MEMRI Special Dispatch, 26.
Juli 2005
Arabische Kommentare:
Anschläge in London und Scharm Al-Scheich
Einhellig verurteilte die
arabische Medienöffentlichkeit die Anschläge von London und Scharm
Al-Scheich. Dabei werden jedoch mitunter sehr unterschiedliche
Einschätzungen des Terrors und seiner Hintergründe deutlich: Wird auf
der einen Seite vor allem die islamistische Ideologie kritisiert, werden
auf der anderen häufig die Besatzung des Irak und der palästinensischen
Gebiete als Ursachen für die Anschläge genannt.
Beispielhaft für letztere
Position steht etwa ein Beitrag von Abdul Bari Atwan, palästinensischer
Chefredakteur der in London erscheinenden Zeitung Al-Quds Al-Arabi: In
einem Kommentar beschreibt Atwan die Anschläge von Scharm al-Scheich als
Resultat der ägyptischen Regierungspolitik vor allem gegenüber Israel.
Die Aufnahme von Beziehungen mit Israel im Jahr 1979 und die
verschiedenen seitdem mit "dem hebräischen Staat" geschlossenen
Abkommen, seien der Grund für den größten Teil der Probleme, denen
Ägypten sich heute gegenübersehe. Ägypten habe sich dadurch in der
arabischen Welt isoliert und seinen Einfluss verloren. Während sich die
Bevölkerung von der korrupten und inkompetenten Regierung abwenden
würde, habe Präsident Mubarak auch noch Scharon zum Gipfeltreffen nach
Scharm al-Scheich eingeladen. Sogar die Al-Azhar, so Atwan, habe ihren
Ruf eingebüßt, weil sie nur noch dazu diene, die Annäherung an Israel
religiös zu legitimieren. Das habe auch zum Erstarken des radikalen
Islamismus gegenüber einem moderaten Islam geführt.
Ganz anders argumentieren der
ehemalige kuwaitische Bildungsminister Ahmad Al-Rab'i sowie Mamoun
Fandy, Präsident eines Middle East-Beratungsinstituts in Washington, in
Kommentaren für die ebenfalls in London herausgegebene Tageszeitung
Al-Sharq Al-Awsat. Unter dem Titel "Ein bisschen Scham" macht Al-Rab'i
die Ideologie der ägyptischen Muslimbrüder für die Anschläge
mitverantwortlich. Fandy fordert Muslime und ihre religiösen
Repräsentanten auf, den Terror und seine religiöse Legitimation klarer
zu verurteilen. In seiner sehr weit gehenden Kritik warnt er außerdem
vor Denkmustern, die den Terror fördern und seiner Meinung nach
insbesondere unter im Westen lebenden Muslimen verbreitet seien. Im
Folgenden dokumentieren wir Auszüge aus beiden Beiträgen, die am 25.
Juli 2005 erschienen sind:
Ahmad Al Rab'i: 'Al-Qaidas
Terrorismus gründet in der Ideologie der Muslimbruderschaft'
"Würden wir der Logik der ägyptischen Muslimbruderschaft folgen, sollten
wir weder das Verbrechen von Scharm Al-Scheich noch andere
Terrorverbrechen verurteilen! Die Muslimbruderschaft in Ägypten hat
nämlich ihre eigenen Rechtfertigungen für Gewalt. So legt die Bewegung
in einer Erklärung, in der sie die Anschläge in Scharm Al-Scheich
'verurteilt', [gleichzeitig] deren Rechtfertigung dar. In der Erklärung
hieß es: 'Die kolonialistische Politik der mächtigen Staaten und ihre
Aggression gegen die Völker – das ist es, was die Kultur der Gewalt
hervorbringt.'
Das Problem der Muslimbruderschaft ist, dass sie sich nicht schämt. Dabei
liegen doch die Anfänge des ganzen religiösen Terrorismus, den wir heute
erleben, in der von der Muslimbruderschaft vertretenen Ideologie des
Takfir: Sayyid Qutbs Buch 'Wegzeichen' war Inspiration und Anleitung für
alle danach entstandenen Takfir-Bewegungen. [1]
Die Gründer der gewalttätigen Gruppierungen wuchsen in der
Muslimbruderschaft heran und auch jene, die mit Bin Laden und Al-Qa'ida
arbeiteten, taten dies unter dem Deckmantel der Muslimbruderschaft.
Wenn es tatsächlich die Politik der imperialistischen Staaten wäre, welche
die Gewalt hervorbrächte – was hielte dann die Bürger des von
amerikanischen Flugzeugen mit Millionen Tonnen von Bomben zerstörten
Vietnams davon ab, Gebäude in San Francisco zu sprengen? Was hielte die
Menschen in Japan – das von Amerika mit einer Atombombe angegriffen
wurde – davon ab, Boston in die Luft zu jagen?
Und was haben ausländische Touristen und unschuldige ägyptische Bürger mit
der Politik 'der imperialistischen Staaten' zu tun? Sollten etwa in
Scharm Al-Scheich, Bagdad, Riad und Sana'a friedliche und wehrlose
Menschen ermordet werden, um sich an den imperialistischen Staaten zu
rächen?
Außerdem: Wer ist es denn, der den Dialog [mit Amerika] beginnt [...]? Es
ist die Muslimbruderschaft, die die 'imperialistischen Staaten' und vor
allem Amerika davon zu überzeugen versucht, dass sie den moderaten Islam
repräsentiert und diese Staaten daher mit ihr den Dialog aufnehmen
sollten.
Die Erklärung der Muslimbruderschaft ist ein Beispiel völliger
Schamlosigkeit. Sie setzt die Geschichte der Doppelzüngigkeit und einer
widersprüchlichen Sprache fort, derer sich die Bruderschaft im Namen des
Islam schon seit langem bedient."
Mamoun Fandy: "Wo ist die
Fatwa gegen den Terrorismus?"
"Es ist Zeit für eine Fatwa, die Usama Bin Laden und seine Anhänger aus
dem Islam verstößt. In einer Zeit, in der sich der Terror von New York
bis nach Casablanca, Kairo, London und Scharm Al-Scheich verbreitet,
brauchen wir eine ganze Serie von Antiterror-Fatwas, die bekräftigen,
dass der Islam Gewalt an Unschuldigen nicht unterstützt, sondern
derartige Taten verurteilt. Aber das reicht noch nicht aus. Wir müssen
uns auch von jenen Muslimen unter uns distanzieren, welche die
Verteidigung des Islam auf diese Art und Weise für notwendig halten. Als
Muslim denke ich, dass wir hier ganz klar sein müssen. [Und dazu]
brauchen wir Antworten auf Fatwas, die [fälschlicherweise] in unserem
Namen herausgegeben werden.
Die Muslime auf der ganzen Welt müssen sich ein Herz fassen und den Terror
ablehnen. [...] So wie Bin Laden und seine Gefolgschaft moderate Muslime
als Agenten des Westens und Ungläubige anklagen, wird es nunmehr Zeit,
dass die islamischen Autoritäten Bin Laden selbst als Ungläubigen
verurteilen. Es bedarf dazu [...] einer eindeutigen Fatwa aus den
wichtigsten Zentren der islamischen Rechtsprechung, der Al-Azhar und aus
Mekka, die Bin Laden und seine Anhänger als Nicht-Muslime verurteilt. Es
ist auch Zeit, dass Moscheen, in denen Bomben [orig.: Molotow-Bomben]
gebaut werden, die Bezeichnung Moschee aberkannt wird.
Die Terroristen von Leeds haben ihre Verschwörung in einem Gebetshaus
vorbereitet. Draußen hatten sie Schilder angebracht, dass drinnen
gebetet würde. Wen haben sie da angebetet, Gott oder Satan? Die Muslime
müssen solche Orte als Orte des Verbrechens anzeigen und sollten sie
nicht als Gebetshäuser bezeichnen. Ich weiß, dass es Leute gibt gibt,
die dafür kämpfen, dass moderate Muslime die Macht in derartigen
Gebetshäusern übernehmen. Dies erscheint mir nicht Erfolg versprechend.
Moderate Muslime sollten diese Moscheen lieber boykottieren. Ihnen fehlt
es an der nötigen Kühnheit, um den Terroristen diese Gebetshäuser
streitig zu machen. Moscheen in denen Molotow-Cocktails produziert
werden, sind keine Moscheen mehr, sondern müssen als Tatorte behandelt
werden. Moscheen sind Orte des Gebets, werden sie anders verwendet, dann
sind sie auch keine heiligen Orte mehr.
In den islamischen Quellen heißt es, dass die ganze Welt als Ort der
Gebete und der Reinheit geschaffen wurde. Außerdem wurde überliefert,
dass jene bestraft werden müssen, die diese Welt zerstören wollen. Ihnen
sollen Hände und Beine abgeschlagen werden – wobei das als Symbol für
die Härte der Strafe zu verstehen ist. Trotzdem gibt es einige Muslime
sowie Zeitungen und TV-Sender, wie z.B. Al-Jazeera, die Bin Laden und
seine Anhänger praktisch unterstützen.
Die Botschaft, wie sie Usama Bin Laden und seinen Anhängern bisher [von
den Muslimen] suggeriert wird, lautet: 'Du tust dem Westen genau das an,
was auch wir tun wollten, selbst aber nicht tun können.' Dies ist die
verbreitete Botschaft, von der der Westen nichts weiß. So lange [diese
Botschaft an Bin Laden] ausgeht, so lange kein Druck auf die Muslime in
aller Welt ausgeübt wird, eine Gegen-Fatwa herauszugeben und so lange
Leute [wie Bin Laden] nicht öffentlich verurteilt werden, so lange wird
es keine Fortschritte im Kampf gegen den Terror geben und die Muslime
werden in den Augen der ganzen Welt erscheinen, als würden sie die
Terroristen unterstützen.
Es ist aber nicht allein eine Frage des Erscheinungsbildes. Ich habe
viele, vor allem im Westen lebende, Muslime, getroffen, die nach außen
hin die Gewalt verurteilen. In persönlichen Gesprächen sagen sie jedoch:
'Der Westen hat es verdient.' Öffentlich sagen sie auch, dass diese
Ereignisse [eine Art] Rache für das Geschehen in Palästina und im Irak
darstellen. In den privaten Gesprächen höre ich aber nur blinden Hass,
der einem fehlenden Gewissen entspringt. Dies ist ein Virus, der
zahlreiche muslimische Köpfe befallen hat - vor allem von Muslimen, die
im Westen leben. Viele verurteilen zwar Bin Laden, viele andere aber tun
das nicht - die meisten von ihnen aus Europa und den Vereinigten
Staaten. Sie gehören keinen Schläferzellen an, wie einige im Westen
naiverweise behaupten, sondern bilden eher wache Zellen, jederzeit
bereit zuzuschlagen.
Es ist natürlich nicht gerade nützlich, wenn ein 'Guter', wie Londons
Bürgermeister Ken Livingstone, Yusuf Al-Qaradawi einlädt. [...] Es ist
auch bedauernswert, wenn westliche Medien wie vor allem CNN oder die
BBC, islamistische Aktivisten einladen, die den Terror befürworten, und
sie als Experten und Analysten behandeln. Seit dem 11. September 2001
beobachte ich hier eine gewisse Naivität in den westlichen Medien und
der westlichen Politik. [...]
Nur zwei Dinge können den Terror stoppen: Einmal bedarf es einer Fatwa,
die Usama Bin Laden und seine Unterstützer aus dem Islam verstößt. Des
Weiteren muss der Westen seine Naivität bezüglich der moderaten
Islamisten aufgeben. Es gibt keine moderaten Islamisten. Es gibt normale
Muslime, die ein normales Leben führen, und es gibt Terroristen sowie
Leute, die in Zukunft möglicherweise selbst zu Terroristen werden
könnten."
Anmerkung:
[1] Das Konzept des Takfir entwickelte Sayyid Qutb (1906-1966). Es
ermöglicht es radikalen Islamisten, andere Muslime und ihre
Repräsentanten des Abfalls vom Glauben (Apostasie) sowie muslimische
Gesellschaften des Rückfalls in die Jahiliya (Zustand des Unglaubens in
der Zeit vor dem Islam) zu beschuldigen und gewaltsam zu bekämpfen.
Sayyid Qutb steht für den militanten Zweig der frühen
Muslimbruderschaft. Sein Denken soll auch Usama bin Laden maßgeblich
beeinflusst haben. Er wurde unter der Anklage der Verschwörung zum Mord
am ägyptischen Präsidenten Jamal 'Abd Al-Nasser hingerichtet. Sein Buch
'Wegzeichen' [Ma'alim fil-Tariq] veröffentlichte er 1964 zwischen zwei
Gefängnisaufenthalten.
THE MIDDLE EAST MEDIA RESEARCH
INSTITUTE (MEMRI)
eMail:
memri@memri.de,
URL: www.memri.de
© Copyright by The Middle East Media Research Institute
(MEMRI) - memri.de. Alle Rechte vorbehalten.
hagalil.com 01-08-2005 |