Russischsprachige Migranten:
Sprachbarrieren contra
IntegrationVon Irene Runge,
Jüdische Korrespondenz 9/2005
Seit 1992 lebt Vadim Brovkine in Berlin,
Germanistikstudium, Dissertation, seine Frau Natalja hat eine ähnliche
Karriere und assistierte klug den Vortrag. Eigentlich wollten beide dank
jüdischem Kontingent in Berlin bleiben. Sie haben eine Wohnung, einen
Freundeskreis, kennen die deutsche Sprache und sind in der SPD engagiert
tätig. Das nennt man integriert. Aber jetzt gelten neue Regelungen...
Er referierte anregend über die
Besonderheiten der sozialen und sprachlichen Integration russischsprachiger,
besonders der jüdischen Migranten, auch über Funktionswörter, die, über
Kommunikation angeeignet, für ihn "Indikatoren der sprachlichen Integration"
sind. Wer in einer Fuß fassen will, "darf keine Scheu vor aktiven verbalen
Wechselbeziehungen haben".
Es gab Auswanderungswellen seit 1917, heute
leben nahezu 3,3 Millionen russischsprachige Migranten in Deutschland,
allein 2,2 Millionen Russlanddeutsche, davon 50 Prozent nichtdeutsche
Familienangehörige. Waren 1991 rund 70 % deutschstämmig, sind es heute nur
knapp 20 %. Im jüdischen Kontingent kamen etwa 210 000, die Hälfte jüdisch,
auch hier viel multinationale Familien, meist mit hohem Bildungsstand. Die
Anderen in der sog. "vierten" Einwanderungswelle sind Studenten,
Gastwissenschaftler, Bildungsmigranten und Ehepartner von Deutschen. Ein
buntes Gemisch also.
Das jüdische Kontingent zeigt unüberseh-
und hörbar seine kulturelle Selbstbehauptung, also Pflege und Weitergabe der
Sprache und Nutzung russischer Medien. So wird eigene Identität bewahrt. In
der Sowjetunion sahen sich Juden als "Schicksalsgemeinschaft". Meist "Kinder
der Großstädte" waren sie dem Druck der Assimilation im Schmelztiegel zweier
Kulturen, der jüdischen und der russischen, ausgesetzt. Historisches
Gedächtnis und nationale Repräsentativität, ethnische Konsolidierung und
kulturelles Erbe, Familie und Freunde schweißten zusammen.
Der Antisemitismus, so Brovkine, war anders
als man in Deutschland vermutet. Juden wurden in Krisen zur
Projektionsfläche, wanderten aus und sind heute von "diasporalen Prozessen
stark beeinflusst". Die einst privilegierte ungeliebte sowjetische
Minderheit erlebt sich hierzulande als unterprivilegiert und ausgegrenzt,
Integration scheitert oft an Sprache. Es heißt: Die neuen Juden sind zu
russisch! In der Sowjetunion gab es 132 Nationalitäten, Russisch war Staats-
und Amtssprache, andere kommunikative Kompetenzen wurden nicht vermittelt,
Deutsch blieb aus historischen Gründen vernachlässigt.
Der Akkulturationsdruck, vor dem Juden
flüchteten, setzt sich aus ihrer Sicht hier fort, das wirkliche Deutschland
ist vor der Einwanderung unbekannt und bleibt es oft auch.
Mit Sprache tradiert sich jedoch das System
kultureller Stereotypen, Sprachvermittlung transportiert Weltverständnis,
doch Deutsch wird schwer erlernt, das folgt aus der sowjetischen
Sprachgeschichte bis hin zur Eliminierung des Jiddischen als Volkskultur
unter Stalin. So kommen, summierte Brovkine, Juden nach Deutschland, die vor
allem russischsprachig mit russischem kulturellen Hintergrund sind und wenig
Erfahrung haben, wie soziokulturelles Wissen zu erwerben ist. Werden
Sprachfähigkeiten mitgebracht, dann aber ohne kommunikative Einsichten. 2
400 Worte und Grammatik, so der Linguist, wären für das Deutsche eine Basis
(entspricht ca. 1 500 im Englischen).
In einem Exkurs verwies Brovkine auf die
Sinnhaftigkeit von unübersetzbaren Dialogwörtern usw., und erläuterte, was
er "domänenspezifischen Gebrauch " nennt: zu Hause und unter Freunden
spricht man Russisch, das Deutsche ist für die Behörden. Um aber verstanden
zu werden, braucht man die Sprache, wählt man Ausdrücke, durch Sprache
erfolgt Identifikation. Aussiedler neigen zum Code Switching (häufiges
Überwechseln von einer Sprache in die andere), um deutsche Zugehörigkeit zu
zeigen, Juden, die aus kommunikativen Berufen kommen, vermeiden das aus
Respekt vor dem Wort. In der deutschen Aufnahmegesellschaft fühlt man sich
oft ungewollt, versteht weder Small Talk noch die andere Art zu feiern, die
Ess- und Wohngewohnheiten, die Trennung des Privaten vom Dienstlichen, die
Bedeutung von Feierabend, wenn in Deutschland alle nach Hause streben und in
Russland miteinander verweilt wird.
Spracherwerb, so Brovkine, findet innerhalb
lebendiger Kultur statt, man muss dazu gehören wollen. Ältere und Ärmere
fliehen zu den Satellitenschüsseln, verharren in der russischen Denkwelt -
Sprache ist eben nicht theoretisch zu lernen, sondern sie braucht die
Praxis. Wer vor der Ankunft eine europäische Sprache kennt, hat eine
Grundlage, sofern das deutsche Informationsnetz und informelle Kontakte zu
Land und Leuten hinzukommen.
Doch ist Sprache nicht das einzige Problem
der Migranten, auch wenn Politiker und Medien dies häufig so darstellen. Es
geht um mehr, um das Umfeld, vom Migrantenverein bis hin zur
Parteimitgliedschaft. Das alles erscheint den Menschen mit
sowjetischrussischer Sozialisation zunächst gleichermaßen undurchsichtig.
Gewohnt an informelle personelle Netzwerke herrscht das Misstrauen gegenüber
staatlichen Strukturen vor. 600 Sprachstunden pro Einwanderer und 30 Stunden
deutsches Recht im gegenwärtig angebotenen Integrationskursus werden
folglich nicht reichen, erscheinen in ihrer jetzigen Konzeption selbst für
eine pauschale Integration wenig geeignet. Man muss die Menschen abholen, wo
sie sich befinden, also Gewohnheiten aufnehmen und das Handeln wandeln.
Für Russischsprachige hieße das
Frontalunterricht und Hausaufgaben, so die Erfahrungen von Brovkine, alles
andere wäre Zeit und Geldverschwendung. Die anschließende Diskussion war wie
zu erwarten heftig und lang anhaltend. Sie wurde beim Inder essend
fortgesetzt und durch viele russische und deutsche Anekdoten gewürzt.
s.a. Sprache und Identität jüdischer
Immigranten in
Deutschland von Vadim Brovkine /Nataliya Gladilina
in
Jahrbuch für deutsch-jüdische Geschichte "Menora" (Bd 15, Philo
Verlag Berlin/Wien, 2005)
hagalil.com 12-09-2005 |