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"Jeder Mensch hat einen Namen"

Von Marijke Engel

Genau 55.696 Namen, von "Aal, Jutta" bis "Zyzman, Leo", sind zwischen den Buchdeckeln des 1.402 dicken "Gedenkbuchs Berlins der jüdischen Opfer des Nationalsozialismus" zusammengefaßt. Um alle einmal vorzulesen, braucht man über 28 Stunden. Anläßlich des Holocaust-Gedenktages luden jüdische Jugendorganisationen dazu ein, genau das zu tun. Vom Mittwoch 20 Uhr bis Donnerstag nacht kamen Hunderte Menschen zur Gedenktafel in der Großen Hamburger Straße und stellten sich ans Rednerpult. "Jeder Mensch hat einen Namen", so lautete das Motto der Aktion. In diesem Jahr wurden die Namen bereits zum dritten Mal in Berlin verlesen.

Die Wichtigtuer sind schnell verschwunden. Petra Pau hält ihr betroffenstes Gesicht in die Kamerascheinwerfer. Doch noch bevor um 20.55 Uhr der Name "Dorchen Appelbaum" verlesen wird, hat die Politikerin den Platz an der Großen Hamburger Straße verlassen. Dorchen war 79 Jahre alt, als sie am 4. April 1942 nach Theresienstadt verschleppt wurde. In Minsk verliert sich ihre Spur.

In der Reihe jener, die warten um zu lesen steht Tommy Baer. Er ist hier, um seiner Familie zu gedenken. Baer wurde am 8. April 1938 in der Waitzstraße 25 in Charlottenburg geboren. Ein Jahr später konnte er mit Mutter und Vater in die USA fliehen. Sein Großvater Moses Baer hatte nicht dieses Glück. Er wurde am 26. Februar 1943 deportiert. Es ist 21.40 Uhr, als Tommy auf das Podest tritt und mit amerikanischem Akzent den Namen des Großvaters und sieben weiterer Verwandter vorliest.

Um 3.15 Uhr hallt der Name Arthur Fichtmann über den leeren Platz. Dann Bertha, Clara, Erna, Jenny. Am Rednerpult steht Shalom Sarah. Sie schickt die Namen mit klarer Stimme im pumpenden Rhythmus hinaus in die Nacht. Shalom Sarah ist schon gestern Abend um 20 Uhr gekommen. Es ist ihre achte Leserunde. Unter den Namen im Buch sind auch Familienmitglieder. Die will sie aber nicht nennen. "Das ist unwichtig", sagt sie später, als sie sich wieder in die Schlange der sieben Wartenden einreiht. "Ich bin genauso hier für die Menschen, die keinen mehr haben, der sich an sie erinnert."

Gegen 3.50 Uhr gesellen sich zwei weitere Frauen zu dem fröstelnden Grüppchen mitten auf dem Platz. "Friedländer, Erna", klingt es vom Rednerpult herüber. Helga Wünsche ist um 3 Uhr aufgestanden. Sie habe erst überlegt, schon am Abend mitzumachen, sagt sie. "Dann dachte ich aber, daß gerade jetzt in den Nachtstunden Menschen gebraucht werden." Die ältere Dame hat niemanden im Holocaust verloren. Trotzdem hat sie sich aufgemacht – ordentlich frisiert und geschminkt. Es ist dunkel. Nur wenige der 500 Teelichter, die einen großen Davidstern formten, brennen noch. Um 4.30 Uhr tritt Helga Wünsche ans Pult und beginnt mit dem Namen "Gessler, Margarete". Sie wurde am 2. März 1943 mit 60 Jahren nach Auschwitz deportiert und hat nicht überlebt.

Am nächsten Tag um 11.30 Uhr: Fünzig Menschen lauschen den Lesenden. Shalom Sarah gehört jetzt auch dazu. Sie läßt den anderen den Vortritt. Die ganze Nacht hat sie sich kein einziges Mal hingesetzt. Das wird sie auch jetzt nicht tun. Aufrecht steht sie in der Frühlingssonne. Die Lesenden sind bei "Levy, Hans" angelangt. Das ist zwei Stunden hinter dem Zeitplan. Baruch Poettke muß deshalb warten, bis er an der Reihe ist. Herr Poettke ist wegen seiner Schwiegermutter gekommen; sie heißt Therese Meyer und wurde 1942 deportiert. Unter falscher Identität hat Poettke den Krieg in der Chodowieckistraße am Prenzlauer Berg überlebt. Mit verschränkten Armen sitzt er nun auf einer Bank; den Blick ins Leere gerichtet. Der alte Mann auf der Parkbank. Ein alltägliches, ein beinahe idyllisches Bild. Wären da nicht die Namen, die der Wind herüberweht.

Um 12.20 Uhr ist es "Lewy, Bela", ein Vierjähriger, am 3. April 1942 deportiert, später in Reval verschollen. Zwölf Stunden später in der Nacht zum Freitag wird es wieder still werden am Platz des Gedenkens.

© G+J BerlinOnline GmbH

Publikation: Freitag, 24.04.98

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