Frankreich:
Feuer und Flamme für die Grande Nation
Die sozialen Missstände in den Pariser
Banlieues und anderen Städten entladen sich in einer heftigen Revolte.
Von Bernhard Schmid, Paris
Jungle World 45 v.
09.11.2005
Beißende Rauchschwaden, die von den ausgebrannten
Autokarosserien aufsteigen, ziehen durch die Hochhaussiedlung nahe der
Kathedrale von Saint Denis bei Paris. Der 50jährige Mann schaut auf die
schwelenden Trümmer seines Autos: "Drei Jahre lang haben ich diesen
Drecksjob als Hundeführer bei einer Securityfirma gemacht, und vor kurzem
konnte ich mir endlich diese alte Rostmühle kaufen. Warum zünden die nicht
die Autos der Reichen an? Oder greifen die Polizei an, wo sie doch mit der
ein Problem haben?"
Das meinen auch die Leute in der Warteschlange beim marokkanischen
Bäcker. "Sollen sie doch vor das Polizeikommissariat ziehen oder Politiker
angreifen. Aber warum die Autos armer Leute?" fragt eine arabische Frau.
Dagegen meint ein junger Mann mit Kapuzenpullover: "Doch, Monsieur, wir
müssen das tun. Sonst nimmt uns doch keiner ernst. Sehen Sie dieses Dokument
hier? Das ist mein französischer Ausweis. Damit bekommst du alle Rechte, hat
man mir gesagt, wenn du ihn einmal hast. Pah! Abitur habe ich gemacht, und 1
500 Lebensläufe abgegeben. Pech. Ich wohne im falschen Viertel und habe
einen falschen Namen, der arabisch klingt, da gibt es keinen Job. Wir
müssen, Monsieur, wir müssen so handeln!"
Die Nacht zum Montag war die elfte in Folge, in der es zu schweren Unruhen
kam. Waren sie zunächst auf den Großraum Paris beschränkt, so hatten sie
seit drei Tagen auch Vorstädte französischer Provinzmetropolen erreicht:
Evreux in der Normandie, das südfranzösische Avignon oder Liévin an der
belgischen Grenze, Nancy, Strasbourg, Toulouse und andere Städte. Überall
brennen Autos, werden Staatssymbole oder Einkaufszentren attackiert, in zwei
Städten trafen auch Molotow-Cocktails die Wände von Kirchen, in einer die
Wand einer Synagoge. Mancherorts flogen auch Brandsätze auf öffentliche
Verkehrsmittel. In Sevran nordöstlich von Paris erlitt eine 56jährige
gehbehinderte Frau schwere Verbrennungen, weil sie nicht rechtzeitig aus
einem Stadtbus aussteigen konnte, der von Jugendlichen angegriffen und
angezündet worden war. Die direkte Konfrontation mit den Ordnungskräften,
die in den ersten Tagen bestimmend waren, werden jedoch weniger. Die
Jugendlichen schlagen zu und verschwinden wieder.
In der Nacht zum Montag wurde eine neue Stufe der Eskalation erreicht: Zum
ersten Mal wurden Polizisten durch Schüsse mit scharfer Munition verletzt.
In der Nähe der riesigen Hochhaussiedlung La Grande Borgne in der Pariser
Trabantenstadt Grigny waren 60 Beamte der kasernierten Bereitschaftspolizei
CRS in einen Hinterhalt geraten, in dem sie von rund 200 jugendlichen
Angreifern mit Steinen und anderen Gegenständen beworfen wurden. Dabei
fielen Schüsse aus einem Jagdgewehr, die zwei Beamte schwer verletzten.
Bisher war der Einsatz von Feuerwaffen in den französischen Banlieues noch
die Ausnahme. Am Wochenende war auch das erste Todesopfer zu verzeichnen:
Ein 61jähriger Mann, der am Rand der Krawalle im Pariser Vorort Stains
zusammengeschlagen worden war, erlag seinen Verletzungen.
Klasse ohne Bewusstsein
Die Banlieue im heutigen Sinne entstand am Ende des 19. Jahrhunderts rund um
Paris. Von Revolutionsangst gepeinigt, teilten die französische Bourgeoisie
und die Staatsbürokratie den Raum auf: Die "gefährlichen Klassen", zu der
damals neben dem Subproletariat auch die Industriearbeiterschaft gezählt
wurde, wurden in einer Siedlungszone rund um die "eigentliche" Stadt
konzentriert. Auf diese Weise, so der zugrunde liegende Gedanke, habe man
sie besser unter Kontrolle, während man sich auf das übrige Frankreich als
"sicheres Hinterland" stützen könne. So entstanden die Ballungsräume rund um
Paris, Lille oder Lyon, die administrativ von den Kernstädten unterschieden
wurden. Die Pariser Banlieue ist heute fast so groß wie das Saarland. Fast
acht Millionen Menschen leben dort, wobei sich historische Stadtkerne und
Reihenhaussiedlungen mit Hochhaus- und Plattenbaughettos abwechseln. Ein
weitgehend abgeschotteter Raum, in dem die sozialen Verwerfungen, die
allenthalben zu beobachten sind, schneller und brutaler vonstatten gehen.
Einst bildeten die Pariser Trabantenstädte einen "roten Gürtel" um das
Zentrum, der größtenteils von der kommunistischen Partei regiert wurde.
Davon sind heute nur noch Restbestände übrig. Aber für die jüngeren
Generationen steht seit zwei, drei Jahrzehnten nicht länger die Fabrik im
Lebensmittelpunkt, sowohl die Fabrikdisziplin als auch die darüber
vermittelte Bindung der Klassensolidarität sind verloren gegangen.
Stattdessen herrscht eine hohe Arbeitslosigkeit. Wer keine Aussicht hat,
einen Job zu finden, strengt sich auch in der Schule kaum an, die Folge ist
ein schier undurchdringlicher Kreislauf: Perspektivlosigkeit, fehlende
Qualifizierung, Ausgrenzung, Verrohung im Alltag, Langeweile.
Einen Ersatz für das Gefühl der Klassenzugehörigkeit bieten die Jugendgangs,
aber auch "Identitätsangebote", wie sie etwa die Islamisten bereithalten. Da
es an alternativen kollektiven Orientierungen mangelt, erscheint deren reale
Bedeutung in den Banlieues allerdings größer, als sie in Wirklichkeit ist.
Und vor allem sind die wachsende religiöse Orientierung und der größer
werdende Einfluss der Islamisten nicht die Ursachen der gegenwärtigen Krise,
sondern nur eine von mehreren Folgeerscheinungen der sozialen
Zerrüttungsprozesse.
Daher wäre es falsch, in der Jugend der Banlieues eine Art
Jugendorganisation von al-Qaida zu sehen. Für die Jugendlichen in den
Trabantenstädten ist es viel wichtiger, "jemand sein zu können", sie suchen
nach Markenartikeln und anderen Statussymbolen und interessieren sich für
das "schnell verdiente Geld", – das in der Parallelökonomie der Banlieues,
dem Drogengeschäft und anderen Kriminalitätsformen, möglich scheint.
Charakteristisch für das Leben in den Vorstädten ist ansonsten ein hohes Maß
an Gewalt untereinander – und ein hohes Maß an Gewalt gegen Frauen. Erst
wenn ein spektakuläres oder als besonders skandalös empfundenes Ereignis
"von außen" in den Mikrokosmos der Trabantenstädte einbricht, stellen sich
viele Einwohner gemeinsam gegen den "äußeren Feind". In der Regel ist dies
die Polizei.
Die Jugendlichen nehmen den Staat als einen äußeren Aggressor wahr, der für
die ungerechte Verteilung von Ressourcen verantwortlich sei und gegen den
das "eigene Territorium" verteidigt werden müsse. Dabei ist in Wirklichkeit
das gesellschaftliche Gewaltverhältnis in seiner Totalität den Banlieues
genauso wenig äußerlich wie anderen Teilen des Staatsgebiets, und
gleichzeitig hängen sehr viele Einwohner der Trabantenstädte von den
sozialen Staatsfunktionen ab. Insofern haben viele Aktionen der nach
Ausdrucksformen einer Revolte suchenden Banlieuejugend auch
selbstzerstörerischen Charakter, da sie eine Infrastruktur treffen, die
gesellschaftlichen Bedürfnissen dient. In Clichy-sous-Bois etwa wurden in
den ersten Nächten auch ein Postamt und ein Kindergarten angegriffen.
Repressive Polizei und muslimische Hilfspolizei
Seit Jahrzehnten wurden und werden die Probleme in den Trabantenstädten
vorwiegend als sicherheitspolitische Frage und als Fall für die polizeiliche
Krisenverwaltung wahrgenommen. In den frühen neunziger Jahren erlebten die
Banlieues unter dem damaligen konservativen Innenminister Charles Pasqua
eine extrem repressive Phase. Innerhalb von nur zweieinhalb Jahren kamen
damals fast 200 Menschen bei polizeilichen Kontrollen, Zusammenstößen
zwischen Jugendlichen und Ordnungskräften oder in polizeilichem Gewahrsam
ums Leben. Präsent war die Polizei vor allem in Gestalt von ortsfremden und
militarisierten Einheiten, die in den Trabantenstädten nur in größerer Zahl
auftraten und nicht selten regelrechte Strafexpeditionen durchführten. Dazu
gehörten die kasernierte Bereitschaftspolizei CRS sowie die BAC, die
"Brigaden zur Kriminalitätsbekämpfung".
Die Sozialdemokraten und mit ihnen verbündete linke Parteien versuchten nach
ihrer Regierungsübernahme Mitte der neunziger Jahre, der violences urbaines,
der spezifischen Gewalt der Vorstädte, mit einer Form "intelligenter
Repression" beizukommen. Eine "einwohnernahe Polizei" wurde eingeführt, die
ein Minimum an Vertrauen zwischen Polizisten und Einwohnern schaffen sollte.
Die rein repressiv agierenden Polizeitruppen wurden reduziert und,
jedenfalls tagsüber, durch ziviler auftretende Polizisten in neuen Büros
innerhalb der Vorstädte ersetzt. In den Nächten und an den Wochenenden
freilich blieben die militarisierten Einheiten die Herren der Lage.
Mit dem Regierungswechsel im Mai 2002 und dem Amtsantritt von Innnenminister
Nicolas Sarkozy wurde das Experiment abrupt beendet. An vielen Orten, so
auch in Clichy-sous-Bois, wurde die "einwohnernahe Polizei" stark reduziert.
Sarkozy spottete, die Aufgabe seiner Polizisten sei es nicht, den
"Sozialarbeiter und Stadtteilanimateur" zu spielen. Die repressiven
Einheiten übernahmen wieder das Terrain.
In ihrem Bericht vom Februar dieses Jahres äußerte sich etwa die beim
Europarat eingerichtete Europäische Kommission gegen Rassismus und
Intoleranz besorgt über die starke Zunahme diskriminierender Kontrollen.
Eine entsprechende Anmerkung wurde im April im Jahresbericht von amnesty
international übernommen. Falls sich am Vorgehen der Polizei nichts ändere,
sei bald mit einer Zunahme der Spannungen in den Banlieues zu rechnen,
schrieb amnesty im April.
Der Tod zweier Jugendlicher am vorletzten Donnerstag in Clichy-sous-Bois,
die vor einer Personalienfeststellung durch Beamte der BAC geflohen und bei
einem Stromunfall ums Leben kamen, löste denn auch die gegenwärtigen Unruhen
aus. Die Berichte von Jugendlichen aus dieser Gruppe, die zu Zeugen des
Geschehens wurden, vermitteln eine Ahnung von ihrem Alltag: "Ich hatte
einfach keine Lust, vier Stunden für überhaupt nichts auf der Polizeiwache
zu verbringen", sagte der 16jährige Sofiane, der ebenfalls vor den Beamten
weglief. Selbst die konservative Tageszeitung Figaro kommt nicht umhin
festzustellen, dass die jugendlichen Bewohner der Banlieues bis zu zweimal
am Tag von der Polizei kontrolliert würden – zumeist grundlos. In den
Ereignissen in Clichy, in deren Schilderungen von Polizeischikanen, von der
Flucht und dem Hass, erkannten sich zahllose Jugendliche im ganzen Land
wieder. Das reichte, um einen Aufstand in den Banlieues auszulösen.
Sarkozy ergänzte seine Strategie um eine zweite Maßnahme, nämlich religiöse
und kommunitaristische Gruppen als "Ordnungsstifter" einzusetzen, ähnlich
wie in Großbritannien, wo eine solche Politik bereits unter Margaret
Thatcher begonnen wurde. Dazu gehörten insbesondere muslimische Verbände.
Diesen Vereinigungen, auch den reaktionär-kommunitaristischen und teilweise
islamistischen, kam dies entgegen. Besteht ihr zentrales ideologisches
Anliegen doch in einer gegebenenfalls autoritären "Moralisierung" der
Gesellschaft, die sie als Voraussetzungen für ein geordnetes Zusammenleben
ansehen. Für den Staat haben diese Verbände einen weiteren Vorzug, der sie
von Bürgerinitiativen oder Frauen- und Stadtteilgruppen unterscheidet: Sie
verlangen von der Regierung keine finanziellen Mittel, sondern wollen nur
ungehindert ihrer missionarischen Tätigkeit nachgehen können.
Auch nach den Ereignissen von Clichy-sous-Bois mobilisierte Sarkozy einige
muslimische Gruppierungen, die zur Befriedung aufriefen. In Moscheen wurde
für eine "Rückkehr zum Frieden und zur Ordnung" gepredigt, ein Imam brachte
den Vorschlag ins Gespräch, "ältere, respektable Herren" auszuwählen und
diese anstelle der Polizisten den Jugendlichen entgegen zu stellen. Die
Union islamischer Organisationen in Frankreich (UOIF) erließ am Sonntag gar
eine "Fatwa gegen Krawalle". Diesem Unterfangen nicht gerade zuträglich war
die Tränengasgranate der Polizei, die am vorletzten Sonntag in einer Moschee
in Clichy explodierte. Der als moderat bekannte Direktor der Pariser
Zentralmoschee und oberste Repräsentant des institutionalisierten Islam,
Dalil Boubakeur, richtete daraufhin eine eher verhaltene Kritik an den
Innenminister, worauf er wiederum von der reaktionären UOIF attackiert
wurde. Boubakeur habe in "unzulässiger Weise Politik betrieben". Zum
Hintergrund des Streits gehört jedoch, dass Boubakeur dem französischen
Präsidenten Jacques Chirac nahe steht, während die Führung der UOIF in den
vergangenen Jahren eine strategische Allianz mit Sarkozy eingegangen ist.
Ratlose Linke
Die Linke hat erhebliche Schwierigkeiten damit, eine Antwort auf die
Ereignisse zu finden. So sehr sie auch in der "sozialen Frage" die Ursache
für die Krise in den Banlieues erkennt, so wenig vermag sie es, sich mit den
konkreten Aktionen der Jugendlichen anzufreunden. Lediglich die autonomen
Gruppen, die in der französischen Linken jedoch sehr marginal sind, begrüßen
das Vorgehen der Banlieuejugend nahezu uneingeschränkt. Soweit
Meinungsäußerungen von dieser Seite einholbar sind, wird in den Riots ein
Aufbegehren des Subproletariats erblickt, das ein Vorbote der sozialen
Revolution sein soll. Dies dürfte, gelinde formuliert, reichlich
optimistisch sein.
Ratloser ist die staatstragende Linke. Erst nach mehreren Tagen konnten sich
die Sozialdemokraten zu einer eindeutigen Äußerung durchringen. Seitdem
beklagen sie die "Abkehr vom Prinzip der einwohnernahen Polizei", die nach
dem Regierungswechsel vollzogen wurde. Zwar kritisieren führende
sozialistische Politiker Sarkozy, der mit seinem ruppigen Umgangston die
Jugendlichen provoziert habe. Anders als beispielsweise die Grünen und die
KP fordern sie aber nicht den Rücktritt des Innenministers, weil eine solche
"riskante Operation" die Jugendlichen ermuntern könne. Die KP wiederum
betont, dass in den Banlieues weniger polizeiliche und mehr sozialstaatliche
Maßnahmen notwendig seien. Am Freitagabend demonstrierten ein paar hundert
Parteimitglieder, darunter viele Bürgermeister aus den Trabantenstädten, vor
dem Amtssitz des Premierministers und verurteilten nicht nur "die Gewalt",
sondern verlangten mehr Geld für die dringendsten sozialen Aufgaben und
Bedürfnisse in den Banlieues.
Der größere Teil der radikalen Linken möchte jedoch das Problem weder aus
der staatlichen Perspektive betrachten noch die Aktionsformen der
Banlieuejugend bejubeln. Alain Krivine, einer der Köpfe des Pariser Mai 1968
und bis vor kurzem Wortführer der trotzkistischen LCR, spricht sowohl von
einer "Revolte" als auch von "Gewalttaten", die in der Gesellschaft
"Besorgnis" hervorriefen. Der restlichen Linken schlägt die LCR vor, eine
gemeinsame Großdemonstration in Form eines "friedlichen Marschs aus den
Trabantenstädten" ins Pariser Zentrum durchzuführen, um den Rücktritt von
Innenminister Sarkozy zu fordern. Dafür gibt es noch keine konkreten Pläne,
aber in dieser Woche wollen die LCR und andere linke und gewerkschaftliche
Kreise vor den Rathäusern der Trabantenstädte demonstrieren.
Die Revolte fällt keineswegs vom Himmel. Aber mehr als ein kurzfristiger
Abbau des angestauten sozialen Frusts ist sie nicht, an den Ursachen der
Misere in den Trabantenstädten wird sie wenig ändern. Wenn die Unruhen
abflauen, dürften unterschiedliche Akteure, von Stadtteilgruppen bis zu
muslimischen Verbänden, etwas bessere Ausgangsbedingungen haben, um wieder
mehr Förderungen zu erhalten, nachdem die jetzige Regierung sie im letzten
Jahr drastisch gekürzt hatte. Auch dies dürfte die ohnmächtige Wut in den
Banlieues nicht lange besänftigen.
hagalil.com
10-11-2005 |