Das Recht auf Freizügigkeit:
Migration als Chance
DOMINIC JOHNSON ist Redakteur bei der Berliner tageszeitung
Das Recht auf Freizügigkeit gehört zu den elementaren
Bürgerrechten. Staaten, die ihren Bürgerinnen und Bürgern die Ausreise
verweigern, werden zu Recht als Unrechtsstaaten gebrandmarkt. Aber in der
heutigen globalisierten Welt sind es oft nicht Ausreiseverbote, sondern
Einreiseverbote, die Menschen einschränken.
Es ist für Afrikaner heute fast unmöglich, legal nach Europa einzureisen
und dort Geld zu verdienen. Die Folge: Migration ist illegal und endet allzu
häufig in Havarien überfüllter Schlauchboote im Mittelmeer oder an den
Stacheldrahtzäunen europäischer Exklaven auf dem afrikanischen Kontinent.
Die Tragödie tausender Flüchtlinge im Norden Marokkos, die vor den
spanischen Exklaven Ceuta und Melilla ihr Leben riskieren, um über die
schwer bewachte Grenze zu gelangen, erinnert an das Drama der
Republikflüchtlinge aus der DDR. Und dass Marokko die Afrikaner inzwischen
in Militärlager sperrt, sie per Charterflug in ihre Heimatländer deportiert
oder einfach mit dem Lastwagen ein paar hundert Kilometer in die Wüste
bringt und dort ohne Versorgung ablädt, ist ein ungeheuerlicher Skandal, der
in einer zivilisierten Welt nicht geduldet werden dürfte. Doch die Kritik
aus Europa hält sich in Grenzen. Schließlich nehmen die marokkanischen
Behörden den EU-Grenz-wächtern ja nur die Drecksarbeit ab. Das ist eine
extrem kurz- sichtige Politik. Europa ist für seine ökonomische Zukunft auf
Immigration angewiesen – Afrika auf Emigration. Europa hat einen Mangel an
arbeitsfähigen jungen Leuten, Afrika einen Überschuss. Jeder afrikanische
Arbeiter in Europa schafft durch das an die Familie zurückgeschickte Geld
ein Mehrfaches an Arbeitsplätzen in seinem Heimatland – und kurbelt zugleich
durch seine Anwesenheit die Volkswirtschaft seines Gastlandes an.
Es ist ja gar nicht so, dass es keine Einwanderung nach Europa gäbe. Im Jahr
2004 wuchs die Bevölkerung der EU um 2,3 Millionen Menschen – die größte
Zunahme der Einwohnerzahl der betroffenen Staaten seit über 30 Jahren. 80
Prozent des Zuwachses sind auf Einwanderung zurückzuführen. Seit 1999 kommen
mehr Menschen in die EU als sie verlassen. Doch der Zuwachs ist sehr
ungleich verteilt. Spanien und Großbritannien liegen an der Spitze des
einwanderungsbedingten Bevölkerungszuwachses. Spanien hat in den
zurückliegenden fünf Jahren fast eine Million illegaler Einwanderer
legalisiert, Großbritannien als erstes EU-Land die Freizügigkeit für Bürger
der EU-Beitrittsstaaten Osteuropas eingeführt. Ist es purer Zufall, dass die
spanischen und britischen Volkswirtschaften sehr viel dynamischer sind als
die Deutschlands und Frankreichs? Oder dass jetzt die Ghettos der Pariser
Vorstädte brennen, in denen Einwandererkinder der dritten Generation genug
haben von einer Politik, die ihnen die volle Anerkennung als Franzosen
verwehrt und ihnen zugleich aber problemlosen Kontakt mit ihren
Heimatländern mittels immer schärferer Visa-Restriktionen verwehrt – während
die Städte Englands ruhig bleiben, wo es nicht weniger soziale Probleme gibt
und nach den Terroranschlägen vom Juli die politischen Spannungen viel
schärfer sind?
Gerade weil die Erfahrung lehrt, dass eine illiberale Einwanderungspolitik
größere Probleme birgt als eine freizügige, ist die Angst vor den neuen
Migranten aus Afrika komplett unverständlich. Hier werfen irrige Bilder von
Afrika als einem einzigen Katastrophenkontinent ihren Schatten: Öffnet man
einmal die Türen, kommen Dutzende von Millionen hungriger Flüchtlinge, die
die Methoden afrikanischer Bürgerkriege in die europäischen Städte tragen –
so lautet das unausgesprochene Klischee der Angstmacher. Doch diejenigen,
die aus Afrika nach Europa kommen wollen, um zu arbeiten, gehören zur
gebildeten Elite ihrer Länder. Sie können perfekt Französisch oder Englisch,
und sie tragen ihre Diplome durch die Wüste. Sie wären die idealen
Botschafter jener „Partnerschaft mit Afrika”, die von der EU-Kommission in
Brüssel oder Bundespräsident Horst Köhler zwar gern auf Tagungen und in
Gipfelerklärungen beschworen wird, aber zu deren Konkretisierung niemand
etwas tut.
Befristete Arbeitsvisa für mehrere Jahre, Vereinfachung der Reise zwischen
Arbeits- und Herkunftsland für alle (außer für Gesetzesbrecher) – Ideen
dafür, wie Afrikas Migrationsdruck Richtung Europa zum Nutzen beider Seiten
zu steuern wäre, gibt es genug. Es fehlt der politische Wille, sie
umzusetzen. Und es mangelt an politischer Phantasie, die globalisierte Welt
auch als eine Welt der ungeteilten Bürgerrechte zu begreifen.
www.perspektiven.verdi.de
|