(SEITE 2/3)Ralph Giordano - Rascher
Frieden mit den Tätern
Die Hinrichtungen lösten bundesweit eine Protestwelle aus, deren
Schaumkrone sich in dem Empörungsschrei des Vizekanzlers Franz Blücher (FDP)
brach: Die Todesstrafe sei nach bundesdeutschem Recht seit zwei Jahren
abgeschafft, so daß die Vollstreckung der Todesurteile ernsthafte Verwirrung
unter der Bevölkerung stiften könne.
Wie wahr! Noch nicht zwei Jahre nach Gründung der Bundesrepublik
Deutschland forderte die überwältigende Mehrheit eines nach wie vor
NS-infizierten Wahlvolks im Zeichen des offen ausgebrochenen Kalten Krieges
zwischen Ost und West und der sich abzeichnenden Remilitarisierung den Preis
für demokratisches Wohlverhalten: die ganze, die vollständige Täteramnestie,
die Ausrufung der deutschen Kollektivunschuld ("Hie die Nazis - hie das
Volk") kurz - den tief ersehnten Schlußstrich ab 9. Mai 1945.
1951 wagen sich die Gespenster der gerade untergegangenen braunen
Nachtmahr wieder ungeniert ans Tageslicht, Hakenkreuzlemuren und bekennende
Antisemiten, wie die einstige Schlüsselfigur für die Niederschlagung der
Verschwörung vom 20. Juli 1944, der dafür von Hitler persönlich zum
Generalmajor beförderte Ernst-Otto Remer; zeichnen sich Ministerkarrieren
ab, wie die des Theodor Oberländer, einst Berater im ukrainischen
Judenschlächter-Bataillon "Nachtigall"; ergeben zum Entsetzen der
Weltöffentlichkeit Umfragen, daß derzeit in Wahlen, sollten sie diese
Möglichkeit bieten, "eine modifizierte Naziregierung" die meisten Stimmen
erhalten würde.
Ganz erhebliche Vorarbeit dazu hatte eine 1951 bereits im sechsten Jahr
aufgeführte Tragikomödie geleistet, die 1952 offiziell ihren finalen Abgang
feiern und unter dem Tarnnamen "Entnazifizierung" in die Geschichte eingehen
sollte: Ein Volk, dessen Majorität Hitler frenetisch zugejubelt und ihm in
einem für jedermann ersichtlichen Angriffskrieg 5,25 Millionen Todesopfer
dargebracht hatte, sollte über sich selbst richten ...
Das lief so schief, wie es nur laufen konnte. Ich sehe ihn noch vor mir,
auf jener Hamburger Spruchkammersitzung vom Mai 1951, den hochmögenden PG
(Parteigenossen) von gestern, nun allerdings demütig geschrumpft auf einen
nicht mehr wahrnehmbaren Rest seines einstigen Herrenmenschentums, ein
"besten Glaubens Verführter" und winziges Rädchen im NS-System, die
politische Harmlosigkeit in Person, und "natürlich nie Nazi gewesen". Es war
zum Gotterbarmen!
Überdies stellte sich 1951 verblüffenderweise heraus, daß die
schwerfällige Säuberungsmaschinerie dank eines unergründlichen Mechanismus
gerade das Gegenteil von dem produzierte, was sie hervorbringen sollte:
nämlich Entstrafung statt Sühne, Rehabilitierung statt Haftbarmachung. Mehr
noch: In manchen Behörden und Ämtern war die Zahl ehemaliger
NSDAP-Mitglieder höher als während der NS-Herrschaft selbst. Aus der
Entnazifizierung war eine Renazifizierung geworden!
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