Gabriele Lesser / taz
(Tageszeitung/Berlin), 4.3.1998
Der Angeklagte braucht
nicht vor Gericht zu erscheinen. Aleksandras Lileikis ist 90 Jahre alt
und leidet unter den Folgen eines Schlaganfalls. Doch die Verbrechen,
die ihm zur Last gelegt werden, sind so schwerwiegend, daß das
litauische Parlament im Dezember letzten Jahres das Strafgesetzbuch
änderte. Heute kann nun mit zweijähriger Verspätung das Verfahren in
Abwesenheit des Angeklagten eröffnet werden.
Aleksandras Lileikis, der während des
Zweiten Weltkriegs Chef der litauischen Geheimpolizei "Saugumas" in
Wilna war, soll eng mit Hitlers Einsatzgruppen zusammengearbeitet haben.
Er persönlich, so Staatsanwalt Kazimieras Kovarskas, habe den Befehl
gegeben, jüdische Kinder, Frauen und Männer entweder direkt zu
erschießen oder an die Nazi-Schergen auszuliefern. Zum Beweis will
Kovarskas Dokumente mit der Unterschrift Lileikis vorlegen.
Im Verlauf des Krieges war die Zahl der
Juden in Litauen von knapp 150 Tausend auf eine Viertelmillion
angestiegen. Stalin und Hitler hatten wenige Tage vor ihrem Überfall auf
Polen in einem "Nichtangriffspakt" eine neue Grenzziehung zwischen den
aufzuteilenden "Interessengebieten" vereinbart. Wilna, das Polen im
Jahre 1923 endgültig annektiert hatte, fiel zurück an Litauen, dafür
aber verlor die unabhängige Republik ihre Souveränität. Kirchen und
Synagogen wurden geschlossen, das Eigentum verstaatlicht. Als im Juni
1941 die Deutschen die Sowjetunion überfielen, gelang es ihnen, den Zorn
der Litauer auf die früheren Sowjetbesatzer umzulenken auf "die Juden".
Zwar waren diese auch enteignet worden, doch hatten sie erstmals Posten
innerhalb des Staatsapparates übernehmen können. Für die Litauer war das
"Verrat". Überall im Lande metzelte der Pöbel gemeinsam mit den
Einsatzgruppen jüdische Frauen, Kinder und Männer nieder. Die meisten
der über 200.000 Opfer wurde in Litauen selbst ermordet, die anderen in
Auschwitz oder anderen deutschen Vernichtungslagern.
Lileikis floh 1944 vor der Roten Armee
in die Vereinigten Staaten. Er wurde amerikanischer Staatsbürger und
lebte dort über 50 Jahre lang als unbescholtender Mann. Erst vor zwei
Jahren ermittelten US-Staatsanwälte, daß es sich bei Lileikis um einen
"der größten Kriegsverbrecher Litauens" handeln müsse. Die
Staatsbürgerschaft wurde ihm aberkannt, und Lileikis mußte zurückkehren
in sein Heimatland.
Dafür, daß die Anklage nicht
fallengelassen wurde, sorgte vor allem Efraim Zuroff, der Chef des Simon
Wiesenthal-Zentrums in Jerusalem. Er warf den Litauern immer wieder vor,
die eigene Beteiligung am Holocaust für ein eher unwichtiges Problem zu
halten und Nazi-Kollaborateure nicht vor Gericht zu stellen. Auch die
amerikanische Justizministerin Janet Reno schien die Prozeßvorbereitung
in Litauen genau beobachtet zu haben. Anfang Februar erklärte sie
unmittelbar, nachdem die Anklageschrift fertiggestellt war, daß dies ein
"Meilenstein" in der Aufarbeitung der litauischen Kollaboration mit den
Nazis sei.
Lileikis selbst streitet jede Schuld
ab. Sein Anwalt Algimantas Matusia meint gar, daß sein Mandat nicht nur
fälschlich für einen Kriegsverbrecher gehalten werde, sondern in
Wirklichkeit ein Widestandskämpfer gewesen sei, der es verdiene als Held
in die Geschichte Litauens einzugehen.