SZ vom 28.01.1998
Holocaust-Gedenkstunde im Bundestag
"Intellektuelle für NS-Ideologie verantwortlich
Israelischer Historiker Bauer: Erinnerungsarbeit nicht ohne
uns zu bewältigen
csc Bonn (Eigener Bericht) – Am 53. Jahrestag der
Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz hat der Bundestag in
Anwesenheit der Spitzen von Regierung, Bundesrat und Verfassungsgericht an
die mehr als sechs Millionen Opfer des Völkermordes der Nationalsozialisten
erinnert. Bundestagspräsidentin Rita Süssmuth (CDU) sagte, Zivilcourge und
die Achtung der Würde des Menschen blieben Lehren aus der NS-Diktatur.
„Wir sprechen hier nicht von Schuld, sondern von der
Verantwortung einer Kultur, in der dieses Monstrum sich entwickeln konnte“,
sagte der israelische Historiker Yehuda Bauer. Bauer, der in Prag geboren
wurde, betonte die Einmaligkeit des Holocaust. Nie zuvor sei versucht
worden, Menschen wegen ihrer Abstammung „überall in der Welt“ zu vernichten,
wo sie von den Nazis erreicht werden konnten. Hauptverantwortung für die
NS-Ideologie habe die damalige intellektuelle Schicht in Deutschland gehabt.
„Ihr könnt die Erinnerungsarbeit nicht ohne uns bewältigen“, sagte Bauer in
seiner bewegenden Rede. Nach dem Auftritt des 71jährigen Historikers erhoben
sich die Abgeordneten spontan von ihren Plätzen und applaudierten lange.
An der Gedenkstunde nahmen auch Ignatz Bubis, Präsident
des Zentralrates der Juden, Romani Rose als Vertreter der Sinti und Roma und
Ludwig Baumann für die Opfer der NS-Militärjustiz teil.
„Neue Judenfeindlichkeit“
SPD und Grüne verlangten anschließend erneut ein
Bundesgesetz zur Aufhebung aller NS-Unrechtsurteile. Justizminister Edzard
Schmidt-Jortzig (FDP) will nach dem Scheitern seiner Initiative am
Widerstand der CSU einen Vorstoß der Opposition unterstützen.
Er forderte für den Fall, daß es nun nicht zu einem Gesetz komme, müsse dies
Gegenstand von Koalitionsgesprächen der FDP nach der Bundestagswahl sein.
Norbert Geis (CSU) sagte der SZ, ein Bundesgesetz sei nicht nötig, da
einzelne Länder, auch Bayern, Aufhebungsgesetze hätten.
Auch in zahlreichen anderen Veranstaltungen wurde am
Dienstag der NS-Opfer gedacht. Am Berliner Bahnhof Grunewald
wurde ein
Mahnmal zur
Erinnerung an die von den Nationalsozialisten deportierten Berliner Juden
enthüllt. Der Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde Berlin, Andreas Nachama,
warnte bei der Enthüllung vor neuer Judenfeindlichkeit. „Es gibt auch
Zeitgenossen, die nicht nur bewußt wegblicken, sondern beschmieren,
beschädigen und zerstören.“ Nachama forderte die Grunewalder Bürger auf, das
Denkmal zu pflegen und zu schützen. Das Gleis Nummer 17, von dem die Züge in
den Osten abfuhren, wurde mit einem Stahlgußband eingerahmt. Auf 186
Stahlbauelementen an der Bahnsteigkante sind die Daten der einzelnen
Transporte und die Zahl der jeweils Deportierten vermerkt.
Der rheinland-pfälzische Landtag versammelte sich in der
Gedenkstätte Osthofen bei Worms zur ersten Sitzung eines deutschen
Parlaments in einem ehemaligen KZ. Der Vorsitzende der jüdischen
Landesgemeinde Thüringens, Wolfgang Nossen, forderte bei der
Gedenkstunde der thüringischen Landesregierung in der KZ-Gedenkstätte
Buchenwald eine nicht nachlassende Aufklärung über den von den
„Deutschen und ihren Helfershelfern verübten Völkermord“.
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