Der Vorsitzende des Zentralrates der
Juden in Deutschland, Ignatz Bubis
Gedenken in Bergen-Belsen, 27.04.'95
Herr Bundespräsident,
Frau Bundestagspräsidentin,
Herr Bundeskanzler,
Herr Vizepräsident des Bundesrates,
Frau Präsidentin des Bundesverfassungsgerichts,
meine Herren Bischöfe, Rabbiner, Exzellenzen, und insbesondere meine Damen
und Herren, die früher die Häftlinge waren und heute unter uns weilen,
sowie verehrter Herr Chaim Herzog, Staatspräsident des Staates Israel a. D.,
der Sie zu denen zählen, die am 15. April 1945 Bergen-Belsen befreit haben.
Die Jüdische Gemeinschaft in aller Welt begeht heute den "Jom haShoah
v'haGwurah", den Gedenktag zur Erinnerung an das ermordete europäische
Judentum und des heldenhaften Widerstandes in der Nazizeit.
Dieser Tag geht zurück auf den 19. April 1943, den Tag der Zerstörung des
Warschauer Ghettos, dessen wir nach jüdischer Zeitrechnung ebenfalls heute
gedenken. Wir denken dabei an die Männer, Frauen und Kinder, die es
vorgezogen haben, in einem ungleichen Kampf mit der Waffe in der Hand zu
sterben, als sich willenlos in die Gaskammern deportieren zu lassen. Wir
vergleichen sie mit den Helden von Massada, die ebenfalls bis zum letzten
Mann kämpften und sich nicht ergeben wollten.
Wir, die wenigen Überlebenden dieser Zeit, sind nicht in der Lage, einen
Tag zur Erinnerung an unsere eigenen Befreiung zu feiern, und dennoch ist
der 8. Mai 1945 der Tag der Befreiung der Menschheit vom Nationalsozialismus
und dessen Barbarei.
Zu wenige von uns haben überlebt und zu viele von uns wurden ermordet. Wie
soll ich den Tag meiner eigenen Befreiung feiern - es war der 16. Januar
1945 - , wenn ich weiß, daß mein Vater, mein Bruder, meine Schwester, diesen
Tag nicht erlebt haben? Wie sollen wir, die hier versammelten Überlebenden,
unsere Befreiung feiern, wenn wir wissen, daß Millionen von uns diesen Tag
nicht erlebt haben?
Es ist ein Tag, an dem wir alle der Ermordeten, der Vernichteten unseres
Volkes gedenken. Wir gedenken dabei zugleich und gemeinsam auch allen
anderen Opern der Nazi-Barbarei, die hier geknechtet, gequält, geschändet
und umgebracht wurden, weil sie nach nationalsozialistischem Sprachgebrauch
"andersrassig", "andersartig", "Untermenschen" oder politisch Andersdenkende
waren. Gleiches galt für das sogenannte "unwerte Leben".
Viele Überlebende fragen sich, ob wir denn überhaupt das Recht haben, im
Namen dieser Opfer zu sprechen und ob schweigendes Gedenken nicht
angemessener wäre. Ich meine eindeutig nein, und ich will dieses auch
begründen: Nach dem 8. Mai 1945 haben wir alle geglaubt, daß Krieg und
Unrecht nach den Lehren der Zeit des Nationalsozialismus mit mehr als 50
Millionen toten und einem zerstörten und verwüsteten Europa die Menschheit
gelernt hätte, in Frieden untereinander zu leben. Heute wissen wir, daß dem
nicht so ist.
Viele haben Jahrzehnte ihr eigenes Erleben verschwiegen. Das war nicht
nur bei den Tätern der Fall, sondern auch bei den Opfern, die wie durch ein
Wunder überlebt haben. Elie Wiesel, selbst Überlebender von Auschwitz und
Buchenwald, meinte, "man kann es nicht erzählen, aber man darf es nicht
verschweigen". Wir dürfen es nicht um der Toten wegen, aber wir dürfen es
auch nicht wegen der heutigen Generation und auch nicht wegen der künftigen
Generationen. Wie wollen wir sonst aus der Geschichte lernen!
Werden die nächsten Generationen sich überhaupt das eigentlich
Unvorstellbare vorstellen können, wo doch schon wir gar nicht, oder kaum in
der Lage sind, das Geschehene zu begreifen? Wie sollen künftige Generationen
begreifen, daß es nach Schätzungen der Hamburger Forschungsstelle für die
Geschichte des Nationalsozialismus, 1944 im Reichsgebiet etwa 38 000 Lager
mit 5 721 833 ausländischen Zwangsarbeitern, überwiegend aus Polen und der
Sowjetunion - davon in Berlin 700 Lager mit etwa 350 000 Insassen -, gegeben
hat? Dazu kamen noch die vielen Lager mit 1,9 Millionen Kriegsgefangenen,
die als Beschäftigte galten.
Wie sollen unsere Kinder und Enkelkinder über die Vernichtungslager wie
Auschwitz, Treblinka, Maidanek, Sobibor und andere oder über die "nur"
Konzentrationslager wie Bergen-Belsen, Sachsenhausen, Buchenwald oder Dachau
erfahren und wie es in diesen Lagern zugegangen ist? Solche, sogenannte
Konzentrationshauptlager, gab es 22 mit 1202 KZ-Außenkommandos.
Wie sollen unsere Kinder erfahren, daß zum Beispiel hier in Bergen-Belsen
die unmenschlichen Verhältnisse so waren, daß noch nach der Befreiung bis
Juni 1945 13 000 Menschen starben, die durch die Haftzeit so geschwächt
waren, daß sie teilweise keine Nahrung mehr aufnehmen konnten? Müssen wir
ihnen nicht erzählen, daß die britische Armee nach der Befreiung des Lagers
Zehntausende von Toten vorgefunden hat, die noch nicht bestattet waren?
Vor der Vernichtung stand Erniedrigung und die Zerstörung der Menschenwürde,
deren Beschreibung unmöglich ist. Rudolf Küstermeier, ein deutscher
Sozialist, der zehn Jahre im Zuchthaus saß, bevor er ins KZ kam, meinte nach
der Befreiung, es kann wohl "niemand, der es nicht erlebt hat, glauben, wie
tief Menschen sinken können, wenn sie gezwungen sind, lange ohne Nahrung,
Kleidung und ausreichende Unterkunft zu leben. Es scheint, daß es einen
gewissen Punkt der Erniedrigung gibt, der nicht ohne den Verlust jeglicher
Selbstachtung und Moral überschritten werden kann".
Der Drang zur Vernichtung war so ausgeprägt, daß noch 1945, als der Krieg
längst verloren war, immer noch Hunderttausende von KZ-Insassen aus Lagern
in Polen nach Deutschland transportiert oder auf Fußmärsche, die auch
Todesmärsche genannt wurden, geschickt wurden und deren Arbeitskraft bis zur
Vernichtung ausgebeutet wurde, bevor sie starben.
Meine Frau wurde aus Tschenstochau mit einem Transport nach hier,
Bergen-Belsen, geschickt. Von hier über Allach nach Kaufering und Dachau, wo
sie am 29. April befreit wurde. Ein Teil dieser Strecke legte sie zu Fuß
zurück, die meisten der Mithäftlinge starben unterwegs. Obwohl die Fronten
schon zusammengebrochen waren, gab es dennoch genügend SS-Bewacher, die für
diese Transporte quer durch das Reich eingesetzt wurden.
Als Bergen-Belsen mehr durch Zufall von einer britischen Patrouille am 12.
April 1945 entdeckt und besetzt wurde, gab es sogar einen Waffenstillstand,
um die Leichen zu bestatten und den Häftlingen zu helfen. Leider versäumte
es das britische Kommando, die Wachen zu entwaffnen. So konnte es passieren,
daß, nachdem die spitze der Befreiungstruppen bereits im Lager war, einige
Häftlinge, die sich in der Lagerküche Essen holen wollten, von den SS-Wachen
erschossen wurden.
Andrzej Szczypiorski sagte am letzten Sonntag in Sachsenhausen bei der
dortigen Gedenkveranstaltung: "Gerade deswegen sind wir auf dem Appellplatz.
Die, die dem Tod entronnen sind, sollen mit ihrer Gegenwart, mit ihrem
Gedächtnis, mit ihrem ganzen Leben bezeugen, das Leid und den Tod derer, die
umgekommen sind. Die, die am heutigen Appell teilnehmen, wurden durch das
Schicksal bestimmt, die Abwesenden für immer zu vertreten."
Und wie sah die Wirklichkeit hier in Bergen nach 1945 aus? Bei der 2.
Landtagswahl 1951 erhielt die Sozialistische Reichspartei des Nazigenerals
Remer 31,7 Prozent der Stimmen. Als diese Partei kurz darauf verboten wurde,
trat die Deutsche Reichspartei ihre Nachfolge an und wurde bei den
Landtagswahlen 1955 in Bergen immer noch klarer Sieger. Sie war mit einem
"Programm der 10 Gebote" angetreten, das 4. Gebot lautete: "Du sollst Dich
zum Deutschen Reich und den echten Werten seiner ganzen Geschichte bekennen.
Nur Emporkömmlinge leugnen ihre Vergangenheit".
Damit die Schrecken des Nationalsozialismus nicht in Vergessenheit
geraten, sollten wir auch bei uns in Deutschland einen Gedenktag einführen,
in dem der Opfer der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft gedacht wird.
Wir gedenken heute derer, die in Konzentrations- und Vernichtungslagern,
in den Ghettos oder Gefängnissen, aus rassischen, politischen oder
religiösen Gründen, aus Gründen Homosexualität oder aus anderen Gründen
umgebracht, ermordet, vergast oder in Massengräbern erschossen wurden
beziehungsweise auf Märschen an Schwäche oder aus Pein ihr Leben gelassen
haben. Wir gedenken ihrer in Ehrfurcht und appellieren an alle Menschen,
wachsam zu sein und alles zu tun, damit sich solche Zeiten, auch nicht in
gemäßigter Form, wiederholen. Dabei denke ich nicht nur an Deutschland. Wenn
die Welt das Geschehene vergißt, kann gleiches auch anderswo passieren. Bis
1933 hat auch keiner geglaubt, daß es in Deutschland, dem Land der Dichter
und Denker, möglich sein könnte. Und dennoch ist es hier mitten unter uns
geschehen.
Ich will noch ein Zweites sagen. Wir sind den Alliierten Dank schuldig.
Dank für die Befreiung Deutschlands, Europas und der Welt vom
Nationalsozialismus und von der Nazi-Barbarei. Millionen Alliierter verloren
dabei ihr Leben. Auch Ihrer wollen wir heute gedenken.
Sicherlich ist dabei auch Unrecht an Unschuldigen verübt worden. Auch daran
muß erinnert werden. Es kann aber nicht so sein, als ob der 8. Mai 1945 der
Beginn des Unrechts war. Mit dieser Befreiung von der Gewaltherrschaft hat
Deutschland eine Chance bekommen und die Bundesrepublik hat diese Chance
genutzt. Mit der Gründung der Bundesrepublik ist hier eine Demokratie
entstanden, wie es bis dahin auf deutschem Boden niemals der Fall war. Seit
1990 trifft dieses für das ganze Deutschland zu. Wir müssen alles tun, um
diese Demokratie zu erhalten und zu entwickeln. Wir alle gemeinsam tragen
diese Verantwortung.
Ich will hier und heute auch denjenigen danken - und es waren
nicht wenige - die in der finsteren Zeit deutscher Geschichte oft unter
Einsatz des eigenen Lebens, Menschen geholfen haben, damit diese überleben
können.
Auch das darf nicht vergessen werden.
Herausgeber:
Presse- und Informationsamt der Bundesregierung - Reihe Berichte und
Dokumentationen |