Gemischte Gefühle:
Amir Peretz rüttelt Israel durcheinander
Von Ulrich W. Sahm, Jerusalem
"Ich kenne hier ja kaum noch jemanden", meint befremdet
Chanan Kristall, Veteran unter den israelischen Parteiexperten. Doch in der
Halle Nr. 1 der Tel Aviver Ausstellungsgärten, wo sich die Arbeitspartei zu
ihrem ersten Parteitag unter der Führung des neuen Vorsitzenden Amir Peretz
eingefunden hatte, gab es weitere Überraschungen. "Mensch - Wirtschaft -
Frieden" lautetet ein neuer Slogan der Partei. Ein anderer Spruch an der
Wand verspricht: "Revolution". Als der kleinwüchsige Marrokaner den Saal
betrat, trugen junge Menschen in knallroten T-Shirts israelische Flaggen in
die Halle.
Unter Rabin war das kommunistische Rot durch das Blau der Nationalflagge
abgelöst worden. Nationalistischer Gesang hallte aus den Lautsprechern und
die Abgeordneten erhoben sich, um ihren neuen Führer gebührend zu empfangen.
"So etwas habe ich bisher nur bei der Likud-Partei erlebt", sagt Kristall
und reibt sich ungläubig die Augen. Und da erinnert er sich, dass der
Arbeiterführer Peretz auffällig oft den rechtsnationalistischen
Ministerpräsidenten Menachem Begin erwähnt. In auffälliger Weise versuche
Peretz die "Wende" Begins von 1977 nachzuahmen.
Der aus Polen stammende Begin löste 1977 die bis dahin regierende
sozialistische Gründerpartei ab. Den Wahlerfolg bescherten ihm orientalische
Juden. Sie fühlten sich von den elitären Sozialisten aus Europa
benachteiligt. Obgleich die Orientalen längst in Spitzenpositionen
aufgerückt sind, heute neben dem Staatspräsidenten und Verteidigungsminister
auch Generale stellen, glaubt Peretz, wieder mit teilweise rassistischen
Argumenten einer "Diskriminierung" orientalischer Juden Stimmen fangen zu
können. Angesichts der schon beschlossenen Neuwahlen, im Januar, März oder
Mai, rechnet Peretz mit Stimmen enttäuschter Likud-Wähler und der frommen
Schass-Partei. In seiner ersten Rede als Parteivorsitzender warf er Ariel
Scharon vor, "die Linie des Likud verlassen zu haben", wobei Peretz die
unsoziale Wirtschaftspolitik des Likud-Finanzministers Benjamin Netanjahu
geißelte und sich zum Volkstribun der Entwicklungsstädte und Arbeitslosen
kürte.
"Ich werde die Einwanderer, die Araberkinder, die Alten und die Frommen
erreichen und sie aus der Armut herausziehen", rief Peretz, nachdem er den
arabischen Abgeordneten schwere Vorwürfe entgegengeworfen hatte. Anstatt
sich um ihre Wählerschaft in Galiläa und im Negew zu kümmern, betreiben sie
- so Peretz - eine Zerstörung Israels mit dem "Rückkehrrecht der
palästinensischen Flüchtlinge". Und als wäre er schon israelischer
Ministerpräsident, sagte er staatsmännisch: "Ich bin für ein gestärktes
Jerusalem als ewige Hauptstadt Israels." Eine Herausgabe von Ost-Jerusalem
an die Palästinenser schloss er aus. Gleichwohl sprach er sich für einen
Palästinenserstaat aus, was freilich vor ihm schon Ariel Scharon getan hat.
Der linken Meretz-Partei warf er vor, sich für die sogenannte Genfer
Friedensinitiative stark zu machen. "Hier ist nicht Genf. Wir sind etwas
Anderes." Der Palästinenserführung warf er vor, alle Verträge und
Kompromisse zum Scheitern gebracht zu haben. "Als Friedensbefürworter Nummer
Eins betrachte ich Terror als unseren größten Feind." Ähnlich äußerte er
sich über den "Islamismus". Der palästinensische Informationsminister Nabil
Schaath reagierte: "Mit solchen Positionen Frieden zu erreichen, ist
undenkbar."
In der israelischen Öffentlichkeit wurde Peretz mit gemischten Gefühlen
aufgenommen. Die linksliberale Zeitung Haaretz warf ihm "diktatorische
Methoden" vor, als er am Tag nach seiner Wahl die Minister seiner Partei
zwang, ihr Rücktrittsschreiben zu unterzeichnen, um diese ultimativ Scharon
auf den Tisch zu legen, falls der Neuwahlen verweigern sollte. Doch Scharon,
77, ist im Vergleich zu dem 53 Jahre alten Gewerkschaftsführer politisch
erfahrener und ließ den stürmisch drängenden Peretz erst einmal gegen die
Wand rennen. So erlitt Peretz seine ersten taktischen Niederlagen, indem
Scharon sich von den Drohungen nicht beeindrucken ließ und die Aufforderung
nach sofortigem Ende der großen Koalition sowie den Ruf nach baldigen
Neuwahlen erst einmal auf die lange Bank schob. Indem Scharon am Sonntag
seinen Austritt aus dem Likud beschloss und am Montag beim Präsidenten
seinen Rücktritt einreichte, nahm Scharon das Heft in die Hand, anstatt sich
von Peretz drängeln zu lassen.
Auch als Gewerkschaftsführer ist Peretz umstritten. Mehrfach hat er mit
Streiks den Staat Israel lahmgelegt. Eine Schließung der Häfen bedeutete
Schäden in Millionenhöhe für die Volkswirtschaft. Tausende wurden arbeitslos
und ganze Wirtschaftszweige verloren wegen verpasster Liefertermine ihre
ausländischen Kunden. Doch Peretz bestand darauf, die Rechte der
Hafenarbeiter zu sichern, ehe die Hafenbehörde privatisiert wurde. Mit
durchschnittlichen Monatsgehältern von etwa 10.000 Euro (zehntausend) zählen
die Hafenarbeiter allerdings zur bestverdienenden Elite Israels.
Sein Markenzeichen, der mächtige Schnurrbart, hätte früher einem britischen
Korporal gut gestanden. Inzwischen hat Peretz sein Symbol der Männlichkeit
so gestutzt, dass er dem ehemaligen sowjetischen Diktator Stalin zum
verwechseln ähnlich sieht. "Suche den Unterschied", heißt es unter Bildern
von Stalin und Peretz, die in Israel per Email große Verbreitung finden.
© Ulrich W. Sahm / haGalil.com
hagalil.com 21-11-2005 |