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Budapest:
Völkische Revolution?

Von Magdalena Marsovszky

In der Nacht zum Dienstag erlebte die ungarische Hauptstadt Budapest die schwersten Krawalle seit Jahrzehnten. Demonstranten hatten Autos in Brand gesteckt, so dass sich das Feuer auf das Gebäude des öffentlich-rechtlichen Fernsehens ausweitete. Sie wollten eine kurz zuvor zusammengestellte Petition live im Fernsehen vorlesen, in dem sie z.B. forderten, dass "Ungarn endlich den Magyaren und nicht kapitalstarken Gruppierungen gehören solle."

Nachdem sie aber dafür keine Genehmigung erhalten hatten, stürmten sie das Gebäude und legten an mehreren Stellen Feuer. Ihre Wut war deshalb besonders heftig, weil sie, wie sie vorgaben, im Auftrag 'des Volkes' handelten, das Fernsehen jedoch den Volkswillen unterdrücke. Das Ungarische Fernsehen unterbrach kurz vor halb zwei seine Sendung, und seine Mitarbeiter mussten über den Hintereingang fliehen. Etwa 200 Verletzte, unter ihnen viele Polizisten, sind die Folge. Ein Polizist schwebt noch immer in Lebensgefahr.

Die Demonstranten forderten den Rücktritt der sozialliberalen Regierungskoalition und skandierten immer wieder 'Ria-Ria-Hungaria', 'Revolution-Revolution' sowie 'Sechsundfünfzig-Sechsundfünfzig'. Dies war eine Anspielung auf den baldigen 50sten Jahrestag der 1956er Revolution am 23sten Oktober, bei der gegen die damalige sowjetische Besatzung demonstriert worden war. Dementsprechend trugen jetzt manche Demonstranten auch ungarische Fahnen, die in der Mitte mit einem Loch versehen sind, als Erinnerung daran, dass damals das sozialistische Wappen aus der Fahne geschnitten worden war. Im Meer der ungarischen Fahnen fielen auch diejenigen mit den so genannten Arpadenstreifen auf, die zur Symbolpalette der faschistischen hungaristischen Bewegung 1944 gehörten.

Was war den Krawallen vorausgegangen? Am Tag zuvor war ein Teil eines Tonbandprotokolls einer geschlossenen Fraktionssitzung der ungarischen Sozialisten (MSZP) verschiedenen Medien zugespielt worden. Im Mitschnitt sagte Ministerpräsident Ferenc Gyurcsány kurz nach den Parlamentswahlen vom 23. April unter Anderem, sie [die Sozialisten] hätten gelogen. "Wir haben vier Jahre lang nichts gemacht. Nichts! /.../ Ich kann keine Regierungsmaßnahme nennen, auf die wir stolz sein könnten." Das sind auch ungefähr die Sätze, die in den meisten deutschen Medien nach den Ereignissen zitiert wurden. Ob der Mitschnitt über eventuelle parteiinterne Konkurrenten des Ministerpräsidenten, oder ganz einfach über das technische Personal des Tagungsraumes gegen gute Bezahlung an die Öffentlichkeit gelangte, ist bis jetzt nicht geklärt und muss dahingestellt bleiben. Doch die beinahe kritiklose Übernahme der nationalkonservativ-oppositionellen Darstellung durch westliche Berichterstatter, in Gyurcsánys Rede sei es schlicht darum gegangen, dass er die Öffentlichkeit über den Zustand der Wirtschaft belogen hätte, um seine Wiederwahl zu sichern, und dass die Unruhen eine Folge dieses Eingeständnisses seien, geht im Grunde an der Wirklichkeit Ungarns vorbei. Die immer wieder zitierten und aus dem Gesamtzusammenhang gerissenen Sätze beginnen jetzt ein Eigenleben und beeinflussen die politischen Prozesse. Sie entsprechen überhaupt nicht mehr der Intention, mit der sie ausgesprochen wurden.

Was wollte also Gyurcsány mit seiner Rede erreichen? Zunächst müssen wir uns vor Augen halten, dass es ganz einfach nicht der Tatsache entspricht, dass die Regierung in den vier Jahren zuvor nichts gemacht habe. Sie hat in der vorhergehenden Legislaturperiode den Minimallohn aufgestockt und die dreizehnte Monatsrente eingeführt, um nur einige der Maßnahmen zu nennen. Unbestreitbar hat Gyurcsány, der seinen sozialistischen Vorgänger, Medgyessy, inmitten der Legislaturperiode, nur anderthalb Jahre vor den Parlamentswahlen 2006 ablöste, keine tief greifenden Reformen eingeführt. Diese sparte er sich für die Zeit nach seiner erhofften Wiederwahl auf. Doch, dass er nichts gemacht habe, spiegelt nicht die Realität wieder. So ist anzunehmen, dass er die zitierten Sätze als rhetorisches Mittel einsetzte. Wir müssen uns zudem vor Augen halten, dass er seine Rede in einer geschlossenen, parteiinternen Runde vortrug, sie also nicht für die Öffentlichkeit bestimmt war. Wenn wir uns zudem den gesamten Text anhören, merken wir auch, dass dies kein reuevolles Eingeständnis ist, sondern ein leidenschaftliches, motivierendes Aufrütteln. Dieser Absicht entspricht auch seine Kritik, manche Abgeordneten strebten nur noch deshalb nach dem Amt, weil sie inzwischen vergessen hätten, "wie es ist, als Karosserieschlosser zu arbeiten." Was man aus der Rede viel eher heraushören kann, ist Gyurcsánys verzweifelter Versuch "dem Sumpf zu widerstehen, der sich gegen die Ideale der Französischen Revolution richtet und in den letzten 16 Jahren in Ungarn ausbreitete", war in einer Analyse zu hören. Zweifellos war die Rede mit deftigen ungarischen Ausdrücken gespickt, die man sich intern durchaus manchmal genehmigt, "die er sich aber in Zukunft sicherlich aufsparen wird, wenn mehr als zwei Menschen im Raum sind." – hieß es in der Analyse weiter.

Wenn wir allerdings die Rede in einen größeren Zusammenhang mit der ungarischen Wirklichkeit stellen und uns fragen, in wessen Interesse es liegen könnte, sie gerade jetzt, in der heftigsten Wahlkampagne, zehn Tage vor den Kommunalwahlen am 01. Oktober an die Öffentlichkeit zu bringen, wird uns Vieles klarer. Sie scheint nämlich strategisch sehr gut in ein Drehbuch zu passen. Wie könnte dieses Drehbuch aussehen?

Seit Längerem wird in der nationalkonservativen Rechten, im Umkreis von Viktor Orbán behauptet, die Sozialliberalen hätten die Wähler in der Wahlkampagne vor den letzten Parlamentswahlen im April 2006 belogen. Das Wort 'Lüge' in Bezug auf die sozialliberale Regierung ist seit dem letzten Sommer kontinuierlich wiederholt und strategisch placiert worden. Da passt der angeblich jetzt und zufällig aufgetauchte Mitschnitt wie die Faust aufs Auge.

Viktor Orbán und seine Partei, die Fidesz [Ungarische Bürgerliche Allianz] betreibt seit den verlorenen Wahlen 2002 eine Politik, die seitdem immer wieder eskalierte und bereits öfters zu Gewalt führte, wenn auch nicht zu derart heftigen Krawallen wie diesmal. Die Stimmung war im Lande schon in den letzten Jahren so explosiv, dass sich selbst Politologen wunderten, wieso es noch nicht zu Übersprungshandlungen kam. Die jetzige Situation ist auch ein Ergebnis der 2002 eröffneten orbánschen Art der Politik und Kommunikation. Damals, nach den verlorenen Wahlen ermunterte er seine Anhänger das erste Mal zum 'Politisieren auf der Straße'. Im gleichen Jahr stand er als Hauptredner einer Demonstration selbst vor dem Gebäude des öffentlich-rechtlichen Fernsehens und behauptete, er und die Rechten seien zusammen so stark, dass sie das Gebäude aus dem Fundament heben könnten, aber sie seien gerade "nicht dementsprechend angezogen". In seinen Reden in den letzten Monaten zweifelte er immer wieder die Legitimität und Legalität der eigenen Regierung an und meinte, die Basis für das sog. Gyurcsány-Paket [Reformpaket der gegenwärtigen sozialliberalen Regierung] ist kein demokratischer Auftrag, sondern ein eigenmächtiges Diktat, bei dem die Unterstützung des Volkes fehlt. Vor kurzem sagte er in einem Interview der Nachrichtenagentur Reuters, er halte den Begriff 'Aufstand' für viel zu ernst, so dass er ihn lieber nicht gebrauchen möchte. Die Menschen hätten aber durchaus das Recht auf Widerstand. Beim Begriff 'Widerstand' assoziiert man aber automatisch mit einer fremden Besatzungsmacht. Und tatsächlich: Orbán und die Nationalkonservativen suggerieren seit Jahren der Bevölkerung, dass die gegenwärtige sozialliberale Regierung, die "Postkommunisten", wie sie genannt werden, eine unterdrückerische fremde Besatzungsmacht sei, die in einer permanenten und gradlinigen Kontinuität mit der stalinistischen Diktatur stünde.

Der Hinweis auf die Revolution 1956 ist in seinen Reden neuerdings ebenfalls von strategischer Bedeutung. Er äußerte vor kurzem, er und seine Anhänger seien stark genug, auf die Regierung loszugehen, und er rieche bereits den Pulvergeruch in der Luft. "Auch 1956 wusste das ungarische Volk, dass die Regierung hinausgejagt werden muss. /.../ Haltet Euch für den Wechsel bereit!" - so beendete er letztes Jahr seine Rede am 23. Oktober, dem Jahrestag der 1956er Revolution.

Seit Jahren betreibt Orbán eine rhetorische Taktik, in der er doppeldeutige Ausdrücke benutzt. Diese relativiert er zwar hinterher, sie leben aber in den Köpfen seiner Anhänger weiter. Philologisch sind diese Aussagen keine direkten Anweisungen, aber in ihrem semantischen Zusammenhang sind sie als Mobilisierungen zu verstehen. Ihre wichtigsten Kommunikationsinstrumente sind das öffentlich-rechtliche Kossuth Rádió und das kommerzielle, Fidesz-nahe HírTV (Nachrichten TV). Letzteres hetzte in der Nacht zum Dienstag bis in die frühen Morgenstunden, ermunterte die rechtsradikalen Randalierer, feierte sie als "junge Revolutionäre", bezeichnete die Krawalle als "Krieg" und nahm dabei die Lebensgefahr der eigenen Kollegen während des Angriffes auf das öffentlich-rechtliche Fernsehgebäude in Kauf.

Die nationalkonservative Mobilisierung läuft seit der Wende 1989/ 90, seit 2002 ist sie aber besonders intensiv. Viktor Orbán und seinen Anhängern ging es bei den letzten Wahlen immer um mehr als 'nur' um Wahlen. Egal, ob es sich dabei um Parlaments,- Kommunal- oder um Europawahlen handelt, sie sprechen immer wieder über eine notwendige Schicksalswende des Magyarentums. Bei den gegenwärtigen Kommunalwahlen geht es darum, die für die 'Anarchie' zuständige 'identitätslose' Regierung zu verjagen, und die 'Ordnung' wiederherzustellen. Während sich Viktor Orbán in einer internationalen Pressekonferenz für die Demokratie und Gewaltfreiheit einsetzt, ermuntert er gleichzeitig seine Anhänger, "sich nicht in ihre Häuser zurückzuziehen, sondern ihre Interessen zu verteidigen". Als administrative Konsequenz dieses 'patriotischen Kampfes' kündigte die Fidesz-nahe 'Partei der Unternehmer' an, die Steuerzahlungen für diese Regierung einzustellen und abzuwarten, bis die 'bürgerliche Seite' die Macht übernimmt. Zurzeit wird jede Nacht weiter demonstriert, man verschickt per sms und Emails die Adressen von identitätslosen, landesverräterischen Journalisten und anderen Kosmopoliten; manche sprechen bereits von einer Pogromstimmung.

Untersucht man die Strukturen, Intentionen und die Rhetorik dieser Mobilisierungsbewegung, fällt einem die Ähnlichkeit mit der völkischen Bewegung im wilhelminischen Kaiserreich und in der Weimarer Republik in Deutschland auf, die als Vorstufe zum Holocaust zu betrachten ist. Auch die heutige ungarische Bewegung ist ethnonationalistisch motiviert, sie bestimmt also die Identität des Landes als ethnisch homogenes Magyarentum, ja manchmal sogar als Rasse, und bestimmt die Zugehörigkeit zur Nation aufgrund des Blutes und der Abstammung, was mit einer Ablehnung des Westens, des Liberalismus und des Kapitalismus einhergeht. Doch die Bestimmung einer Nation als ethnische Abstammungsgesellschaft führt immer zu Ausgrenzung, was sich in Ungarn – wie damals in Deutschland – vor allem als Antisemitismus niederschlägt. Auch in Ungarn sind heute 'NGO'-s, also außerparlamentarische, so genannte Magyarentums-Organisationen, ein Teil der angesehenen Intelligenz, das HírTV und das öffentlich-rechtliche Kossuth Rádió dabei, für das "Erwecken des Bewusstseins für das Magyarentum" zu missionieren. Schutzvereine, die nationalkonservative Intelligenz und die christlichen Kirchen richten permanent Aufrufe an die Nation, in denen sie deren apokalyptischen Untergang prophezeien und warnen vor "magyarenfeindlichen Kräften", die hemmungslos daran arbeiteten, die Gesellschaft zu atomisieren. Sie sprechen von Entwurzelten, Seelenfremden, Internationalisten, Kosmopoliten, Kapitalisten und Kommunisten, über die Neoliberalen, die Macht der Medien, vom westlichen Kapital und der Konsumgesellschaft, von den heimischen Vasallen der Globalisierung, ja sogar manchmal von einer Tel Aviv – New York – Brüssel – Achse. Was sie damit meinen, ist eindeutig.

Es ist eben der völkisch-patriotische Ethnonationalismus, der dieser Bewegung die nötige Munition liefert. Sie begann kulturalistisch: Heute wird selten offen über rassistische Themen gesprochen, statt dessen von 'kulturell Anderen' oder auch von der eigenen 'kulturellen' oder 'nationalen Identität'. Doch die Grenzlinien gegenüber den jeweils 'Anderen' sind nicht weniger deutlich als früher.

Was sich hier anbahnt, ist eben nicht eine bloße demokratische Machtübernahme. Es geht um eine andere Wirklichkeit, um eine neue 'magyarische Landnahme', um eine völkisch-nationalistische 'Revolution' und damit um den Umsturz des demokratischen Systems.

hagalil.com 21-09-2006

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