BERLIN - Vermutlich wäre er auch ein guter
Getreidehändler geworden, damals in der großen Hafenstadt Saloniki, und
genau wie sein Vater. Er wäre listig gewesen und hätte die dichten
Augenbrauen hochgezogen, wenn sie ihm einen ungehörigen Preis für zehn
Säcke Korn genannt hätten. Aber sein Ärger wäre nicht wirklich gewesen.
Vermutlich hätte er sich eine Portion Ernst ins Gesicht gehängt und
leisen Spott um die Augen, hätte dem Geschäftspartner eine Hand auf die
Schulter gelegt, die Dinge noch einmal erklärt und sich darauf
verlassen, daß er Menschen betören kann. So wären Estrongo Nachama die
Bilanzen gelungen.
Es ist anders gekommen, nur das mit der Bilanz
stimmt trotzdem. Es ist Freitag abend, und der Mann aus Saloniki steht
mit Gebetsschal und Talar in der Berliner Synagoge Pestalozzistraße.
Kurz vor Beginn der Sabbat-Feier hat er eine Hand lässig auf der
Brüstung und weist mit dem Kopf zu einer Fernsehkamera auf die Empore.
So ist das nun mal, soll die Bewegung bedeuten, wenn Nachama 80 wird.
Dann wendet er sich von der Gemeinde ab, nach Osten
zu, von wo der Feiertag heraufzieht, und beginnt lakonisch den
Gottesdienst. Der Oberkantor der Jüdischen Gemeinde zu Berlin läßt seine
berühmte Bariton-Stimme durch den Raum schweben. Wenn der Chor singt,
dreht er sich manchmal um, hebt die starken Augenbrauen, neigt den Kopf
und grinst jemanden in den Bankreihen an. Mitunter fächelt er sich mit
einem Stück Papier Luft zu.
Sein mächtiger Gesang scheint wie von selbst zu
entstehen. Der Kantor sieht unangestrengt aus. Aber nachher, wenn sich
die Juden mit Küßchen und Wangentätscheln "Schabbat Schalom" wünschen,
wird Nachamas dunkles Gesicht ein bißchen grau geworden sein, und auf
der Stirn werden kleine Schweißperlen stehen. Doch Estrongo Nachama wird
schon am übernächsten Tag wieder ein Konzert geben, am nächsten Freitag
erneut in der Synagoge stehen und überhaupt immer singen, wenn jemand
ihn hören will. Das kommt oft vor.
So war das ursprünglich nicht gedacht. Der junge
Nachama wollte mit Getreide handeln. Die Mutter hätte ihn gern als
frommen Kantor in Saloniki gesehen. Die Nazis hatten ihn für Gaskammer
und Verbrennungsofen bestimmt. Er ist knapp entkommen, seine Familie
aber nicht. Estrongo Nachama trauert noch nach langer Zeit, und manchmal
weint er in der Nacht. "Mein goldener Vater", klagt er, "das ganze Beten
hat nichts geholfen."
Schild an der Tür
Der Kantor erinnert sich in seinem Zimmer in der
Synagoge. Der kleine, korpulente Mann mit der dunklen Haut und den glatt
zurückgestrichenen grauen Haaren sitzt in einer Ecke auf dem Stuhl. Das
rechte Bein hat er auf einen Koffer gelegt. Seit der Folter in Auschwitz
und Sachsenhausen schmerzen die Füße. Manchmal spricht er leise, dann
wieder dröhnend und dramatisch. Außen an der Tür ist ein Schild
befestigt, auf dem in großen Buchstaben "Estrongo Nachama" steht. Solche
Schilder hängen sonst an den Garderoben von Stars. Der Kantor Nachama
ist ein Mann Gottes. Aber ein Künstler und ein Star ist er auch. Davon
soll durchaus Notiz genommen werden.
Vor 55 Jahren, in Saloniki, konnte keine Rede davon
sein. "1943 schafften uns die Verbrecher ins Ghetto. Zwei Tage blieben
wir da. Dann standen die Züge mit den Viehwaggons auf dem Gleis. Da
sperrten sie uns rein. Acht Pferde oder 70 Menschen, das stand draußen
dran. Wir nahmen nur Feigen, Rosinen und Brot mit, und dann fuhren wir.
Acht Tage. Wohin? Nach Polen, hieß es. Die Endstation war Auschwitz."
Der Mann schweigt. Dann sagt er, wie oft beim Blick zurück: "Und so
war’s."
Auf der Rampe von Auschwitz wird er zum letzten Mal
seine Eltern sehen. Seine Schwestern Matilde und Signora, seine Braut
Regina. Er selbst wird in Block 2 vegetieren, vor Schmerz singen, immer
wieder Klagelieder, und bald "Sänger von Auschwitz" heißen. Die Stimme
rettet ihm das Leben. "Komm, Sänger, Stiefel putzen", befehlen ihm
SS-Männer und kriminelle Baracken-Chefs. "Sing uns italienische Lieder."
Dafür werfen sie ihm wie einem Hund Brot vor die Füße. So überlebt
Estrongo Nachama dort, wo gestorben wird.
An einem Wintertag, im Februar 1945, muß er auf
seinen ersten Todesmarsch. "Immer nach Westen. Zehn Tage laufen, fast
ohne Essen. Immer Gebrüll und Geschrei. Wer nicht mitkam, wurde
erschossen. Sie trieben uns ins KZ Sachsenhausen bei Berlin. Ja, und so
war’s."
In Sachsenhausen aber kennt niemand den "Sänger von
Auschwitz". Estrongo Nachama hat nicht mehr genug Brot, und deshalb
klaut er es. Dafür hängen sie ihn kopfüber an den Galgen, der heute noch
in der Gedenkstätte steht, und schlagen ihm auf die Füße. Anschließend
muß er zur Strafarbeit. Das bedeutet, die verknäulten Leiber aus der
Gaskammer zu holen und in die Verbrennungsöfen zu schieben. "Das war
grausam, so grausam." 50 Jahre haben nicht gereicht, um diese Bilder
loszuwerden.
Ende April 1945 geht Estrongo Nachama auf seinen
zweiten Todesmarsch. "Das hat gedauert bis 3. Mai, mein Freund. Wieder
Erschießungen, kein Essen, kalt. Die Verbrecher …" Die Stimme des
Kantors ist jetzt wieder laut. Er lehnt sich zurück in seinem Stuhl und
streicht mit der Hand über den Tisch. Sein Blick geht in die Ferne,
dorthin, wo nur er etwas sieht.
Er sieht seine Flucht, den Hühnerstall bei
Falkensee, in dem er sich versteckt, und schließlich, morgens um fünf,
die Russen, die ihn endgültig befreien. Der Weg durch die Hölle ist zu
Ende. Nachama denkt, daß er den nächsten Zug besteigen wird, der nach
Griechenland fährt. Er will in der Stadt leben, die er zuletzt durch die
Luke eines Viehwaggons gesehen hat.
Estrongo Nachama besteigt in Falkensee den nächsten
Zug, der nach Griechenland fahren soll, aber in Berlin ist die Reise
schon zu Ende. Das gilt für den Zug, der nicht weiterfährt, und das gilt
für das weitere Leben Nachamas. Er findet zuerst ein Zimmer und dann die
Jüdische Gemeinde. In der Synagoge Pestalozzistraße hören die
Glaubensbrüder zum ersten Mal seine Stimme. Sie überreden ihn, als
Kantor in Berlin zu bleiben.
Am 1. Juli 1947 tritt er sein Amt an. Später wird er
Oberkantor. Irgendwann bekommt er einen Status, in den man nicht berufen
werden kann. Estrongo Nachama wird eine Institution. Er betreut die
Jüdische Gemeinde im Westen der geteilten Stadt und auch die im Osten.
Er kümmert sich um die jüdischen Familien der amerikanischen
Streitkräfte in Berlin. "Ich habe", sagt er, "alle beerdigt. Und so
war’s."
Eine Berliner Institution
Mehr als 50 Jahre auch singt Nachama wöchentlich im
Rias, später im Deutschlandradio, zur wöchentlichen Sabbatfeier. Im
Osten hat er eine Sendung im Berliner Rundfunk. Die politische Teilung
der Stadt existiert, aber der Mann aus Saloniki läßt sie für sich nicht
gelten. Er ist, wenn es das denn geben kann, ein Berliner Patriot und
ein gesamtdeutscher Grieche. Schon bevor die Mauer stand, hat Nachama
Grenzen überschritten. "1949 bat mich ein Bischof, in einer Aachener
Kirche zu singen. Aber wie konnte ich? Ich war in Auschwitz. Es kam für
mich nicht in Frage. Schließlich habe ich doch zugesagt und seitdem
immer wieder die Hand gereicht."
Deshalb singt Nachama wenige Tage vor seinem 80.
Geburtstag am 4. Mai auch wieder einmal im Berliner Dom. Vor
Konzertbeginn küßt der Kantor Frauen auf die Wange, stellt Leute
einander vor oder schwatzt ein bißchen mit Verehrern. Noch weiß er nicht
genau, wie das Publikum nachher reagieren wird. Aber er plant schon zwei
Zugaben. Schließlich ist er der Mann, der ein großes Namensschild an der
Tür hat. Später singt er "Lo Amut Ki Echje": "Ich sterbe nicht, ich
lebe."
Auch Doris ist wieder da. Doris ist eine Frau aus
Heppenheim, die zu jedem seiner Konzerte anreist. Egal, ob nach München,
Dortmund oder eben Berlin. Sie drückt ihm Tüten in die Hand, und als
Nachama auspackt, murmelt er: "Mensch, schon wieder zwei Krawatten,
soviel Kram, soviel Geld ausgeben. Sind verrückt, die Frauen. Hier, auch
noch Salbe für meine Füße."
Zur Begrüßung im Dom hält Jürgen Rennert
(Kunstdienst) eine Rede: Er freut sich, daß
Estrongo Nachama "...the world greatest Chasan" bei ihm auftritt.
Nachama bekommt die Eloge erst nicht mit, sieht dann aber kein Problem.
"Der weltbeste Kantor?" fragt er. "Gott sei Dank. Stimmt."
Das muß sich Anfang der siebziger Jahre auch
Hollywood-Regisseur Bob Fosse gedacht haben, als er seinen
"Oscar"-gekrönten Film "Cabaret" vorbereitet hat. Er ging zu Nachama und
sagte ihm, daß er ihn braucht. Nachama, man vermutet es, hat nicht
abgelehnt. "Ich hab’ so ein Bärtele gehabt, die Minnelli war da,
herrlich, und gesungen haben wir, für die ganze Welt. 15 000 Mark haben
sie mir gegeben, das war kein Geld, aber ich war froh."
In "Cabaret" hat Estrongo Nachama das gemacht, wofür
er berühmt geworden ist. Er hat gesungen. Die Berliner Juden kennen ihn
auch aus anderen Gründen. Weil er an ihrer Wiege steht und an ihrem
Grab. Er ist bei der ersten religiösen Zeremonie, der "Brith Milah" oder
Beschneidung dabei, bei der Bar Mizwah und unter dem Hochzeitsbaldachin.
Am Grab spricht er oft Kaddisch, das Totengebet. So war es, wie er immer
sagt. Und so wird es noch eine Weile sein.
Audio:
Shalom alejkhem... / Estrongo Nechama
Ein Service von
Berliner Zeitung, TIP BerlinMagazin, Berliner Kurier und Berliner
Abendblatt © G+J BerlinOnline GmbH, 02.05.1998
Publikation:
Samstag, 14. Dezember 2013