Feigel schüttelt fassungslos den Kopf „So etwas
müssen wir uns nicht gefallen lassen“, sagt er aufgebracht. Schon im
Januar hatte er Bronfman geschrieben, er bewirke mit seinen stetigen
Behauptungen, neuen Forderungen und Drohungen eine „Vergiftung der
Atmosphäre.“
Feigel gehört zu jenen prominenten Schweizer Juden,
die offen die Methoden einflußreicher jüdischer Organisationen in der
Auseinandersetzung um Holocaust-Gelder kritisieren. Sie fühlen sich
immer stärker dazu aufgerufen, ihre Schweizer Heimat zu verteidigen.
Eine Heimat, die bekanntlich die eigenen Juden lange diskriminiert und
jüdische Flüchtlinge während des Zweiten Weltkriegs an der Grenze zurück
in den sicheren Tod geschickt hat.
Als Feigel im Dezember davon hörte, daß der WJC eine
Gemeinschaftsklage gegen die Schweiz erwog, forderte er die Regierung in
Bern öffentlich auf, sie solle die Beziehungen zum Jüdischen Weltkongreß
abbrechen, weil die Organisation das Vertrauensprinzip ständig verletze.
Am Anfang, sagt Feigel, sei der Druck der jüdischen Organisationen in
den USA, die sich teilweise Konkurrenz machten, nötig gewesen. „Ohne
diesen Druck wäre in der Schweiz wahrscheinlich nichts gelaufen“, sagt
er. Doch heute, da das Land enorme Anstrengungen unternehme, um seine
Versäumnisse und Vergehen zusammen mit internationalen Experten
aufzuarbeiten und bedürftigen Holocaust-Opfern möglichst rasch Geld
zukommenzulassen, sei es „kontraproduktiv, was der WJC macht“.
Als WJC-Vizepräsident Kalman Sultanik den Schweizer
Bundespräsidenten Flavio Cotti mit dem früheren österreichischen
Staatspräsidenten Kurt Waldheim verglich, der seine Vergangenheit als
Nazi-Offizier geleugnet hatte, platzte dem Juristen Feigel der Kragen,
und er verlangte vom WJC eine Entschuldigung. Feigel glaubt, daß man
antisemitisch gestimmten Schweizern damit unnötig Munition liefere:
„Viele Schweizer haben uns nur bedingt aus ihrer Vorstellungswelt als
böse Juden entlassen und nur auf Bewährung als Schweizer Bürger
angenommen“, warnt er. Das sei zwar ein Problem der Schweizer, „aber es
trifft die Juden eben doch“.
„Unglückliche Wortwahl“
Als Bronfman das Nazi-Schlagwort vom „totalen Krieg“
gebrauchte, dachte Feigel, der Schweizerische Israelitische Gemeindebund
(SIG), der Dachverband der Schweizer Juden, müßte doch jetzt darauf
reagieren. Dessen Präsident Rolf Bloch ist auch Vorsitzender des
Ausschusses, der die Gelder aus dem von den Banken geschaffenen
Holocaust-Fonds verteilt. Tatsächlich versucht der 68 Jahre alte Bloch
vor allem Brücken zu bauen. Als Bronfman die „unglückliche Wortwahl“
verwendete, sagt Bloch, habe er den amerikanischen WJC-Mitgliedern klar
machen wollen, daß er zum äußersten bereit sei. Man dürfe in der Schweiz
nicht überreagieren, sagt . Er beobachtet aber auch, daß die
„gegenseitige Eskalation“ zu einer antijüdischen Stimmung in der Schweiz
führe. „Die Leute sind sich nicht mehr im klaren, wohin sie die
Schweizer Juden stellen sollen“, sagt der allseits respektierte Berner
Schokoladenfabrikant. „Aus Verunsicherung gegen sie auf Distanz.“ Mit
den Methoden des WJC sei man nicht immer einverstanden, sagt Bloch:
„Druck ist zwar nötig, aber nicht Überdruck.“
Der jüdische Schweizer Abgeordnete François Loeb
fühlte sich gefordert, als das Wiesenthal Center in Los Angeles die
Schweizer Flüchtlingslager während des Zweiten Weltkriegs als
„Sklavenlager“ einstufte und damit in die Nähe von Konzentrationslagern
rückte. Dem widersprach selbst US-Unterstaatssekretär Stuart Eizenstat.
Der 58jährigeLoeb, dem ein Kaufhaus in Bern gehört, rief ehemalige
Lagerinsassen auf, ihm ihre Erfahrungen in Briefen mitzuteilen. „Es
kamen über hundert meist positive Briefe“, erzählt er. Loeb klagt, im
Ausland werde nicht anerkannt, welche Bemühungen man heute in der
Schweiz unternehme: „Da fühlt man sich ungerecht behandelt.“
Gegen in seinen Augen ungerechtfertigte Vorwürfe
schreibt auch der jüdische Journalist Max Frenkel regelmäßig in der
Neuen Zürcher Zeitung an. WJC-Generalsekretär Israel Singer allerdings
nannte jüdische Schweizer Persönlichkeiten, die Vorwürfe an den Kongreß
richteten, in der Jüdischen Rundschau „feige“: Sie täten dies, „weil es
zu ihrem geschäftlichen Vorteil ist oder weil sie Sympathien wecken
wollen (. . .)“, erklärte Singer.
Hört man sich unter jüngeren Juden in der Schweiz
um, spürt man immerhin einen Unterschied zwischen den Generationen. Die
jüngeren Juden sind dafür, daß man selbstbewußt auftritt und Konflikte
nicht scheut. Ein 30 Jahre alter jüdischer Schweizer glaubt, die älteren
Juden wollten „aus einem Gefühl der Schwäche heraus“ lieber keine
schlafenden Hunde wecken.
Die Schweizer Juden erhielten erst zwischen 1866 und
1874 auf Druck ausländischer Mächte hin alle Rechte von Schweizer
Staatsbürgern. Es gibt heute nur rund 17 500 Juden in der Schweiz.
Einige wenige sind in wichtige Positionen aufgestiegen, etwa die
Innenministerin Ruth Dreifuss oder Ursula Koch, die Präsidentin der
Sozialdemokratischen Partei der Schweiz. Der 40 Jahre alte SIG-Sprecher
Thomas Lyssy sagt, seine Organisation wolle „eine einheitliche Haltung
nach außen zeigen“. Meinungen wie die des „Privatmannes“ Sigi Feigel
liegen da quer in der Landschaft. Nicht mit offenen Briefen, betont
Lyssy, sondern im direkten Gespräch sollte man sich mit dem WJC
verständigen.Vor wenigen Tagen haben sich die Schweizer Banken
angesichts von Boykottdrohungen grundsätzlich bereiterklärt, die
gesamten jüdischen Ansprüche in den USA durch einen Vergleich
abzugelten.