MEMRI Special Dispatch – 6.
Oktober 2005
Blick nach vorne:
Wie kann man am besten gegen Terrorismus vorgehen?
Im folgenden dokumentieren
wir zwei Kommentare, die sich mit der Frage beschäftigen, wie am besten
gegen Terrorismus vorzugehen sei. In der panarabischen Zeitung Al-Sharq
Al-Awsat konstatiert Muna al-Tahawi [Mona Eltahawy] etwas provokativ,
dass der 11. September durchaus 'gut für die Muslime war'. Obwohl ihr
nicht daran gelegen sei, die negativen Folgen für Muslime unter den
Tisch zu kehren, beharrt sie doch darauf, dass erst durch die Anschläge
auf das World Trade Center in der islamischen Welt die richtigen Fragen
gestellt würden. Dadurch werde endlich der äußerst notwendige Blick nach
vorne ermöglicht, den eine Fixierung auf die Vergangenheit allzu oft
verstellt habe. [1]
Amin Huwaidi hingegen hält eine
Zusammenarbeit aller Staaten für die wichtigste Voraussetzung im Kampf
gegen den Terrorismus. Diese werde aber durch Uneinigkeit und durch die
‚dumme Politik’ Bushs und Blairs verhindert. Der Kommentar Huwaidis
erschien in der linken Oppositionszeitung Al-Ahaly aus Ägypten [2]:
Al-Sharq Al-Awsat: "Der
andere Weg nach dem 11. September"
"Usama Bin Laden hat der islamischen Welt etwas Gutes getan. Ja, ich meine
das ernst, [obwohl] ich keine extremistische Muslimin bin, die einen
angeblichen Sieg über Dar al-Harb [3] feiert. Usama Bin Laden und seine
terroristischen Gruppierungen haben uns Gutes getan, weil sie uns
erschüttert haben. Sie haben uns dazu gebracht, uns aus einer defensiven
und ablehnenden Haltung zu befreien, die jahrzehntelang den Zustand
unserer Religion und ihre Entwicklung überschattet hat. Natürlich war
das nicht ihr Ziel. Sie glaubten, der Anblick der einstürzenden Twin
Towers würde andere Jihad-Kämpfer veranlassen, dieses Blutbad zu
überbieten oder ihm wenigstens gleichzukommen.
Einige haben das versucht, aber ein junger Muslim, den ich neulich traf,
hat mich davon überzeugt, dass der 11. September Menschen auch in eine
völlig entgegen gesetzte Richtung gelenkt hat. Vor zwei Jahren ging Fuad
Jihad, damals 19 Jahre alt, in ein Lager für afghanische Flüchtlinge. Er
wollte sich nicht der Al-Qaida anschließen, sondern mit afghanischen
Flüchtlingen sprechen, die den Führer von Al-Qaida gesehen hatten. Fuad
sagte zu mir: 'Meine Aufgabe liegt darin, zu beweisen, dass es Usama Bin
Laden gibt'. Zu diesem Zweck machte er ein Video von den Flüchtlingen,
die ihre Geschichten über Bin Laden erzählen. Nach seiner Rückkehr nach
Ägypten mietete er auf eigene Kosten die nötigen Geräte, um seinen
ägyptischen Mitbürgern sein Material zu zeigen.
Fuad hatte die Verschwörungstheorien satt, die Bin Laden als amerikanische
Erfindung darstellen. Selbst nachdem Al-Qaida ein Video verbreitet
hatte, in dem sie die Anschläge begrüßt, dachten manche Muslime, Bin
Laden sei ein amerikanischer Agent, der die Videos in einem
amerikanischen Studio mit einem Poster von den afghanischen Bergen im
Hintergrund herstellte.
Die Existenz Bin Ladens zu beweisen war Fuads Methode, um der islamischen
Welt einen Spiegel vorzuhalten: Sie sollte sehen und sich das lange
Verweigerte endlich eingestehen. Er war zuerst in den Iran gereist, um
die Auswirkungen des politischen Islam auf dieses Land zu untersuchen.
Fuad hörte Berichte aus erster Hand von Iranern und Afghanen im
Flüchtlingslager. Er erklärt: 'Mit dem 11. September begannen die
Fragen: Ist das der Islam? Sind sie [die Attentäter] Muslime? Steht das
im Koran? Was hat zum 11. September geführt?'
Wenn ich sage, dass der 11. September gut für die Muslime war, dann
vergesse ich dabei nicht die Einschränkung unserer bürgerlichen
Freiheiten in den Vereinigten Staaten und [auch nicht] die tausenden
muslimischen Männer, die aufgrund von kleinen Verstößen gegen das
Einwanderungsgesetz festgenommen oder abgeschoben wurden. [Ich vergesse
auch nicht] die ansteigende Islamophobie. Aber ich schaue jenseits all
dieser Tragödien auf die Bedeutung von Fuads Fragen. Wir alle kennen die
jungen Leute, die anfingen, nach dem Heiligen Krieg zu suchen; aber wir
wissen nicht viel über die jungen muslimischen Männer und Frauen, die
den entgegen gesetzten Weg mit dem Entschluss eingeschlagen haben, ihre
eigenen Antworten zu finden.
Man muss diese jungen Männer und Frauen, die die entgegen gesetzte
Richtung gewählt haben, feiern – nicht nur für ihre erfrischende
Individualität, sondern für ihren Mut, die alten, hinfälligen Denkweisen
herauszufordern, und für ihre Bemühungen, Fragen zu stellen. Denn wenn
wir keine Fragen stellen, werden wir immer in einer Sackgasse bleiben.
Warum befinden wir uns in einer Sackgasse? Mit der Antwort auf diese Frage
könnte man Dutzende Bücher füllen. Aber ich habe eine kurze Antwort, auf
die ich vor ein paar Tagen stieß, als ich zufällig einen anderen jungen
Mann traf, der einen völlig anderen Standpunkt als Fuad zu haben
scheint. Es handelt sich um einen jungen Taxifahrer, der mich neulich
nach Hause brachte. Als ich in sein Auto stieg, merkte ich, dass er die
fast perfekte Karikatur eines Fundamentalisten war. Er trug eine weiße
Mütze und eine weiße Dschalabija, die sicherlich bis zu seinen Waden
reichte. Und natürlich lauschte er einer Predigt aus dem
Kassettenspieler. Der wütende Imam auf der Kassette erzählte natürlich
von einer Schlacht in der islamischen Geschichte. Je lauter seine Stimme
wurde, umso besser konnte ich verstehen, warum wir in einer Sackgasse
sind. Es war nicht das erste Mal, dass die Geschichte dieser Schlacht
erzählt wurde, und zweifellos wird sie noch ein ums andere Mal erzählt
werden. Das ist unser Problem: wir kleben an der Vergangenheit und sind
unfähig, nach vorn zu blicken. Das liegt an den Geschichten, die wir uns
ständig gegenseitig über die Vergangenheit erzählen. Wie in einem
Theaterstück beendete der wütende Prediger seine Predigt [gerade dann],
als ich bezahlte und ausstieg. Zum Schluss protestierte er dagegen, dass
die Regierung gerade solche Kassetten verbieten wolle. Ich wünschte, er
hätte am Ende seiner Predigt die Hörer dazu aufgefordert, nach vorn und
nicht zurück zu blicken. Wir überfrachten unsere Jugendlichen mit
Geschichten über viele wahre und erfundene Siege in der Vergangenheit,
so dass es ihnen schwer fällt, nach vorn zu blicken.
Die Anschläge des 11. September und die folgenden Anschläge in Europa und
im Mittleren Osten haben uns direkt in die Gegenwart versetzt und uns
gezwungen, nach vorn zu blicken. Sie haben Gedanken wie "Heiliger Krieg"
[jihad] und "Ungläubiger" [kafir], die lange Zeit in der islamischen
Welt nur wenig in Frage gestellt wurden, schrecklich [wirksam] gemacht.
Gegen diese Gedanken vorzugehen nutzt allen unmittelbar, nicht nur der
islamischen Welt. Denn die Fragen und die Diskussionen, die der 11.
September ausgelöst hat, machten die von Präsident Bush und Bin Laden
verwendete [Gegenüberstellung von] "wir" und "sie" nutzlos. Wir sind
alle Opfer des Terrorismus, im Osten wie im Westen, Muslime und
Nichtmuslime. Je mehr Muslime Fragen stellen, sich auf Diskussionen
einlassen und uns den Spiegel vorhalten, desto mehr werden wir von
jungen Leuten wie Fuad hören, die nicht den Weg des blutigen Jihad
einschlagen, sondern ihre eigenen Wege finden, um der islamischen Welt
die Wahrheit zu sagen."
Al-Ahaly: "Der Terror !!!"
"Der Terrorismus hat politische Ziele. Die Annahme, er bezwecke nur
Verderb und Zerstörung ist falsch und ein Trugschluss. Es kann nicht
sein, dass sich ein Mensch selbst in die Luft sprengt, nur um andere zu
töten. Es kann nicht sein, dass jemand durch ein mit Sprengstoff
präpariertes Fahrzeug ein Gebäude in die Luft sprengt und sich dabei
selbst in der Luft zerfetzen lässt. Daher ist die alleinige Anwendung
von Gegengewalt gegen den Terror, also allein mit Panzern und
Kampfflugzeugen [eher] ein schwaches und ineffektives Mittel.
Aus diesem Grund triumphiert der globale Terrorismus bis zum heutigen Tag
immer noch weltweit. Das beweisen Ereignisse an vielen Orten - von
Washington bis London, von der Sinai-Halbinsel bis nach Japan und ebenso
in Tschetschenien. Verwunderlich ist, dass niemand weder den Ort oder
die Anführerschaft noch die Struktur oder die Organisationen des
Terrorismus [klar] bestimmen kann. Dennoch schreien Präsidenten,
Minister und Sicherheitsleute: 'Der Terror, der Terror, der Terror.'
Alle haben Angst und sind in Habachtstellung. Alle erwarten den Terror,
der sie mitten im eigenen Haus treffen wird, wenn ein Terrorist andere
und sich selbst tötet. Danach bricht das Chaos aus und offizielle
Erklärungen verkünden die Verhaftung der Terrorzellen. Man wartet
[vergeblich] auf Ergebnisse, aber nichts wird geschehen. Es wird sich
herausstellen, dass man doch nur ins Leere gegriffen hat.
Der Kampf zwischen dem Terrorismus und den Staaten [dieser Welt] ist zu
einer globalen Angelegenheit geworden. Die gemeinsame Gefahr müsste
gemeinsam bekämpft werden. Aber jeder Staat geht allein gegen die
gemeinsame Bedrohung vor, während die anderen abwarten [bis sie der
Terror erreicht]. Wird je ein weltweites [gemeinsames] Vorgehen gegen
den globalen Terror möglich sein?
Niemals! Bei Gott, es ist unmöglich, da es [immer noch] keine geteilte
Ansicht darüber gibt, wer Feind und wer Freund ist. Wer für die einen
Feind ist, ist für die anderen enger Freund und umgekehrt. Und wie
sollte man gemeinsam agieren, wenn das Vorgehen gegen den Terrorismus
[und der Terrorismus] an sich nicht klar definiert ist?
So laufen die Bemühungen ins Leere, während der Terror [uns] alle auslacht
und verhöhnt. Dabei holt er zu seinem [nächsten] Schlag aus, um dann
wieder kurzfristig zu verschwinden. [...]
Und trotz alledem beharrt Bush auf seiner dummen Politik. Der englische
Premier, dessen Namen ich vergessen habe, folgt der Politik seines
Bruders Bush blindlings. Jeder bleibt unumstößlich bei seiner eigenen
Politik, so dass der Terror problemlos weitermachen kann. [Da stellt
sich die Frage:] Wer von beiden [der Terrorismus auf der einen und die
gegen ihn kämpfenden Staaten auf der anderen Seite] wird die Politik des
anderen ändern können? Vielleicht wissen es ja einige von Euch. Ich weiß
es jedenfalls nicht."
[1] Al-Sharq Al-Awsat, 27. September 2005,
http://www.asharqalawsat.com/leader.asp?section=3&article=325442&issue=9800
[2] Al-Ahaly, 21. September 2005,
http://www.al-ahaly.com/articles/05-09-21/1246-col-img.htm
[3] Mit dem Begriff Dar al-Harb [Haus des Krieges] werden alle nicht unter
islamischer Herrschaft stehenden Gebiete bezeichnet, sie stehen im
Gegensatz zu den Gebieten unter islamischer Herrschaft Dar al-Islam
[Haus des Islam]. Diese Termini tauchen heute hauptsächlich im
islamistischen Diskurs auf.
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