Baltikum:
Leben nach dem Ende
Trotz vieler Schwierigkeiten versuchen die
jüdischen Gemeinden im Baltikum, den religiösen Alltag wieder zu beleben.
Von Franziska Bruder
Jungle World 41 v.
12.10.2005
Das Wüten der Deutschen auf dem Baltikum überlebten nur
wenige Juden. "In Estland waren die Überlebenden praktisch an einer Hand
abzählbar", sagt Rabbiner Rafail Belcykov. Doch jetzt werde in Tallinn eine
"ultramoderne" Synagoge aufgebaut, betont er stolz, mit Läden für koschere
Lebensmittel, mit einer Sauna und einem jüdischen Altersheim. Am 19.
September wurde in der estnischen Hauptstadt Tallinn der Grundstein für den
Synagogenneubau gelegt – ein bedeutsames und symbolisches Datum: Am gleichen
Tag im Jahr 1944 hatte sich die deutsche Wehrmacht aus dem Land
zurückgezogen. Zuvor aber wurden im Konzentrationslager Klooga bei Tallinn
noch die dort verbliebenen 2 000 Gefangenen ermordet und auf großen
Scheiterhaufen verbrannt.
Rund 3 500 Juden leben heute wieder in dem Land mit den 1,3 Millionen
Einwohnern. Die jüdischen Gemeinden im Baltikum verwenden viel Energie
darauf, den bis in die neunziger Jahre weitgehend reglementierten religiösen
Alltag wieder zu beleben.
Angesprochen auf die Kontroversen um das Denkmal, das einen estnischen
Soldaten in einer deutschen SS-Uniform zeigt, betonen Vertreter der
jüdischen Gemeinde in Tallinn, dass sie sich dagegen engagiert hätten.
Belcykov sagt jedoch auch, dass natürlich nicht alle Esten Faschisten
gewesen seien, da auch viele zwangsrekrutiert wurden. Auch das estnische
Volk habe unter den verschiedenen Besatzungsregimes gelitten.
In den baltischen Staaten wird die geschichtspolitische Auseinandersetzung
von der Kritik an der sowjetischen Besatzung dominiert. Im Mai, zu den
Feierlichkeiten zum 60. Jahrestag der Befreiung vom Nationalsozialismus in
Moskau, hatte diese Haltung zu nachhaltigen Verstimmungen in Russland
geführt. Vertreter der jüdischen Gemeinde in Tallinn äußern sich zu dem
Thema zurückhaltend, man wolle keinen Streit über die Geschichte, heißt es.
Das Wichtigste sei, dass die jetzige estnische Regierung keine
antisemitische Politik verfolge.
Auf die Frage nach dem aktuellen Antisemitismus erhält man in den jüdischen
Gemeinden im Baltikum zurückhaltende Antworten. Bezeichnend für Litauen ist
wohl, dass die zweitgrößte Zeitung Respublika im vergangenen Jahr eine
antisemitische und homophobe Artikelserie lancieren konnte. Der Tenor der
Texte lautete, Homosexuelle und Juden regierten die Welt. Die jüdische
Gemeinde klagte gegen die Veröffentlichung. Der Verleger wurde daraufhin zu
einer geringen Geldstrafe verurteilt. Insgesamt, erklärt eine Frau aus der
jüdischen Gemeinde im litauischen Kaunas, beobachte man seit den neunziger
Jahren einen Anstieg antisemitischer Vorfälle. Auf die Frage, woran dies
ihrer Meinung nach liegen könnte, antwortet sie: "Wir leben nun in einer
Demokratie. Da können derartige Meinungen frei geäußert werden." Dennoch
wünscht sich niemand die alten Ostblock-Zeiten zurück.
In Litauen überlebten gerade einmal fünf Prozent der jüdischen Bevölkerung
den Vernichtungszug der Nazis. In der Hauptstadt Vilnius, wo heute 600 000
Menschen leben, ist die Diskrepanz zwischen der früher international
bedeutsamen jüdischen Community und der inzwischen marginalisierten Gemeinde
am deutlichsten spürbar. Vor dem Einmarsch der Wehrmacht im Juni 1941 waren
dort etwa 30 Prozent der Bevölkerung Juden. 70 000 von ihnen wurden während
der deutschen Besatzung ermordet. Heute zählt die jüdische Gemeinde in
Vilnius gerade einmal 3 500 Mitglieder. Viele von ihnen kehrten erst nach
der staatlichen Unabhängigkeit zurück. Einige lebten bis dahin in der
Sowjetunion, wohin sie sich vor den Nazis gerettet hatten.
In allen drei Ländern wurden während der ersten sowjetischen Besatzung
1940/41 jüdische Organisationen und Institutionen geschlossen. Von den
Deportationen, die dort kurz vor dem deutschen Einmarsch im Juni 1941
stattfanden, waren auch viele Juden betroffen. In Litauen waren nach
Informationen des Jüdischen Museums 15 Prozent aller Deportierten Juden.
In der zweiten sowjetischen Periode ab Sommer 1944 mussten die Überlebenden
der Shoah nicht nur das Trauma des Holocaust bewältigen, sondern sie waren
oftmals mit erneuten Deportationen konfrontiert. Anlässe hierfür konnten
eine deutsche Abstammung, angeblicher Staatsverrat oder Kontakt mit
Ausländern sein. Der Holocaust war in der Sowjetunion ein Tabuthema, eine
politisch-historische Leerstelle, die von den jüdischen Gemeinden im
Baltikum seit Anfang der neunziger Jahre intensiv erforscht wird.
Inese Runce, Mitarbeiterin des Museums "Geschichte der lettischen Juden in
Lettland" in Riga, legt Wert darauf zu betonen, dass die Letten sowohl von
den Nationalsozialisten als auch von der Roten Armee gezwungen wurden, in
militärische Formationen einzutreten. "Die Auseinandersetzung über die
Kollaboration braucht ihre Zeit, nicht zuletzt auch deshalb, weil in der
sowjetischen Zeit keine Möglichkeit bestanden hat, darüber offen zu
sprechen", sagt Runce. Sie fügt hinzu, sie habe auch bei deutschen Gruppen
die Erfahrung gemacht, dass diese die Kollaboration überbetonen würden und
behauptet hätten, dass "alle Verbrechen, die in dem Museum dokumentiert
sind, von Letten und nicht von Deutschen begangen worden seien".
Von den 2,3 Millionen Menschen, die heute in Lettland leben, sind 9 000
Juden. Das erste Denkmal in Riga zur Erinnerung an die ermordeten Juden war
ein Gedenkstein für die am 4. Juli 1941 niedergebrannte Choral-Synagoge. Er
wurde im Jahr 1991 auf Initiative jüdischer Überlebender aufgestellt. Vier
Jahre später wurde an derselben Stelle ein Memorial errichtet, das die
Ruinen der Synagoge nachbildet.
Das Gelände des ehemaligen jüdischen Friedhofs in Riga wurde während der
Sowjetzeit eingeebnet und zum "Park der sowjetischen Brigaden"
umfunktioniert. Die Reste des jüdischen Friedhofs in Vilnius wurden
ebenfalls in den sechziger Jahren zerstört. Auf dem Gelände wurde ein
Sportpalast gebaut.
Nach wie vor ist die Mehrheitsgesellschaft in den drei Ländern der Ansicht,
immer und ausschließlich Opfer der verschiedenen Besatzungsmächte gewesen zu
sein. Als sich im Jahr 1995 der damalige litauische Präsident Algirdas
Brazauskas vor der Knesseth für die Kollaboration von Litauern mit den Nazis
entschuldigte, löste dies eine heftige innenpolitische Debatte aus. Wohl aus
diesem Grunde sind sich jüdischen Gemeinden in Litauen und Lettland einig,
dass Menschen, die Juden während der deutschen Besatzung geholfen haben, in
Zukunft besonders geehrt werden sollen. In Riga ist ein Gedenkstein für die
Retter von Juden in Planung.
In allen baltischen Staaten ist die soziale Situation der überwiegend sehr
alten Gemeindemitglieder kritisch. Sie sind oft so arm, dass sie sich kaum
die nötigen Medikamente leisten können. Für die Deutschen, empört sich ein
Mitglied der jüdischen Gemeinde in Tallinn, seien sie immer noch
"Untermenschen", man wolle ihnen nicht das Geld geben, das ihnen als
Entschädigung für die erlittenen Grausamkeiten zustehe. Die Überlebenden
finanzieren ihr Leben größtenteils mit Geldern der Jewish Claims Conference,
darüber hinaus mit Hilfe privater deutscher Sponsoren. Ohne diese privaten
Initiativen wäre ihre Situation noch erbärmlicher.
hagalil.com
16-10-2005 |