
Weltniveau, ein Laufsteg für die kolorierten Plateau-Menschen, die sich
durch nichts von ihren europäischen Mitläufern unterscheiden.
Taschenkontrollen auf Schritt und Tritt; vor dem Geisterhaus detonierte
jene Bombe, die, so der Historiker Moshe Zimmermann, "der
Peres-Regierung den Gnadenstoß gab". Für die "Gottesfürchtigen" ist das
Einkaufslabyrinth eine säkulare Provokation, die Fratze des Westens, das
amerikanisierte Inbild des Verrats. Verrat an "Ganz Israel", dem
militanten Traum von der Einheit aus Land und Sprache, Volk und Gesetz.
Wer Israel das Laboratorium der
multikulturellen Gesellschaft nennt, übertreibt nichts und verniedlicht
alles. Wo, so fragen sich die liberalen Intellektuellen, wäre die
Einheit der Gegensätze, wo könnte man ohne Angst verschieden sein?
Nicht die Wiederkehr der Religion droht diese Gesellschaft zu zerreißen,
sondern ihr brutaler Mißbrauch durch die Priesterpropheten der Politik.
Längst ist die Religion die geistige Standardwaffe im Tageskampf der
Interessen, und mit auftrumpfender Unfehlbarkeit agieren die
Fundamentalisten "im Auftrag": im Auftrag der Wahrheit oder des Guten.
Je rabiater die ethnoreligiöse Aufladung von Politik und Kultur, desto
unversöhnlicher die Konflikte. Das Wort wird zur Tat und der Glaube zur
spirituellen Gewalt. Und dann endet auch die Geduld der Gutwilligen. In
einem Künstlerlokal in Haifa wird der israelische Araber Yussef Arbu
Varda, einer der bekanntesten Schauspieler des Landes, deutlich. "Die
Beleidigung von Arabern ist in Israel zum Volkssport geworden." Ob er
das Land verlassen wird, fragt ein amerikanischer Journalist. Nein, er
bleibe. Warum? "Ich bin eben ein Idiot."
Die aufgewühlte Leidenschaft, die Hysterie
der Zugehörigkeiten, der Kampf um die Glaubensmächte und den
Polytheismus der Lebensstile: Es ist eben nicht nur der Konflikt
zwischen legitimen Sicherheitsbedürfnissen und der Sehnsucht nach
Frieden, der diese Gesellschaft auseinandertreibt. Israel, sagt der
Literaturkritiker Jeffrey Green, "ist ein im Innersten gespaltenes
Land". Arm gegen Reich, europäische gegen orientalische Werte,
liberale Ironiker gegen fundamentalistische Fanatiker, das "westliche"
Tel Aviv gegen das "religiöse" Jerusalem, Reformjuden und Konservative
gegen Orthodoxe und Ultraorthodoxe - ein Crossover handgreiflicher
Konflikte, das immer seltener ins Schema von rechts und links passen
will.
Es ist eine tief verwirrte Realität, auf die
die israelische Kunst mit großartiger Geistesgegenwart und wunderbarer
Passion antwortet - als wisse nur das Spiel, was auf dem Spiel steht.
Noch einmal wird die Kunst zur Maske der Angst, und auch darum ist der
Kulturbetrieb kein Betrieb und kann sich vor Besuchern kaum retten.
Sinnlos, auf Godot zu warten. Er wird den Stein nicht wälzen. Immer
wieder hört man ein Wort, das von Mund zu Mund geht und sich nie mit dem
Zynismus Mitteleuropas gemein machen wird. Es ist der Lieblingsrefrain
der Künstler, das Bekenntnis der Intellektuellen, der Gruß des
Publikums. "Don't take it for granted." Nichts ist uns gewiß. Alles kann
sich ändern.
(C) DIE ZEIT - Thomas Assheuer