Vergessenes Erbe:
Der Tod von Mr. Sicherheit
Vor zehn Jahren wurde Jitzhak Rabin ermordet
Von Igal Avidan
Der Tagesspiegel, 04.11.2005
Im Jahr 1994 wurde Premierminister Jitzhak Rabin zum
traditionellen Jahrestreffen mit hochrangigen Chefredakteuren im Pressehaus
in Tel Aviv eingeladen. "Er stieg aus dem Wagen und wir standen auf den
Treppen zur Straße und unterhielten uns kurz. Sogar einige Passanten
begrüßten Rabin", erinnert sich der damalige Gastgeber Yoram Peri. "Danach
gingen wir mit den beiden Bodyguards Rabins ins Haus." Am 4. November 1995
wurde Rabin von einem fanatischen Juden ermordet, der damit den
Friedensprozess torpedieren wollte.
Als vor kurzem Ariel Sharon zu Gast war, wurde "das
gesamte Gebiet für den Verkehr gesperrt", schreibt Peri in seinem neuen Buch
über das Vermächtnis Rabins. "Drei Lastwagen voller Kiesel wurden auf dem
Mittelstreifen vor dem Gebäude platziert, um die Detonation einer Autobombe
abzumildern, Metallplatten riegelten die Fenster ab. Sharon kam schließlich
durch den Noteingang." Diese Sicherheitsvorkehrungen sind jedoch die
einzigen Konsequenzen der Ermordung. Vor allem die Hetze einiger Rabbiner
gegen Rabin wurde weder untersucht noch bestraft. Kein Wunder, dass in
dieser Woche die Familie des Attentäters Jigal Amir eine neue Website
lancierte, auf der Rabin als "Verbrecher gegen das eigene Volk" dargestellt
wird, der vom eigenen Geheimdienst ermordet wurde. Gleichzeitig sammelt die
Familie Unterschriften zur Begnadigung Amirs.
Für diejenigen Israelis, die sich als jüdisch, religiös und national
betrachten, ist die Ermordung Rabins kein nationales Trauma. 54 Prozent der
Siedler meinen, dass Rabin durch seine Kompromisse selbst die Schuld für
seinen Tod trage. Das Scheitern des Friedensprozesses mit den
Palästinensern, den er eingeleitet hat, belastet ihr Andenken an Rabin
ebenso wie die Terroranschläge. Als unausgesprochener Kompromiss gilt daher,
Rabins zu gedenken, ohne daran zu erinnern, dass er wegen seiner
Friedenspolitik ermordet wurde. Betont wird stattdessen die militärische
Seite des "Mr. Sicherheit" – vom Unabhängigkeitskrieg 1948 bis zum
Sechs-Tage-Krieg von 1967. Zunehmend wird des Gedenkens selbst gedacht. Vor
allem in der jährlichen Medienberichterstattung, die sich über eine ganze
Woche erstreckt – vom weltlichen Datum bis zum nationalen Gedenktag nach dem
jüdischen Kalender.
Einig sind sich die Israelis nur in ihrer Angst vor politischer Gewalt. Ein
Drittel der Erwachsenen und die Mehrheit der Jugendlichen hält einen
weiteren Mordanschlag für sehr oder für ziemlich wahrscheinlich. Drei von
vier Israelis glauben, dass die Gesetze gegen Volksverhetzung nicht
angewandt werden. Eine effiziente Bekämpfung jüdischer Extremisten wird
durch die Vorstellung verhindert, die Israelis sollten angesichts des
palästinensischen Terrors und der iranischen Bedrohung unbedingt die innere
Einheit bewahren. Dass eine noch größere Gefahr von innen lauert, wollte man
in jener Nacht während der Friedenskundgebung in Tel Aviv, auf der Rabin
erschossen wurde, nicht wahrhaben.
Und die Ironie der Geschichte lässt den derzeit am meisten gefährdeten
Israeli als wirklichen Nachfolger Rabins erscheinen: Ariel Scharon. Dass der
eine an einen Dialog mit den Palästinensern, der andere an eine einseitige
Politik glaubte, haben die meisten Israelis längst vergessen.
Der Autor ist Deutschland-Korrespondent des "Jerusalem
Report". |