Die Wichtigtuer sind schnell verschwunden. Petra Pau
hält ihr betroffenstes Gesicht in die Kamerascheinwerfer. Doch noch
bevor um 20.55 Uhr der Name "Dorchen Appelbaum" verlesen wird, hat die
Politikerin den Platz an der Großen Hamburger Straße verlassen. Dorchen
war 79 Jahre alt, als sie am 4. April 1942 nach Theresienstadt
verschleppt wurde. In Minsk verliert sich ihre Spur.
In der Reihe jener, die warten um zu lesen steht
Tommy Baer. Er ist hier, um seiner Familie zu gedenken. Baer wurde am 8.
April 1938 in der Waitzstraße 25 in Charlottenburg geboren. Ein Jahr
später konnte er mit Mutter und Vater in die USA fliehen. Sein Großvater
Moses Baer hatte nicht dieses Glück. Er wurde am 26. Februar 1943
deportiert. Es ist 21.40 Uhr, als Tommy auf das Podest tritt und mit
amerikanischem Akzent den Namen des Großvaters und sieben weiterer
Verwandter vorliest.
Um 3.15 Uhr hallt der Name Arthur Fichtmann über den
leeren Platz. Dann Bertha, Clara, Erna, Jenny. Am Rednerpult steht
Shalom Sarah. Sie schickt die Namen mit klarer Stimme im pumpenden
Rhythmus hinaus in die Nacht. Shalom Sarah ist schon gestern Abend um 20
Uhr gekommen. Es ist ihre achte Leserunde. Unter den Namen im Buch sind
auch Familienmitglieder. Die will sie aber nicht nennen. "Das ist
unwichtig", sagt sie später, als sie sich wieder in die Schlange der
sieben Wartenden einreiht. "Ich bin genauso hier für die Menschen, die
keinen mehr haben, der sich an sie erinnert."
Gegen 3.50 Uhr gesellen sich zwei weitere Frauen zu
dem fröstelnden Grüppchen mitten auf dem Platz. "Friedländer, Erna",
klingt es vom Rednerpult herüber. Helga Wünsche ist um 3 Uhr
aufgestanden. Sie habe erst überlegt, schon am Abend mitzumachen, sagt
sie. "Dann dachte ich aber, daß gerade jetzt in den Nachtstunden
Menschen gebraucht werden." Die ältere Dame hat niemanden im Holocaust
verloren. Trotzdem hat sie sich aufgemacht – ordentlich frisiert und
geschminkt. Es ist dunkel. Nur wenige der 500 Teelichter, die einen
großen Davidstern formten, brennen noch. Um 4.30 Uhr tritt Helga Wünsche
ans Pult und beginnt mit dem Namen "Gessler, Margarete". Sie wurde am 2.
März 1943 mit 60 Jahren nach Auschwitz deportiert und hat nicht
überlebt.
Am nächsten Tag um 11.30 Uhr: Fünzig Menschen
lauschen den Lesenden. Shalom Sarah gehört jetzt auch dazu. Sie läßt den
anderen den Vortritt. Die ganze Nacht hat sie sich kein einziges Mal
hingesetzt. Das wird sie auch jetzt nicht tun. Aufrecht steht sie in der
Frühlingssonne. Die Lesenden sind bei "Levy, Hans" angelangt. Das ist
zwei Stunden hinter dem Zeitplan. Baruch Poettke muß deshalb warten, bis
er an der Reihe ist. Herr Poettke ist wegen seiner Schwiegermutter
gekommen; sie heißt Therese Meyer und wurde 1942 deportiert. Unter
falscher Identität hat Poettke den Krieg in der Chodowieckistraße am
Prenzlauer Berg überlebt. Mit verschränkten Armen sitzt er nun auf einer
Bank; den Blick ins Leere gerichtet. Der alte Mann auf der Parkbank. Ein
alltägliches, ein beinahe idyllisches Bild. Wären da nicht die Namen,
die der Wind herüberweht.
Um 12.20 Uhr ist es "Lewy, Bela", ein Vierjähriger,
am 3. April 1942 deportiert, später in Reval verschollen. Zwölf Stunden
später in der Nacht zum Freitag wird es wieder still werden am Platz des
Gedenkens.