Und das Wunder? Israel gewann diesen Krieg und noch
vier mehr. Mann für Mann ist seine Armee wahrscheinlich die
schlagkräftigste der Welt; sie hat mehr Panzer als Deutschland und
Frankreich zusammen. Die Bevölkerung hat sich in 50 Jahren verzehnfacht
– so, als würden in Deutschland heute 800 Millionen Menschen leben. Mit
einem Pro-Kopf-Einkommen von 17 000 Dollar ist der einstige Sozialfall
inzwischen im Durchschnitt reicher als die EU-Länder Griechenland,
Irland, Portugal und Spanien. Oder anders betrachtet: Israels Wirtschaft
ist größer als das gesamte Sozialprodukt seiner vier arabischen
Nachbarstaaten. Orangen, Blumen und Avocados machen nur noch vier
Prozent seiner Exporte aus; der Rest sind zunehmend
High-Tech-Industriegüter, darunter Software, Waffen und Elektronik.
Das ist das Wunder: daß Israel am Leben geblieben
und dann zu einer kleinen militärischen und wirtschaftlichen Supermacht
herangewachsen ist. Dan Propper, der Chef des israelischen
Industrieverbandes, erinnert sich: Damals „wanderten Kamel-Karawanen mit
Orangenkisten zum Hafen von Jaffa. Beduinen weideten ihre Ziegen in den
Straßen, und Schakale streiften durch das Herz von Tel Aviv.“ Ein
zweites hat sich geändert: Aus einer zentraleuropäischen Kultur mit
russischer (und sozialistischer) Färbung ist eine „amerikanische“
geworden. In den ersten Jahren des Staates konnte sich der Besucher noch
ganz gut mit Deutsch durchschlagen; doch wer heute auf der achtspurigen
Autobahn vom Ben-Gurion-Flughafen Richtung Tel Aviv fährt, wähnt sich
irgendwo in Südkalifornien. „Schauen Sie uns an“, sagt Finanzminister
Jaacov Ne’eman, „unser Premier hat einen Abschluß von M.I.T. Der
Gouverneur der Zentralbank hat einen Doktor von der Universität Chicago.
Ich selbst habe in New York und Los Angeles gelehrt.“
Heidelberg, Wien, Prag – das ist vorbei. Man spricht
Englisch, und dann mit amerikanischem Akzent. Aber in einem noch
tieferen Sinne ist Israel „amerikanisch“ geworden. So, wie in den USA
der „Schmelztiegel“ plötzlich out ist und der „Bindestrich-Amerikaner“
in, ist Israel als Nation dabei, sich zu „dekonstruieren“. Am Anfang war
die entscheidende Kluft die zwischen links (Ben Gurion und seinen
Sozialisten) und rechts (Begin und seinen „Revisionisten“). Dann, nach
Hunderttausenden von Flüchtlingen aus der arabischen Welt, gesellte sich
die Spaltung zwischen europäischen und sephardischen Juden dazu.
Aufstieg der Orthodoxen
Nach dem Sechstagekrieg von 1967 begann der
politische Aufstieg der Religiösen; inzwischen sind die weltlichen
Israelis und die frommen Ultras nur noch durch ihren wachsenden Haß
aufeinander vereint. Obwohl nur 60 Kilometer voneinander entfernt, sind
Tel Aviv, die westliche Metropole am Mittelmeer, und Jerusalem, die
Hochburg der Orthodoxie, nicht bloß zwei Städte, sondern zwei
verfeindete Lebenswelten. Doch damit nicht genug: In den neunziger
Jahren sind fast 700 000 Russen eingewandert; sie bilden die größte
ethnische Gruppe, und sie denken nicht daran, in den israelischen
Schmelztiegel zu springen. Sie haben ihre eigene Partei, leben in
selbstgewählten Ghettos und betrachten im Kabel die TV-Programme aus
Moskau.
Israel sollte einst Nation, Staat und Religion in
einer Normalität vereinen, die den Juden 2000 Jahre lang nicht vergönnt
war; geworden ist daraus ein Mosaik, dessen Teile nicht zusammenpassen
wollen. In biblischen Zeiten zerfiel das Land in „Judäa“ und „Israel“;
heute träumt so mancher weltlich gewandter und westlich geprägter
Israeli von der zweiten Zweiteilung: hier Tel Aviv mit seinen Boutiquen
und Software-Labors, dort Jerusalem mit seinen Yeshivas (religösen
Hochschulen) und einer eifernd-frommen Lebensart.
Aus dem Wunder der Wiedergeburt ist für manche
Israelis ein Alptraum geworden. „Die Stimmung im Lande“, schreibt der
Schriftsteller David Grossman, „erinnert an eine Familie, die in der
Krise, vielleicht sogar in der Krankheit steckt.“ Es könnte sein, daß
„die Gewalt in das innere Gewebe eindringt, die selbst den Bruder zum
Feind macht“. Oder: Es könnte sich nur um eine „unvermeidbare üble Laune
angesichts eines mächtigen Wunders handeln, das zur profanen Realität
mit all ihren Widersprüchen und Verletzungen geworden ist“.
Doch schätzt sich Grossman „glücklich“, in dem
einzigen Land wohnen zu können, in dem er als Jude „mit seiner
Geschichte und seiner Kultur leben kann“, wo er „kein Fremder“ ist. Nur:
„Wie lange werden wir die Gefangenen unserer Ängste sein? Wird mein Sohn
gegen die Kinder meiner palästinensischen Freunde in Hebron kämpfen
müssen?“
Fünfzig Jahre nach seiner Gründung lebt Israel noch
immer nicht in Sicherheit, auch wenn zwei der einstigen Invasoren –
Ägypten und Jordanien – inzwischen einen eher kalten Frieden mit dem
Nachbarn geschlossen haben. Noch ist nicht eingetroffen, was der erste
israelische Präsident Chaim Weizmann am 14. Mai 1948 den Arabern
zugerufen hat: „Es ist unser tiefstes Anliegen, harmonische und
respektvolle Beziehungen zu unseren arabischen Mitbürgern und
Nachbarstaaten herzustellen.“
Es fehlt vor allem der Frieden mit den
Palästinensern. Der Prozeß, der 1993 mit dem legendären Händedruck
Rabin/Arafat begann, rumpelt seit Monaten im Leerlauf. Und die Zeit
läuft ab. Denn der 4. Mai 1999, so steht es in den „Oslo-Abkommen“, ist
das Ende der Übergangsperiode. Kommt es in den nächsten zwölf Monaten
nicht zur Einigung, könnte sich der Kreis am 4. Mai dort schließen, wo
er am 14. Mai 1948 begann: mit einer einseitigen
Unabhängigkeitserklärung – diesmal der Palästinenser. Die Israelis
könnten den neuen Staat ebensowenig verhindern wie seinerzeit die
Araber. Aber die blutige Botschaft von fünf Kriegen lautet: zusammen ist
besser.
SZ vom 29.04.1998 -
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