Rechtsextremismus:
White Russian
In Russland häufen sich Angriffe auf Andersdenkende, Punks und Ausländer.
Vor kurzem wurde in St. Petersburg ein Antifa von Rechtsextremisten
erstochen.
von ute weinmann, moskau,
Jungle World
Die Antifaszene in St. Petersburg steht noch immer unter
Schock. Am 13. November machte sich eine Gruppe nach ihrer üblichen
sonntäglichen Aktion unter dem Motto »Food Not Bombs« im Zentrum der Stadt
auf in ein Café. Nur zwei der Antifas blieben einen kurzen Moment vor dem
Eingang zurück. Dort wurden sie von acht bis zwölf Skinheads angegriffen.
Wenige Minuten später starb der 20 Jahre alte Punkmusiker und Antifaschist
Timur Katscharawa an gezielten Messerstichen in den Hals. Sein Freund Maksim
Zgibaj musste über zwei Wochen lang im Krankenhaus behandelt werden.
Die Angreifer hatten die Gruppe offenbar seit geraumer Zeit verfolgt. Sie
kannten die Treffpunkte der Antifas genau und machten auch in der
Vergangenheit keinen Hehl aus ihrer Abneigung gegen die kleine
antifaschistische Szene in der Stadt. Freunde erinnern sich, dass Timur
Katscharawa bereits einmal mit Tränengas angegriffen wurde.
Nun laufen die Ermittlungen gegen seine Mörder. Die Verdächtigen sollen
zwischen 17 und 20 Jahren alt sein. In diversen Internetforen behaupteten
einzelne Neonazis, es habe sich um eine Racheaktion gehandelt, da angeblich
unlängst infolge einer Schlägerei mit Antifas ein Rechtsextremist getötet
worden sei. Doch niemand kann dies bestätigen.
Erwiesen ist hingegen, dass es in vielen Städten Russlands immer häufiger zu
brutalen Übergriffen von Skinheads auf Angehörige der Punkszene kommt. In
Wolzhskij bei Wolgograd gab es Ende Oktober nach einem Konzert eine
Massenschlägerei; die Punks konnten die angreifenden Skins zwar
zurückschlagen, doch die Bereitschaft zur physischen Auseinandersetzung ist
inzwischen Voraussetzung für einen Konzertbesuch geworden. Wer sich rein
äußerlich von der Masse unterscheidet oder sich in der Öffentlichkeit eine
vom nationalistischen Mainstream abweichende politische Meinung leistet,
geht in Russland derzeit ein immer größeres Risiko ein.
Bereits im Juni 2004 wurde der Wissenschaftler Nikolaj Girenko in seiner
Wohnung erschossen. Er trat als Sachverständiger in Prozessen gegen
rechtsextreme Organisationen auf. Im vergangenen Oktober blieb ein Moskauer
Antifaschist nur mit Glück am Leben, nachdem er in seinem Hauseingang von
Skins mit Eisenstangen niedergeprügelt worden war. Allein in diesem Jahr
wurde bereits ein Dutzend Personen Opfer rechter Gewalt. Meist greifen die
Rechtsextremen Menschen aus Mittel- oder Südostasien, aus afrikanischen oder
lateinamerikanischen Ländern an.
Vor rechtsextremer Gewalt geschützte Räume sind praktisch nicht vorhanden.
Studierende mit »nicht russischem« Aussehen können sich selbst auf dem
Campus der Moskauer Universität für Völkerfreundschaft nicht sicher fühlen.
Wer sich zur Wehr setzt, muss bisweilen sogar mit strafrechtlichen
Konsequenzen und einer verzerrten Berichterstattung rechnen. So wurde vor
kurzem ein Übergriff auf eine Gruppe afrikanischer Studenten in St.
Petersburg von einigen Medien kurzerhand in einen gezielten Angriff einer
mit Eisenstangen bewaffneten Gruppe von Ausländern auf russische Passanten
umdefiniert. Das russische Volk als ewiges Opfer fremdländischer
Machenschaften – dieses Weltbild hat sich in den vergangenen Jahren wieder
verbreitet.
Von dieser gesellschaftspolitischen Tendenz profitiert die organisierte
Rechte auf allen Ebenen. Allen voran sei hier die »Bewegung gegen illegale
Immigration« (DPNI) genannt. Sie wurde im Sommer 2002 gegründet und macht
durch zahlreiche Kundgebungen und ihre fremdenfeindlichen Kampagnen auf sich
aufmerksam. Im November erlangte sie eine größere Aufmerksamkeit in den
Medien. Seit diesem Jahr hat der 4. November den 7. November, den Tag der
Oktoberrevolution, als Feiertag abgelöst. Gehuldigt wird nun nicht mehr der
Revolution, sondern dem Umstand, dass an jenem Tag im Jahre 1612 angeblich
die »polnischen Eindringlinge« aus dem Kreml verjagt worden seien.
Der historische Zusammenhang ist fragwürdig. Aber eine Tatsache ist es, dass
am 4. November allein in Moskau etwa 3 000 Rechtsextreme unter der Führung
der DPNI und einer Reihe anderer dem rechten Spektrum zugehörigen Parteien
und Organisationen, wie etwa der »Nationalen Großmachtspartei« oder der
»Union orthodoxer Bürger«, aufmarschierten und dem Feiertag so eine
eindeutige Ausrichtung verliehen.
Erstmals trat der bislang eher im Hintergrund agierende Vorsitzende der
DPNI, Aleksandr Below, vor einem großem Publikum auf. Er heißt mit
bürgerlichem Namen eigentlich Potkin und war vormals Pressesekretär der
»Nationalpatriotischen Front Pamjat« von Dmitrj Wassiljew. Angespornt durch
die öffentliche Resonanz des Aufmarsches, gab Below vor wenigen Tagen der
Nachrichtenagentur Novyj Region ein Interview, in dem er behauptete, die
Demonstration sei von Wladislaw Surkow aus der Präsidialadministration von
Wladimir Putin in Auftrag gegeben worden. Nach Durchsicht der
Fernsehaufnahmen habe Surkow die Ausstrahlung jedoch verboten.
Below beklagt sich zudem über den Mangel an geeigneten Kadern und
präsentiert ein gangbares Lösungsmodell. Eine eigene Partei sei nicht
möglich und zudem unnötig. Die DPNI wolle stattdessen die Ressourcen der
Staatsmacht zur Infiltration von Machtstrukturen nutzen. Anhänger der
Bewegung seien in führenden Positionen sowohl in der Partei »Einiges
Russland« wie auch in der neuen Putinjugend »Naschi« (Unsere) vertreten. Bei
den Wahlen zur Moskauer Duma am 4. Dezember unterstützt sie einzelne
Kandidaten der Kommunistischen Partei Russlands und der Partei »Rodina«
(Heimat).
Angesichts des wachsenden rechten Einflusses in politischen Strukturen und
auf der Straße beginnt die liberale Öffentlichkeit zu protestieren. Für den
27. November, gleichzeitig zu geplanten Aktionen der DPNI, wurde in Moskau
eine antifaschistische Demonstration angemeldet – und prompt verboten. Die
Moskauer Bevölkerung werde die Störung des Straßenverkehrs nicht dulden,
hieß es lapidar aus der Stadtverwaltung. 250 Menschen versammelten sich
trotzdem, über 70 Personen nahm die Miliz vorübergehend fest.
hagalil.com
11-12-2005 |