Jüdisches Leben in Deutschland – völlig normal
mittlerweile? ''Zumeist ein Hochsicherheitstrakt, vom Kindergarten bis
zum Synagogenbesuch.'' Deutsche Intellektuelle? ''Immer auch
Stellenanwärter.'' Die Bürger? ''Otto Normalvergaser'' glaubte, ''daß
Auschwitz gewissermaßen ein – vielleicht etwas überzogener – Akt
putativer Selbstverteidigung gewesen war''. So fliegen einem die Bonmots
wie Platzpatronen um die Ohren – aber um des Effekts willen wurden diese
Formulierungen selten gesetzt. Hier schrieb einer, der nicht an
Denkfaulheit ersticken wollte.
Eike Geisel galt als ein ''unnachgiebiger Kritiker
des deutsch-jüdischen Verbrüderungskitsches'', schrieb Klaus Bittermann
über seinen Freund und Kollegen: ''Zwar schätzten viele Redakteure seine
Arbeiten, aber die Veröffentlichung überließen sie gerne ihren Kollegen
von der Konkurrenz, weil sie sich selber keinen Ärger einhandeln
wollten.
So erschienen Geisels Arbeiten vor allem in Konkret
und der umgemodelten Jungen Welt, gelegentlich in der taz, der
inzwischen untergegangenen Wochenpost, in der ZEIT, FR. Essays,
Rezensionen, Kommentare. Eike Geisel ließ es sich nicht nehmen, ''die
Herrenmenschen von der ZEIT'' anzugreifen; er polemisierte auch gegen
den Gutmenschen wie Walter Jens, wenn er ''nichts als marktgängigen
Edelkitsch und Aufklärung von der Stange zu bieten'' hatte; er nannte
den Schriftsteller Peter Schneider einen ''freischaffenden
Einkaufsberater für die seelische Innenausstattung der Nation''. Geisel
kritisierte die tränenselige Begleitung von Steven Spielbergs
''Schindlers Liste'' und erklärte die allgemeine Einmütigkeit: ''Nach
dem guten Opfer war endlich das Gegenstück zu Anne Frank gefunden – der
gute Täter.''
Das Holocaust-Mahnmal in Berlin bezeichnete er als
Monument der Vernichtungsgewinnler und nationale Kuschelecke. Eike
Geisel betrieb Geschichtsschreibung und Journalismus. Er verfaßte über
das Internierungslager Westerbork in den Niederlanden eine Geschichte;
eine Reportage schrieb er über Juden, die in der Nachkriegszeit an Nazis
Selbstjustiz übten. Kein Genre war ihm fremd, aber am besten war er in
dem, das er prägte: die mit historischen Fakten gesättigte Polemik, die
ganz aufs Heute zielt.
Am dichtesten und aufregendsten ist der letzte
Beitrag im Buch, Geisels Text zum Dokumentarfilm von 1990: ''Hannah
Arendt, Eichmann und die Banalität des Bösen''. Hier findet sich die
Quintessenz seiner Überlegungen. Er zeigt, wie Arendt verfolgt und
verunglimpft wird, weil sie den guten Ton verletzt hatte; hier führt er
ein Volk von Befehlsempfängern vor, das immer bloß seine Pflicht getan
hat, egal ob das für andere im KZ endete oder im Stasi-Knast; hier zeigt
sich auch seine Bitterkeit nach ’89, als er sah, daß die Deutschen sich
wiederfinden im Verdrängen ihrer Vergangenheit.
Klaus Bittermann hat 21 Texte aus den Jahren 1990
bis 1995 ausgewählt, darunter auch schwer zugängliche Vorträge und
Katalogbeiträge. Es ist ein Nachlaßband geworden. Am 6. August 1997
starb Eike Geisel im Alter von 52 Jahren. Die Sammlung ist ein
Geschichtsunterricht der erhellenden, bitteren Art, Störmanöver gegen
saturiertes Bewußtsein, immer bemüht, Ursache und Wirkung in die
richtige Reihenfolge zu bringen, Fakten statt Vorurteile zu liefern. Wie
schrieb Geisel über Lichterketten und Fackelumzüge? ''Anstatt die Frage
zu beantworten, warum die Deutschen wie eine Hammelherde hinter ihren
Führern hergetrottet waren, beschäftige man sich lieber mit dem in eine
Frage gekleideten Vorwurf, warum die Juden sich damals nicht gewehrt
hätten, warum sie wie Schafe zur Schlachtbank gegangen seien.''
Nur einmal gibt Eike Geisel Wünsche und Sehnsüchte
preis. In den USA, in Cincinnati, war alles ganz anders gewesen, freies
Kommen und Gehen war möglich auf dem Gelände des Hebrew Union College.
Lauter jüdische Einrichtungen und nirgendwo Polizei. Kein Panzerwagen
vor dem College, keine Metalldetektoren im Archiv, keine
Personenkontrollen am Museumseingang. Nirgendwo eine Kamera, nirgendwo
ein Zaun. Soviel zur deutsch-jüdischen Normalität.
STEFAN BERKHOLZ Der Rezensent
ist Journalist in Berlin - SZ 0698
Eike Geisel:
Triumph des guten Willens
Gute Nazis und selbsternannte Opfer
Die Nationalisierung der Erinnerung.
Herausgegeben von Klaus
Bittermann
Edition Tiamat, Berlin '98. 208 Seiten, 30,00DM