Nach Schätzungen der amerikanischen Regierung hatte
sich Deutschland unter Adolf Hitler etwa ein Fünftel der Kunstschätze
des Westens angeeignet, durch Enteignungen jüdischer Sammler,
Plünderungen in eroberten Gebieten und erzwungene Billigverkäufe.
Privatsammler, Museumsdirektoren und Behörden in
Bern und Zürich fürchten nun, daß sich das Thema «Raubkunst in der
Schweiz» durch neue Forschungsergebnisse zu einem neuen
Holocaust-Skandal ausweiten könnte - im Fahrwasser der Diskussionen über
Nazigold und die sogenannten nachrichtenlosen Konten.
Denn der Historiker Thomas Buomberger, der im
Auftrag des schweizerischen Bundesamts für Kultur eine Studie über
geraubte Kunst erstellt, meint, die Zahl der von den Nazis in die
Schweiz verkauften Raubbilder aus jüdischem Besitz liege weit über den
bislang bekannten 77 Fällen.
Sandor Kuthy, Vizedirektor des Kunstmuseums Bern,
weiß genau, wie «Das Erwachen» 1941 in den Besitz seines Museums gelangt
war. Die nationalsozialistischen Besatzer hatten es damals aus der
Galerie Wildenstein in Paris entwendet und über das umstrittene Luzerner
Auktionshaus Theodor Fischer weiterverkauft. Über einen Kunsthändler in
Basel kam es schließlich nach Bern.
Anders verlief die Geschichte der «Absinthtrinkerin»
von Pablo Picasso. Das Werk aus der Blauen Periode hängt ebenfalls in
Bern. Das deutsche Sammlerehepaar Gertrud und Oskar Troplowitz hatte das
Bild der Hamburger Kunsthalle vermacht, aus der es die Nazis 1937
entfernten.
Zusammen mit anderen als «entartete Kunst»
gebrandmarkten Werken ließ Propagandaminister Joseph Goebbels «Die
Absinthtrinkerin» in die Schweiz schaffen. Dort wurde sie 1941 trotz des
Einspruchs einer Schwester von Gertrud Troplowitz versteigert.
Im Kunstmuseum Bern rechnet man heute nicht mehr mit
Ansprüchen auf das Picasso-Bild. Was den Courbet betrifft, so hatte ein
Schweizer Gericht nach Kriegsende festgestellt, das Museum habe das
Gemälde «gutgläubig» erworben und dürfe es deshalb behalten.
«Ich denke, juristisch gibt es keine Unklarheiten
mehr», meint Kuthy. Doch er betont, «wir sind aber offen für Gespräche,
wenn ein rechtmäßiger Anspruch kommt, sei es auch nur ein moralischer».
Christian Bührle, der Enkel des Schweizer
Waffenfabrikanten und Kunstliebhabers Emil G. Bührle, sieht die erneute
Diskussion über die Raubkunst dagegen weniger gelassen. Sein Großvater
habe zwar Bilder aus jüdischem Besitz gekauft, diese aber später
zurückgegeben und erneut gekauft.
«Es ärgert mich, daß unsere wertvolle Kunstsammlung
deswegen immer wieder in den Dreck gezogen wird», entrüstete er sich vor
einigen Tagen öffentlich. «Wir überlegen uns ernsthaft, die
Bührle-Sammlung von Zürich ins Ausland zu verlegen.»
Die USA dürften in jedem Fall nicht sein Ziel sein.
Denn dort hält die Staatsanwaltschaft seit Januar zwei Gemälde des
österreichischen Malers Egon Schiele fest. Nach einer Ausstellung im
Museum of Modern Art in New York waren die Bilder aus der Sammlung
Leopold (Wien) beschlagnahmt worden. Angebliche Erben hatten Anspruch
auf die Werke aus ursprünglich jüdischem Besitz erhoben.
Vor unnötiger Panikmache warnt der Direktor des
Bundesamts für Kultur in Bern, David Streiff. Schätzungen, wonach sich
heute noch 700 aus jüdischem Besitz in der Schweiz befinden sollen, hält
er für überhöht.
Außerdem habe die Buomberg-Studie bestätigt, daß es
zumindest in der Bundeskunstsammlung keine «verdächtigen Bilder» gebe.
Er betont, sein Amt habe die Studie unter anderem in Auftrag gegeben,
«damit jetzt nicht von überallher immer neue Forderungen und neue Erben
auftauchen».