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Der Sänger aus Saloniki

Seit über 50 Jahren ist der griechische Jude Estrongo Nachama Kantor in Berlin, aber sein Ruhm ist international - am 4.Mai wird er 80

Von Wolfgang Kohrt

BERLIN - Vermutlich wäre er auch ein guter Getreidehändler geworden, damals in der großen Hafenstadt Saloniki, und genau wie sein Vater. Er wäre listig gewesen und hätte die dichten Augenbrauen hochgezogen, wenn sie ihm einen ungehörigen Preis für zehn Säcke Korn genannt hätten. Aber sein Ärger wäre nicht wirklich gewesen. Vermutlich hätte er sich eine Portion Ernst ins Gesicht gehängt und leisen Spott um die Augen, hätte dem Geschäftspartner eine Hand auf die Schulter gelegt, die Dinge noch einmal erklärt und sich darauf verlassen, daß er Menschen betören kann. So wären Estrongo Nachama die Bilanzen gelungen.

Es ist anders gekommen, nur das mit der Bilanz stimmt trotzdem. Es ist Freitag abend, und der Mann aus Saloniki steht mit Gebetsschal und Talar in der Berliner Synagoge Pestalozzistraße. Kurz vor Beginn der Sabbat-Feier hat er eine Hand lässig auf der Brüstung und weist mit dem Kopf zu einer Fernsehkamera auf die Empore. So ist das nun mal, soll die Bewegung bedeuten, wenn Nachama 80 wird.

Dann wendet er sich von der Gemeinde ab, nach Osten zu, von wo der Feiertag heraufzieht, und beginnt lakonisch den Gottesdienst. Der Oberkantor der Jüdischen Gemeinde zu Berlin läßt seine berühmte Bariton-Stimme durch den Raum schweben. Wenn der Chor singt, dreht er sich manchmal um, hebt die starken Augenbrauen, neigt den Kopf und grinst jemanden in den Bankreihen an. Mitunter fächelt er sich mit einem Stück Papier Luft zu.

Sein mächtiger Gesang scheint wie von selbst zu entstehen. Der Kantor sieht unangestrengt aus. Aber nachher, wenn sich die Juden mit Küßchen und Wangentätscheln "Schabbat Schalom" wünschen, wird Nachamas dunkles Gesicht ein bißchen grau geworden sein, und auf der Stirn werden kleine Schweißperlen stehen. Doch Estrongo Nachama wird schon am übernächsten Tag wieder ein Konzert geben, am nächsten Freitag erneut in der Synagoge stehen und überhaupt immer singen, wenn jemand ihn hören will. Das kommt oft vor.

So war das ursprünglich nicht gedacht. Der junge Nachama wollte mit Getreide handeln. Die Mutter hätte ihn gern als frommen Kantor in Saloniki gesehen. Die Nazis hatten ihn für Gaskammer und Verbrennungsofen bestimmt. Er ist knapp entkommen, seine Familie aber nicht. Estrongo Nachama trauert noch nach langer Zeit, und manchmal weint er in der Nacht. "Mein goldener Vater", klagt er, "das ganze Beten hat nichts geholfen."

Schild an der Tür

Der Kantor erinnert sich in seinem Zimmer in der Synagoge. Der kleine, korpulente Mann mit der dunklen Haut und den glatt zurückgestrichenen grauen Haaren sitzt in einer Ecke auf dem Stuhl. Das rechte Bein hat er auf einen Koffer gelegt. Seit der Folter in Auschwitz und Sachsenhausen schmerzen die Füße. Manchmal spricht er leise, dann wieder dröhnend und dramatisch. Außen an der Tür ist ein Schild befestigt, auf dem in großen Buchstaben "Estrongo Nachama" steht. Solche Schilder hängen sonst an den Garderoben von Stars. Der Kantor Nachama ist ein Mann Gottes. Aber ein Künstler und ein Star ist er auch. Davon soll durchaus Notiz genommen werden.

Vor 55 Jahren, in Saloniki, konnte keine Rede davon sein. "1943 schafften uns die Verbrecher ins Ghetto. Zwei Tage blieben wir da. Dann standen die Züge mit den Viehwaggons auf dem Gleis. Da sperrten sie uns rein. Acht Pferde oder 70 Menschen, das stand draußen dran. Wir nahmen nur Feigen, Rosinen und Brot mit, und dann fuhren wir. Acht Tage. Wohin? Nach Polen, hieß es. Die Endstation war Auschwitz." Der Mann schweigt. Dann sagt er, wie oft beim Blick zurück: "Und so war’s."

Auf der Rampe von Auschwitz wird er zum letzten Mal seine Eltern sehen. Seine Schwestern Matilde und Signora, seine Braut Regina. Er selbst wird in Block 2 vegetieren, vor Schmerz singen, immer wieder Klagelieder, und bald "Sänger von Auschwitz" heißen. Die Stimme rettet ihm das Leben. "Komm, Sänger, Stiefel putzen", befehlen ihm SS-Männer und kriminelle Baracken-Chefs. "Sing uns italienische Lieder." Dafür werfen sie ihm wie einem Hund Brot vor die Füße. So überlebt Estrongo Nachama dort, wo gestorben wird.

An einem Wintertag, im Februar 1945, muß er auf seinen ersten Todesmarsch. "Immer nach Westen. Zehn Tage laufen, fast ohne Essen. Immer Gebrüll und Geschrei. Wer nicht mitkam, wurde erschossen. Sie trieben uns ins KZ Sachsenhausen bei Berlin. Ja, und so war’s."

In Sachsenhausen aber kennt niemand den "Sänger von Auschwitz". Estrongo Nachama hat nicht mehr genug Brot, und deshalb klaut er es. Dafür hängen sie ihn kopfüber an den Galgen, der heute noch in der Gedenkstätte steht, und schlagen ihm auf die Füße. Anschließend muß er zur Strafarbeit. Das bedeutet, die verknäulten Leiber aus der Gaskammer zu holen und in die Verbrennungsöfen zu schieben. "Das war grausam, so grausam." 50 Jahre haben nicht gereicht, um diese Bilder loszuwerden.

Ende April 1945 geht Estrongo Nachama auf seinen zweiten Todesmarsch. "Das hat gedauert bis 3. Mai, mein Freund. Wieder Erschießungen, kein Essen, kalt. Die Verbrecher …" Die Stimme des Kantors ist jetzt wieder laut. Er lehnt sich zurück in seinem Stuhl und streicht mit der Hand über den Tisch. Sein Blick geht in die Ferne, dorthin, wo nur er etwas sieht.

Er sieht seine Flucht, den Hühnerstall bei Falkensee, in dem er sich versteckt, und schließlich, morgens um fünf, die Russen, die ihn endgültig befreien. Der Weg durch die Hölle ist zu Ende. Nachama denkt, daß er den nächsten Zug besteigen wird, der nach Griechenland fährt. Er will in der Stadt leben, die er zuletzt durch die Luke eines Viehwaggons gesehen hat.

Estrongo Nachama besteigt in Falkensee den nächsten Zug, der nach Griechenland fahren soll, aber in Berlin ist die Reise schon zu Ende. Das gilt für den Zug, der nicht weiterfährt, und das gilt für das weitere Leben Nachamas. Er findet zuerst ein Zimmer und dann die Jüdische Gemeinde. In der Synagoge Pestalozzistraße hören die Glaubensbrüder zum ersten Mal seine Stimme. Sie überreden ihn, als Kantor in Berlin zu bleiben.

Am 1. Juli 1947 tritt er sein Amt an. Später wird er Oberkantor. Irgendwann bekommt er einen Status, in den man nicht berufen werden kann. Estrongo Nachama wird eine Institution. Er betreut die Jüdische Gemeinde im Westen der geteilten Stadt und auch die im Osten. Er kümmert sich um die jüdischen Familien der amerikanischen Streitkräfte in Berlin. "Ich habe", sagt er, "alle beerdigt. Und so war’s."

Eine Berliner Institution

Mehr als 50 Jahre auch singt Nachama wöchentlich im Rias, später im Deutschlandradio, zur wöchentlichen Sabbatfeier. Im Osten hat er eine Sendung im Berliner Rundfunk. Die politische Teilung der Stadt existiert, aber der Mann aus Saloniki läßt sie für sich nicht gelten. Er ist, wenn es das denn geben kann, ein Berliner Patriot und ein gesamtdeutscher Grieche. Schon bevor die Mauer stand, hat Nachama Grenzen überschritten. "1949 bat mich ein Bischof, in einer Aachener Kirche zu singen. Aber wie konnte ich? Ich war in Auschwitz. Es kam für mich nicht in Frage. Schließlich habe ich doch zugesagt und seitdem immer wieder die Hand gereicht."

Deshalb singt Nachama wenige Tage vor seinem 80. Geburtstag am 4. Mai auch wieder einmal im Berliner Dom. Vor Konzertbeginn küßt der Kantor Frauen auf die Wange, stellt Leute einander vor oder schwatzt ein bißchen mit Verehrern. Noch weiß er nicht genau, wie das Publikum nachher reagieren wird. Aber er plant schon zwei Zugaben. Schließlich ist er der Mann, der ein großes Namensschild an der Tür hat. Später singt er "Lo Amut Ki Echje": "Ich sterbe nicht, ich lebe."

Auch Doris ist wieder da. Doris ist eine Frau aus Heppenheim, die zu jedem seiner Konzerte anreist. Egal, ob nach München, Dortmund oder eben Berlin. Sie drückt ihm Tüten in die Hand, und als Nachama auspackt, murmelt er: "Mensch, schon wieder zwei Krawatten, soviel Kram, soviel Geld ausgeben. Sind verrückt, die Frauen. Hier, auch noch Salbe für meine Füße."

Zur Begrüßung im Dom hält Jürgen Rennert (Kunstdienst) eine Rede: Er freut sich, daß Estrongo Nachama "...the world greatest Chasan" bei ihm auftritt. Nachama bekommt die Eloge erst nicht mit, sieht dann aber kein Problem. "Der weltbeste Kantor?" fragt er. "Gott sei Dank. Stimmt."

Das muß sich Anfang der siebziger Jahre auch Hollywood-Regisseur Bob Fosse gedacht haben, als er seinen "Oscar"-gekrönten Film "Cabaret" vorbereitet hat. Er ging zu Nachama und sagte ihm, daß er ihn braucht. Nachama, man vermutet es, hat nicht abgelehnt. "Ich hab’ so ein Bärtele gehabt, die Minnelli war da, herrlich, und gesungen haben wir, für die ganze Welt. 15 000 Mark haben sie mir gegeben, das war kein Geld, aber ich war froh."

In "Cabaret" hat Estrongo Nachama das gemacht, wofür er berühmt geworden ist. Er hat gesungen. Die Berliner Juden kennen ihn auch aus anderen Gründen. Weil er an ihrer Wiege steht und an ihrem Grab. Er ist bei der ersten religiösen Zeremonie, der "Brith Milah" oder Beschneidung dabei, bei der Bar Mizwah und unter dem Hochzeitsbaldachin. Am Grab spricht er oft Kaddisch, das Totengebet. So war es, wie er immer sagt. Und so wird es noch eine Weile sein.

Audio: Shalom alejkhem... / Estrongo Nechama

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Publikation: Samstag, 14. Dezember 2013

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