Simon Wiesenthal s"l:
Eine einzigartige moralische Instanz
Kommentar von Claudia Brunner, Ha'aretz, 23.09.2005
Übersetzung Daniela Marcus
Das Schweigen der Familie und die Ängste hatten mich
geärgert. Bücher und Artikel über Alois Brunner konnten mir nicht mehr
erzählen als ich nicht bereits aus Nachforschungen wusste. Und doch konnte
ich noch nicht die gesamte Bedeutung dessen aufnehmen, dass ich mit einem
engen Mitglied des Eichmann-Mitarbeiterstabs verwandt war.
Nachdem ich realisiert hatte, dass ich diesen Zweig meiner
Familie nicht einfach abhaken konnte, sondern irgendwie damit umzugehen
hatte, entschied ich mich im Jahr 1999 dazu, denjenigen Mann zu
kontaktieren, den Österreicher gemeinhin als "Nazijäger" bezeichneten.
Dieser Ausdruck erschien mir schon immer nicht nur unangemessen, sondern
auch unverschämt. Wenn Simon Wiesenthal über Jahrzehnte hinweg
Naziverbrecher "gejagt" hätte, würde das nicht andeuten, dass er in einer
Position war, in der er den Naziverbrechern Schaden zufügte? Und wäre das
nicht eine höchst zynische Umkehrung der Tatsachen? Wenn ja, würde das nicht
der Stimmung vieler Österreicher bezüglich ihrer eigenen Verwicklung in die
Shoah nachkommen?
Simon Wiesenthal war überrascht, meinen Namen am Telefon zu
hören. Doch er hieß mich in seinem Wiener Büro angemessen und freundlich
willkommen. Ich hatte keine Vorstellung davon, wie ein "Nazijäger"
auszusehen habe. Doch er machte nicht den Eindruck, als jage er etwas oder
jemanden. Er sah eher wie jemand aus, der eine klare Mission hat und sich
dieser auf eine Art und Weise hingibt, die ihm angemessen erscheint. Und zu
dieser Haltung gehörte, dass er weder mich noch sonst jemanden
verantwortlich machte, sondern nur die Täter.
Die Person, die ein halbes Leben lang versuchte,
Naziverbrecher ausfindig zu machen, hatte beinahe das gleiche Alter wie
Alois Brunner – der Mann, der im Jahr 1985 mein Großonkel wurde. Damals
erschien das "Familienphantom", wie ich ihn später nannte, auf dem
Titelblatt einer deutschen Zeitung. Die Geschichte über einen Mann, der
sowohl für den Tod von 130.000 Menschen verantwortlich wie Bruder meines
Großvaters war, schockierte mich damals, im Alter von 13 Jahren, ziemlich.
Das Treffen mit Simon Wiesenthal war nur ein kurzes, da wir
die gleichen Erwartungen aneinander hatten. Es stellte sich jedoch heraus,
dass diese nicht erfüllt werden konnten. Wir hofften beide, mehr
Informationen über Alois Brunners Leben nach 1945 zu erhalten und die Frage
zu klären, die ich mir nun schon seit vielen Jahren stelle: Ist er noch am
Leben? Wenn ja, wo lebt er? Simon Wiesenthal konnte die Frage damals nicht
beantworten. Und ich kann sie heute nicht beantworten, da ich nicht mehr
Informationen besitze als jeder Geheimdienst auf der Welt, der für die
Auslieferung von Alois Brunner gearbeitet haben könnte – oder für seinen
ruhigen Wohnsitz in Syrien.
Wahrscheinlich war dieses kurze Treffen nicht wichtig für
Herrn Wiesenthal. Doch für mich war es das ganz sicher. Bedeutungsvoller als
jede Anekdote oder jedes Detail über den Kriegsverbrecher, der mein
Verwandter war, war die Gelegenheit, mich selbst nicht nur mit Fakten und
Zahlen zu konfrontieren, sondern auch mit einem Mann wie Simon Wiesenthal –
eine einzigartige moralische Instanz inmitten eines Landes, das zu lange
bequem mit dem Mythos gelebt hat, Hitlers erstes Opfer gewesen zu sein,
während es gleichzeitig großzügig vergessen hat, dass es auch zahlreiche
Täter hervorgebracht hat.
Vielleicht fühlen sich manche Leser unwohl, weil eine
Großnichte von Alois Brunner in einer israelischen Zeitung anlässlich des
Todes von Simon Wiesenthal schreibt. Doch da ich von der Zeitung gebeten
wurde, dies zu tun, möchte ich dieser beeindruckenden Persönlichkeit Simon
Wiesenthal auch öffentlich für seine Beharrlichkeit bei der Suche nach
Kriegsverbrechern und Nazitätern wie Alois Brunner danken.
Ich möchte dies nicht nur als Verwandte als einer der
Kriminellen tun, die Herr Wiesenthal versuchte, vor Gericht zu bringen,
sondern auch als österreichische Bürgerin, die sich oft darüber gewundert
hat, warum er sich mit diesen Fällen beschäftigte anstatt offizieller
Organe. Was er tat, war nicht nur aus juristischer und politischer Sicht
notwendig. Seine bloße Anwesenheit und Intervention stellte auch einen
äußerst wichtigen Beitrag zur öffentlichen Diskussion und zur persönlichen
Betroffenheit dar.
Simon Wiesenthal verbrachte sein ganzes Leben mit der Suche
nach Männern wie Alois Brunner, während eine Menge Leute in Österreich und
im Ausland sehr zufrieden mit deren Abwesenheit waren – wie es scheint, aus
verschiedenen persönlichen und politischen Gründen. Ich nehme an, es gibt
Österreicher, die sehr gut den Verlust eines Mannes tragen können, den sie
„Nazijäger“ nannten. Und doch ist es auffallend, dass sowohl Medien wie
Politiker sofort nach der Ankündigung seines Todes nicht aufhören konnten,
ihn zu loben – als ob sie während der letzten 60 Jahre die besten Freunde
gewesen wären.
Simon Wiesenthal ist gestorben. Nun wird dieses Land einiger
seiner Aufgaben und Missionen übernehmen müssen, wenn irgendwelche von den
schmeichelhaften Trauerreden, die man während der letzten paar Tage hören
konnte, für bare Münze und ernst genommen werden können. Mittlerweile mögen
vielleicht auch Alois Brunner und andere Nazitäter gestorben sein. Doch ihre
Schuld muss unvergessen bleiben. Nicht bei ihren Opfern, die nicht die Wahl
haben zu vergessen oder nicht, sondern bei all denen, die bewusst gewählt
haben, sich selbst dafür zu vergeben, dass sie alles so leicht vergessen
haben.
Die Autorin ist eine Großnichte Alois Brunners und
arbeitet als politische Wissenschaftlerin an der Universität von Wien und an
der Humboldt-Universität in Berlin.
hagalil.com 23-09-2005 |