Angesichts der historischen Fakten erscheint es
erstaunlich, in welchem Ausmaß es Österreich nach 1945 gelungen ist,
sich der Mitverantwortung für die Schoah zu entziehen – stützte sich
doch die Staatsideologie auf jenen Passus, der von den Alliierten
unterzeichneten „Moskauer Deklaration“ von 1943, demzufolge das Land als
erstes Opfer Hitlers zu betrachten sei. Während sich Deutschland zu
seiner Rolle als Nachfolgestaat des Dritten Reiches bekennen mußte und
„Wiedergutmachungszahlungen“ in beträchtlicher Höhe an den jüdischen
Staat leistete, erklärte sich das offizielle Israel 1952 bereit, als
politische Gegenleistung für die Gewährung eines Kredits, auf
Reparationen durch Österreich vollständig zu verzichten. Auch sonst
wurden, ob es um die Aufnahme diplomatischer Beziehungen, Paßgesetze
oder Boykottmaßnahmen ging, Deutschland und Österreich mit zweierlei Maß
gemessen.
Lebenslüge Österreichs
In der israelischen Öffentlichkeit allerdings wurde
die „Lebenslüge“ Österreichs kontinuierlich an den Pranger gestellt. Und
auch sonst blieb, trotz oder gerade wegen der österreichischen
Verdrängungsleistungen, das Verhältnis zwischen Österreich und dem
jüdischen Staat an der Vergangenheit überschattet und gestaltete sich
als schwierige „Gratwanderung“ – so die zentrale These des gleichnamigen
Buches von Helga Embacher und Margit Reiter. Auf Grundlage einer
umfassenden Presseanalyse, von Archivrecherchen und Interviews haben die
Autorinnen eine erste Gesamtdarstellung der österreichisch-israelischen
Beziehungen von ihren Anfängen in den frühen fünfziger Jahren bis in die
Gegenwart vorgelegt.
Der jüdische Staat rückte in Österreich erst 1967
durch den Sechstagekrieg von in das Blickfeld der Öffentlichkeit. Israel
wurde als Bastion von Demokratie und Aufbauwillen im Nahen Osten, die
arabische Bedrohung als Vernichtungsfeldzug gegen das jüdische Volk
wahrgenommen und in die Kontinuität der jüdischen Verfolgungsgeschichte
gestellt. Doch trotz der häufigen Bezugnahmen auf die Schoah blieb die
Mitverantwortung Österreichs ausgeklammert; die eigene, verdrängte
Schuld konnte auf „die Araber“ projiziert werden. Israels Sieg über die
zahlenmäßig überlegenen arabischen Armeen wurde mit jenem des „kleinen
David“ über „Goliath“ verglichen.
Schon eine Antisemitismusstudie von 1969 hatte
freilich gezeigt, daß ein idealisiertes Israel-Bild keineswegs mit einer
Revision antisemitischer Vorurteile einhergehen mußte, und spätestens
während der Libanon-Invasion 1982 zeigte sich die Brüchigkeit der
Israel-Begeisterung: Die euphorische Parteinahme für den jüdischen Staat
im Jahr 1967 schlug in ihr krasses Gegenteil um. Ebenso
parteiüberschreitend und emotional wie damals, nur mit umgekehrten
Vorzeichen, wurden Bezüge zum Holocaust hergestellt. Jetzt sollte die
Verwendung solcher Termini wie „Holocaust“ oder „Endlösung“ suggerieren,
daß die ehemaligen Opfer selbst zu Tätern geworden seien.
Während in der Bundesrepublik seit 1982 heftige
Diskussionen über die Berechtigung einer Israel-Kritik durch die
ehemaligen Täter geführt wurden, blieben solche Debatten in Österreich
auf einen kleinen Kreis meist jüdischer Linker beschränkt. Embacher und
Reiter gelangen zu dem Schluß, daß es „einen umfassenden
(Selbst-)Reflexionsprozeß, der sich mit den Grauzonen der Israel-Kritik,
unbewußt vorhandenen antisemitischen Ressentiments und
Entlastungsbedürfnissen kritisch auseinandersetzte, in Österreich bis
heute nicht gegeben“ hat.
Die im Vergleich intensive Auseinandersetzung mit
der Vergangenheit und die „Wiedergutmachungsleistungen“ durch die BRD
sollten freilich nicht unrühmliche Kapitel der deutschen
Nachkriegsgeschichte in Vergessenheit geraten lassen, die nicht
Gegenstand des Buches sind: etwa die von antisemitischen Ressentiments
getragenen Widerstände deutscher Politiker und Teilen der deutschen
Öffentlichkeit gegen die im Luxemburger Abkommen getroffenen
Zugeständnisse an Israel.
Was die offiziellen österreichisch-israelischen
Beziehungen betrifft, so wurde von israelischer Seite vor allem die
lange „Ära Kreisky“ (1970 bis 1983) als Dauerkrise wahrgenommen. Schon
1973, als der österreichische Bundeskanzler auf Druck palästinensischer
Geiselnehmer die Schließung des Transitlagers Schönau für jüdische
Auswanderer aus der Sowjetunion verfügte, war ein Tiefpunkt erreicht.
Die vom propalästinensischen Engagement Kreiskys bestimmte
Nahost-Politik Österreichs und vor allem Kreiskys Attacken – er sprach
vom jüdischen Staat als einem „semifaschistischen Land“ und einem
„Wüstenstreifen, mit dem mich nichts verbindet“ – provozierten in Israel
heftige Gegenreaktionen: Obwohl Kreisky die Existenzberechtigung Israels
nie in Frage gestellt hatte, wurde er, selbst jüdischer Herkunft, in den
Medien des Selbsthasses bezichtigt und als „ehrloser Hofjude“
beschimpft.
Auch nach seinem Rücktritt dauerte wegen der Wahl
Kurt Waldheims zum Bundespräsidenten und der Diskussionen über dessen
Kriegsvergangenheit die Eiszeit in den zwischenstaatlichen Beziehungen
an. Zu einer Wiederannäherung kam es erst, als sich Bundeskanzler Franz
Vranitzky bei einem Israel-Besuch 1993 erstmals zu einer Relativierung
der österreichischen „Opferthese“ und einem Eingeständnis der Mitschuld
bereitfand.
Reiter und Embacher haben, weit über eine
Darstellung der politischen und diplomatischen Beziehungen zwischen
Österreich und Israel hinausgehend, auch die darunterliegende Ebene
einer eingehenden Analyse unterzogen. Das zentrale Interesse der
Historikerinnen gilt der gegenseitigen Wahrnehmung, der komplexen
Beziehung zwischen ehemaligen „Tätern“ und „Opfern“ und den daraus
resultierenden Ambivalenzen und Konflikten. „Gratwanderungen“ ist
deshalb auch ein Buch über den Umgang Österreichs mit seiner
Vergangenheit.
GABRIELE ANDERL
Die Rezensentin ist Historikerin und Publizistin. Sie lebt in Wien.
HELGA EMBACHER, MARGIT REITER:
Gratwanderungen
Die Beziehungen zwischen Österreich und Israel im Schatten
der Vergangenheit
Picus Verlag, Wien 1998 - 390 Seiten, 48 Mark
SZ vom 11.05.1998 -
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