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''Die Enkel der Marranen sind zurückgekehrt''

Was bedeutet der März 1968 für Juden, die in Polen geblieben sind. Wie ging es danach weiter? Das IW unterhielt sich mit Konstanty Gebert, dem Chefredakteur der in Warschau erscheinenden jüdischen Zeitschrift 'Midrasz' über jüdische Identität, jüdisches Leben in Polen, und Religion. Gebert, ein Phänomen der polnisch-jüdischen Geschichte, begann vor 20 Jahren aus amerikanischen Büchern zulernen, wie ein Jude betet, welche Mizwot er einzuhalten hat.

Das Gespräch mit Konstanty Gebert führte Gabriele Lesser (Israelitisches Wochenblatt, Nr. 13, 27.3.1998)

Konstanty Gebert, Sie stammen aus einer völlig assimilierten Familie. Wie haben Sie zurück zum Judentum gefunden? Wußten Sie immer, daß Sie Jude sind?

Ja, aber ich habe erst spät begriffen, daß es wichtig ist . Die Eltern waren Kommunisten, und es ist ganz einfach ein biographischer Zufall, daß ich Jude bin. Zuhause war das kein Thema. Es war kein Tabu, aber die Herkunft spielte überhaupt keine Rolle. Und dann kam das Jahr 1968, die von der Regierung geschürten antisemitischen Ausschreitungen, die Säuberungen in der Partei und an den Universitäten. Ich war damals 15 Jahre alt, wurde verprügelt, flog von der Schule. Da wurde mir klar, daß die Herkunft doch wichtig ist.

Ihr Schlüsselerlebnis war also der März 1968?

In gewissem Sinne ja. Aber der März 1968 war das Schlüsselerlebnis einer ganzen Generation. Er betraf ja auch die Intelligenz: die Studenten an den Universitäten. Der März 1968 erschütterte nachhaltig das naive Gefühl, daß die Herkunft unwichtig sei. Viele meiner Freunde und Bekannten emigrierten.

Und Ihre Eltern? Dachten die nicht an Emigration?

Meine Eltern waren viel zu stolz, als daß sie sich aus ihrem Vaterland hätten werfen lassen. Und ich war zu jung.

Und später?

Ich bin ein schlechter Patriot. Das heißt, ich reagiere emotional nicht auf Flaggen und Hymnen. Was mir wichtig ist, sind meine Familie und meine Freunde. Fast alle Menschen, die ich liebe, leben in diesem Land. Und das ist für mich Grund genug, gerne in Polen zu leben.

Wie ging es nach dem März 1968 weiter?

Der März war wichtig, aber nicht ausschlaggebend. Er hat uns ja nichts gegeben. Er war rein negativ. Deswegen zögere ich, diesen Alptraum ein "Schlüsselerlebnis" zu nennen. Schlüsselerfahrungen haben wir später gemacht, als wir schon älter und reifer waren, in den 70er Jahren.

Zum Beispiel?

Wir haben uns in der demokratischen Opposition engagiert. Eine Gruppe junger und assimilierter Juden fand sich zusammen und gründete die Jüdische Fliegende Universität. Dort haben wir Vorträge gehalten und gehört, unser Wissen über das Judentum vertieft. Das war schon eher ein Schlüsselerlebnis. Der März 1968 hatte uns nur bewiesen, daß es sinnlos war, sich etwas vorzumachen. Aber nicht alle aus dieser Generation haben diesen Schluß gezogen. Adam Michnik zum Beispiel, der damals von der Universität flog, sagt heute: "Ich werde solange meine jüdische Herkunft betonen, wie es den Antisemitismus gibt." Das kann ich nicht akzeptieren. Jeder anständige Mensch sollte gegen den Antisemitismus protestieren, sei er nun Jude, Araber oder Papua-Eingeborener. Die eigene Identität ist doch etwas Positives. Sie hat einen Inhalt. Es ist für mich völlig unvorstellbar, daß der Haß Anderer zu meiner Identität wird.

Wie haben Ihre Eltern darauf reagiert, daß Sie sich wieder dem Judentum annäherten?

Meine Mutter war entsetzt. Zuerst fürchtete sie, daß mir etwas geschehen könnte, wenn ich als Jude identifiziert würde. Sie empörte sich aber auch darüber, daß ein so kluger jüdischer Junge einem solchen Aberglauben anhängen konnte. Später fürchtete sie nur noch um meine Kinder. Sie sagte: "Das ist dein Leben. Damit kannst du machen, was du willst. Aber mit welchem Recht bringst du die Kinder in Gefahr?" Ich verstehe diese Angst. Mama ist eine von vier Personen aus einer insgesamt 250köpfigen Familie, die die Shoa überlebt haben. Ich habe verschiedene Antworten. Die einfachste lautet: "Es läßt sich ohnehin nicht verbergen. Früher oder später wird es jemand hervorziehen und benennen." Es ist also viel besser, sein Judentum als Gabe anzunehmen, nicht als Last.

Wie wird man ein religiöser Jude, wenn man aus einer assimilierten Familie stammt?

Unendlich langsam. Meine Biographie ist keineswegs besonders originell oder interessant. Sie ist typisch für meine Generation. Wir haben alle gesucht. Nach dem März 1968 war uns endgültig klar, daß uns der kommunistische Atheismus und der naive Nationalismus nichts bieten konnten. Auf der Suche haben die einen sich den östlichen Religionen zugewandt, dem Buddhismus vor allem, andere dem Katholizismus, und wieder andere - wie auch ich selbst - ihren eigenen Wurzeln, der mosaischen Religion.

Warum Religion? Reicht es nicht, in der jüdischen Kultur zu leben, um Jude zu sein? In Israel bilden die gläubigen Juden eine Minderheit.

In Polen sind wir zu wenige Juden: 25.000, wenn es hoch kommt. Die überlieferte jüdische Kultur ist letztlich nicht unsere. Wir können darüber lesen und sie verstehen, aber wir leben nicht in ihr. Es gibt kein Schtetl mehr. Und seien wir ehrlich: niemand will heute wieder in Anatewka wohnen. "The Fiddler on the Roof" ist zu einer Karikatur des Judentums verkommen. Wozu romantisieren? Wir sind zu wenige, als daß wir eine eigene Kultur mit einer eigenen Sprache ausbilden könnten. Von uns spricht kaum jemand Hebräisch, kaum jemand Jiddisch. Es ist also für polnische Juden schwierig, eine Identität auszubilden, die sich nicht auf die Religion stützt. Andererseits halte ich nichts davon, die Religion nur deshalb zu wählen, weil es keine anderen Identifikationsmöglichkeiten mit dem Judentum gibt. Das hat nichts mit Glauben zu tun.

Viele Juden in Israel sagen, daß man heute als Jude nicht mehr in Polen leben dürfe, weil Polen ein Friedhof sei.

Das sagen nicht nur Israelis. Das sagen auch viele Juden in den großen Diasporas. Doch darauf antwortet die Empirie. Offensichtlich kann man hier leben. Denn wir sind da. Wir haben einen Kindergarten, eine Schule, demnächst wird eine zweite eröffnet, wir haben Jugendclubs, einige Zeitschriften, wir restaurieren die Synagogen und beten in ihnen. Wir leben freiwillig hier. Niemand zwingt uns hierzubleiben. Andererseits würde es uns wahrscheinlich nicht allzu schwer fallen, woanders ein neues Leben zu beginnen. Aber wir sind hier. Es ist unsere Wahl. Sicher, Polen ist auch ein Friedhof, aber es ist wohl vermessen, die 1.000 Jahre, die meine Vorfahren in Polen lebten gleichzusetzen mit den fünf Jahren der Vernichtung durch die Deutschen. Es ist nicht so, daß meine Vorfahren 950 Jahre darauf gewartet haben, ermordet zu werden. Sie haben hier eine Zivilisation aufgebaut.

Vor zehn Jahren prophezeite man den polnischen Juden, daß sie die "letzten Juden in Polen" seien. Und nun entstehen Kindergärten, Schulen, Jugendclubs. Was ist geschehen?

Erinnern Sie sich an die Geschichte mit den Marranen? Am Ende des 15.Jahrhunderts konvertierten sie zum Christentum, um der Verfolgung in Spanien zu entgehen. Doch im Geheimen hielten sie an ihrem Glauben fest. Reste der alten Tradition überlebten bis in die dritte Generation hinein. Und da nahmen die Enkel den Glauben wieder auf. So ist es auch in Polen. Uns fehlen zwei, drei Generationen. Die große Blüte des polnischen Judentums ist vorbei. Doch jetzt kehren die Nachkommen der Marranen zurück. Menschen, die vom Judentum kaum mehr etwas wissen. Sie klopfen an die Türen unserer jüdischen Institutionen und stellen Fragen, manchmal einfache, manchmal komplizierte. Einige gehen wieder, andere bleiben und lassen auch ihre Kinder in unserem Kindergarten oder in der Schule. Was das bedeutet, ist klar. Es wird eine neue Generation heranwachsen, darunter auch mein jüngster Sohn, die nicht mehr die Erfahrung machen muß: "Jude sein heißt einsam sein". Im Gegenteil: Mein Sohn beispielsweise hat sich sehr gewundert, als er erfuhr, daß es auch Kinder gibt, die nicht jüdisch sind.

Gibt es einen Traum, den sie sich gerne erfüllen möchten?

Den Schabbat richtig zu feiern, das kam mir einst vor wie der Mount Everest: herrlich, aber viel zu weit entfernt. Dann aber, mit der Zeit, nach vielen, vielen Proben, habe ich erkannt: "Es ist zu schaffen". Doch der Schabbat war nur der Anfang. Ich habe noch einen weiten Weg vor mir. Aber ich beabsichtige ohnehin, lange zu leben. Und so stelle ich mir vor, daß ich am Ende meiner Jahre ganz im Einklang mit der Tora leben werde. Und da die erste Hälfte meines Lebens so aufregend war, daß sie für ein ganzes reicht, wünsche ich mir nun Langeweile. Mein größter Wunsch ist es, in einer kleinen provinzionellen jüdischen Gemeinde in einem langweiligen demokratischen Staat zu leben.

ZUR PERSON: KONSTANTY GEBERT

1953 in Warschau geboren, Besuch der Grundschule in der Türkei, wo die Eltern als Diplomaten arbeiten, 1968 wird der 15jährige im Rahmen der anitsemitischen und antiintellektuellen Säuberungen in Polen aus dem Gymnasium geworfen. Die Emigration nach Israel kommt für die kommunistischen Eltern nicht in Frage. Gebert macht das Abitur auf einer weniger antisemitischen Schule, studiert Psychologie und gründet zusammen mit Freunden die Jüdische Fliegende Universität. 1981 verliert Gebert, der sich für die Gewerkschaft Solidarnosc einsetzt, seine Arbeit als Psychotherapeut. Während des Kriegszustandes in Polen übersetzt und publiziert er unter dem Pseudonym Dawid Warszawski. Nach der politischen Wende im Jahre 1989 wird er Kolumnist bei der ersten unabhängigen Tageszeitung Polens "Gazeta Wyborcza". Er arbeitet für den Rundfunk, das Fernsehen, schreibt Bücher, zuletzt "Die Verteidigung der Post von Sarajewo". Anfang 1997 gründet er die jüdische Monatsschrift "MIDRASZ" und wird deren Chefredakteur.

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