Der 18.August 2005
– ein Meilenstein in der Geschichte des Staates Israels:
Das war der Tag
von Uri Avnery, uri-avnery.de, übersetzt von Ellen Rohlfs
Dies war der Tag, an dem das Siedlungsunternehmen zum
ersten Mal einen Rückzieher machte. Es stimmt, die Siedlungsaktivität in der
Westbank geht mit voller Geschwindigkeit weiter. Ariel Sharon beabsichtigt,
die kleinen Siedlungen im Gazastreifen aufzugeben, um die großen
Siedlungsblöcke in der Westbank zu sichern. Doch dies verringert nicht die
Bedeutung von dem, dass etwas Großes geschehen ist: es ist bewiesen worden,
dass Siedlungen abgebaut werden können und abgebaut werden müssen. Und
tatsächlich - es sind bedeutende Siedlungen abgebaut worden.
Das Siedlungsunternehmen, das immer – in offener oder verdeckter Weise -
vorwärts ging, nur vorwärts ging, wurde zurückgeschraubt. Das erste Mal*.
Ein historisches Ereignis. Eine Botschaft für die Zukunft.
Dies war der Tag, an dem die Botschaft der israelischen Friedensbewegung den
Sieg errungen hat. Ein großer Sieg, den alle sehen können. Nun, es stimmt –
nicht wir waren es, die ihn ausführten. Es wurde von einem Mann
durchgeführt, der von unsrer Einstellung weit entfernt ist.
Es gibt ein hebräisches Sprichwort: „Das Werk der Gerechten wird von anderen
getan.“ Und die anderen sind die, die weniger gerecht, ja, vielleicht sogar
böse sind. Zu Beginn der Siedlungsaktivitäten sagte ich bei einem meiner
Zusammenstöße mit Golda Meir in der Knesset: „Jede Siedlung ist wie eine
Landmine auf der Straße des Friedens. Zu gegebener Zeit werden Sie diese
Minen wegräumen müssen. Und lassen Sie es mich sagen, Madam, als früherer
Soldat weiß ich, dass das Wegräumen von Minen wirklich kein angenehmer Job
ist.“
Wenn ich heute zornig, zu tiefst traurig und frustriert bin, dann ist es auf
Grund des Preises, den wir wegen dieses monströsen Unterfangens haben zahlen
müssen. Die Tausenden Getöteten, Israelis und Palästinenser.
Die Hunderte von Milliarden Shekel, die den Bach hinunter gingen.
Der moralische Abstieg unseres Staates, die schleichende Brutalisierung, der
Aufschub des Friedens um Jahrzehnte. Ich bin zornig auf die Demagogen aller
Richtungen, die mit dem Marsch der Törichten begannen und fortfuhren – aus
Dummheit, Blindheit, Gier und Machtrausch oder reinem Zynismus. Ich bin
zornig über das Leiden und die Zerstörung, die über die Palästinenser im
Gazastreifen gebracht wurden, deren Land und Wasser gestohlen wurde, deren
Häuser zerstört und deren Bäume ausgerissen wurden, allein um der
„Sicherheit“ dieser Siedlungen wegen.
Ich habe auch Mitgefühl für die Not der Bewohner von Gush Kativ, die von der
Siedlerführung und allen israelischen Regierungen verführt wurden, ihr Leben
dort aufzubauen – verführt, entweder durch messianische Demagogie („Es ist
Gottes Wille“) oder durch wirtschaftliche Versuchung ( „eine Luxusvilla von
Rasen umgeben, wo kann man von so etwas anderswo träumen?“). Viele Leute
entlegener Ortschaften im Negev, die mit Armut und Arbeitslosigkeit
geschlagen waren, sind diesen Versuchungen erlegen. Und nun ist Schluss
damit. Der süße Traum hat sich in nichts aufgelöst und sie müssen ihr Leben
neu beginnen – allerdings mit großzügigen Entschädigungen. Das Fernsehen hat
uns einen großen Dienst erwiesen, als es zwischen den Szenen der Evakuierung
alte Reportagen von der Gründung der Siedlungen einblendete. Wir hörten noch
einmal die Reden von Ariel Sharon, Joseph Burg, Yitzhak Rabin (ja, auch von
ihm), Hanan Porat und anderen – die ganze Litanei von Unsinn, Täuschung und
Lügen.
Während der letzten Jahre war das Friedenslager von Verzweiflung,
Mutlosigkeit und Depression erfasst worden. Ich wiederhole: es gibt keinen
Grund dafür. Auf die Dauer wird unsere Einstellung Recht behalten Es muss
jetzt betont werden: die israelische Öffentlichkeit würde diese Operation
nicht unterstützt haben, und Sharon wäre nicht in der Lage gewesen, sie
auszuführen, wenn wir nicht seit Jahren die öffentliche Meinung vorbereitet
hätten, indem wir das aussprachen, was keineswegs dem nationalen Konsens
entsprach, und dies immer wieder wiederholten.
Dies war der Tag, an dem die Ideologie der Siedler in sich zusammenbrach.
Wenn es einen Gott im Himmel gäbe, so kam er nicht, um sie zu retten. Der
Messias kam nicht. Es geschah kein Wunder. Viele der Siedler waren sich so
sicher, im letzten Augenblick werde noch ein Wunder geschehen, dass sie sich
nicht die Mühe machten, ihre Sachen zu packen. Im Fernsehen konnte man
Wohnungen sehen, wo das Essen unberührt auf dem Tisch stand und die
Familienfotos noch an der Wand hingen - Anblicke, die mich sehr an den Krieg
von 1948 erinnerten.
All die Großtuerei und Prahlerei vom Siedlerführerpaar Wallerstein und
Liebermann zerrannen in nichts. Die Massen strömten nicht im ganzen Land auf
die Straßen, um das Militär zu behindern, das die Siedlungen evakuieren
wollte. Die vielen Tausenden blieben – einschließlich der Abzugsgegner – zu
Hause und klebten vor ihren Fernsehern. Die Massenverweigerung der Soldaten,
den Befehlen nicht zu gehorchen – von den Rabbis versprochen und angestiftet
– geschah nicht.
Im entscheidenden Augenblick wurde die Realität, die wir schon immer
kannten, für alle deutlich: die messianisch-nationalistische Sekte, die
Führung der Siedler, ist isoliert. In ihrem Benehmen und Lebensstil sind sie
der israelischen Geisteshaltung fremd. Die vielen Siedler, die man vor
kurzem auf den Bildschirmen sehen konnte, die Männer mit ihren Kipoth, die
Frauen mit langen Röcken, ihre endlosen Tänze und die ständig sich
wiederholenden 10 Slogans, sie sahen aus, als gehörten sie zu einer
geschlossenen Sekte von einem andern Stern.
„Es sieht so aus, als wären wir nicht ein, sondern zwei Völker: ein Volk der
Siedler und ein Volk, das die Siedler hasst,“ stöhnte einer der Rabbiner,
als seine Siedlung geräumt wurde. Ja, genau so ist es.
Bei der Konfrontation zwischen den Soldaten, die aus allen Schichten der
Gesellschaft eingezogen werden, und den Siedlern, sind es die Soldaten, die
bei dieser einzigartigen Situation das israelische Volk vertreten, während
die Siedler die negativen Seiten des jüdischen Gettos verkörpern. Die nicht
enden wollenden, kollektiven Weinanfälle, die peinlich genau inszenierten
Szenen, die Bilder an Pogrome oder Todesmärsche wach rufen sollten, die
monströse Nachahmung des erschrockenen Jungen mit den erhobenen Armen aus
dem berühmten Holocaustfoto – all dies erinnerte an eine Welt, von der wir
dachten, wir hätten sie bei der Gründung des Staates Israel abgeschüttelt.
In der Stunde der Wahrheit fanden die Anführer der JeSchA (Siedlerbewegung),
dass kein Teil der israelischen Gesellschaft sich mit ihnen erhoben hat –
außer den Gangs von jungen Leuten aus den religiösen Seminaren, die sie nach
Gush Kativ gesandt hatten. Das Tollhaus, das sie auf dem Dach der Synagoge
von Kfar Darom, errichtet hatten, setzte ihren Hoffnungen, die allgemeine
Unterstützung zu gewinnen, ein Ende, als sie die Soldaten gemein angriffen.
Doch schon vorher hatten die Siedler die wichtige Schlacht um die
öffentliche Meinung verloren, als ihr wirkliches Ziel aufgedeckt wurde: mit
Gewalt ein auf dem Glauben gegründetes, messianisches, rassistisches,
starkes, fremdenfeindliches Regime aufzurichten, im Großen und Ganzen
weltabgewandt.
Was aber am wichtigsten ist: dies war der Tag, in dem eine neue Chance
liegt, Frieden für ein gequältes Land zu erreichen.
Es
ist eine günstige Gelegenheit, weil die israelische Demokratie einen
überragenden Sieg davon getragen hat; weil bewiesen worden ist, dass
Siedlungen aufgelöst werden können, ohne dass der Himmel zusammenstürzt;
weil die Palästinenser eine Führung haben, die Frieden wünscht; weil
bewiesen worden ist, dass sogar die radikalen palästinensischen
Organisationen das Feuer einstellen, wenn die palästinensische
Öffentlichkeit es verlangt.
Aber es muss klar festgestellt werden: der Rückzug birgt eine große Gefahr
in sich: wenn wir mitten im Sprung über dem Abgrund stoppen, fallen wir
hinein.
Wenn wir nicht schnell mit dem palästinensischen Volk eine Übereinkunft
treffen, dann wird sich der Gazastreifen tatsächlich in eine Plattform für
Raketen wandeln – wie Binyamin Netanyahu prophezeit hat, (was eine sich
selbst erfüllende Prophezeiung sein kann). In den Augen der Palästinenser
und vielen andren in der ganzen Welt, ist der Rückzug vor allem eine Folge
des bewaffneten palästinensischen Widerstandes. Wenn wir in den nächsten
Wochen keine Fortschritte bei verhandelten Abkommen machen, wird eine dritte
Intifada ausbrechen, das ganze Land wird in Flammen aufgehen.
Wir müssen sofort mit ernsthaften Verhandlungen beginnen und im voraus
erklären, dass nach Ablauf einer bestimmten Zeitspanne die Besatzung ein
Ende finden soll und die Errichtung eines Staates Palästina folgen wird.
Alle wichtigen Elemente solch einer Abmachung sind längst bekannt: eine
Lösung für Jerusalem entsprechend dem Clintonvorschlag (was den Arabern
gehört, gehört zu Palästina, was jüdisch ist, gehört zu Israel), Rückzug zur
Grünen Linie mit einem ausgehandelten Austausch von Land, eine Lösung des
Flüchtlingsproblems – in Abstimmung mit den demographischen Interessen
Israels.
Dies war der Tag, der in die Geschichte eingehen wird, weil er große
Hoffnung mit sich brachte. Es ist nicht der Anfang des Endes im Kampf um
Frieden, aber sicher das Ende des Anfangs. Ein kleiner Schritt in Richtung
Frieden – und ein Riesenschritt für den Staat Israel.
(Yamit auf dem Sinai und seine Siedlungen befanden
sich nicht in Erez Israel und deshalb stellte ihre Evakuierung 1982 keinen
ideologischen Bruch dar. Aber dieses Mal geschah es im „Lande der
Vorväter“.)
hagalil.com 31-08-2005 |