Für die einen ist er ein
"Wolf im Schafspelz", für die anderen ein "Popidol der Pariser
Vorstädte": Am Schweizer Islamwissenschaftler Tariq Ramadan scheiden
sich die Geister. Er selbst sieht sich als Sprachrohr der muslimischen
Gemeinde in Europa, die – so könnte man Ramadans Projekt zusammenfassen
– eine islamische Identität behalten und diese doch an die europäischen
Gesellschaften und deren Normen anpassen soll. Ramadans Kritiker werfen
ihm dabei vor, beiden Seiten lediglich die gewünschten Schlagworte zu
liefern und sich konkreten Fragen wie denen nach Bekleidungsvorschriften
oder Körperstrafen zu entziehen. Zum Kopftuch sagt er etwa Folgendes:
"Das Kopftuch ist eine Pflicht, darf aber nicht Objekt eines Zwangs
werden."
In jedem Fall ist der Enkel des
Gründers der Muslimbruderschaft, Hassan al-Banna, medial omnipräsent –
vielleicht auch, weil er die Vielschichtigkeit des Islam in Europa quasi
in einer Person vereint. Mehrere Bücher sind mittlerweile zu ihm
erschienen. Als "ideologisches U-Boot" bezeichnet ihn etwa Caroline
Fourest in "Frère Tariq" und kommt zu dem Schluss, dass Ramadan "nicht
ein der Aufklärung und dem Rationalismus verpflichteter muslimischer
Intellektueller ist, sondern ein wendiger islamistischer Prediger, ein
Kriegstreiber im Kampf der Kulturen", der den Islam für die überlegene
Religion halte und etwa religiös gemischten Ehen ebenso feindlich
gegenüberstehe wie der Homosexualität (so fasst Martina Meister in FR,
9.2.2005 Fourests Ergebnisse zusammen).
Den "anderen Tariq Ramadan"
präsentierte er nach den Londoner Anschlägen. Sowohl in der BBC wie auch
in einem Beitrag für die liberale panarabische Tageszeitung Al-Sharq
al-Awsat wendet er sich nicht nur entschieden gegen den Terror, er
plädiert auch für einen angepassten, nicht wortgetreu interpretierten
Islam. Die Muslime in westlichen Gesellschaften ruft er auf, die
Regierungen in ihrem Kampf gegen Hassprediger zu unterstützen. Im
Folgenden dokumentieren wir den Beitrag aus Al-Sharq al-Awsat, der am
21. Juli 2005 erschien:
"Wer ist verantwortlich für
die Anschläge vom 7. Juli?"
"In Spanien hat Premierminister
Zapatero [nach den Anschlägen von Madrid] seine Truppen aus dem Irak
abgezogen und alle illegalen muslimischen Einwanderer amnestiert, statt
sie zu verfolgen [...]. Außerdem hat er zu einer Allianz der Kulturen
und zur Intensivierung des Dialogs aufgerufen! Jetzt [nach den
Anschlägen in London] fragen sich natürlich viele: Ist das ein gutes
Beispiel?
Meiner Meinung nach können
symbolische Taten durchaus wirksam sein. Auf längere Sicht betrachtet,
benötigen wir jedoch eine echte Integrationspolitik. Wir müssen sehen,
dass religiöse und ethnische Vielfalt Europas Zukunft und keine
vorübergehende Erscheinung sind.
Das größte Problem, mit dem wir
heute konfrontiert sind, ist kein rechtliches. Vielmehr fehlt es an
gegenseitigem Vertrauen. Die Muslime in Europa werden negativ
wahrgenommen. Sie sehen die Ausbreitung von Rassismus und Islamophobie
in den Gesellschaften, in denen sie leben und fühlen sich nicht
akzeptiert.
Gegenseitiges Vertrauen würde
entstehen, wenn die Behörden den Integrationsprozess erleichtern, die
muslimischen Gemeinden auf lokaler und nationaler Ebene einbeziehen und
nicht weiter versuchen würden, sie zu kontrollieren. Wenn Muslime den
Eindruck gewinnen, dass die Regierung versucht, sie zu beherrschen und
zu kontrollieren, haben sie das Gefühl, Bürger zweiter Klasse und nicht
verantwortungsbewusste Mitglieder der Gesellschaft zu sein. [...]"
'Die Mehrheit der Muslime im
Westen hat einen angepassten Islam entwickelt'
"Es ist an der Zeit, dass
Regierungen und muslimische Gemeinden eine zivilgesellschaftliche
Politik entwickeln, um die Ghettobildung aufzubrechen – sei sie
kulturell, ökonomisch oder bildungsmäßig wie in Frankreich oder
ethnischer Art wie in Großbritannien!
Vor diesem Hintergrund müssen
die Regierungen und die muslimischen Gemeinden auch zusammenarbeiten,
wenn es um die Ausbildung von Imamen geht. Im Moment kommen die meisten
Imame aus dem [nicht-europäischen] Ausland. Wir brauchen aber Imame, die
in Europa studiert haben!
Die Frage ist aber: Wer nimmt
das in die Hand? Ich meine, dass hier die Regierungen eingreifen und
helfen müssen, weil wir Imame brauchen, die in den europäischen Sprachen
ausgebildet sind und ein islamisches Denken vermitteln können, das an
die europäische Gesellschaft angepasst ist. Das ist ganz wichtig, um
solchen Imamen, die Hass und Gewalt predigen, die Grundlage zu
entziehen. [...]
Global betrachtet sehen wir,
dass die Mehrheit der Muslime in den Vereinigten Staaten, Kanada,
Australien und Europa ihren islamischen Glauben bereits erfolgreich an
die jeweilige Gesellschaft angepasst hat. Sie sind zu loyalen Bürgern
der Gesellschaften geworden, in denen sie leben. Ich sage also, was ich
immer sage: Trotz der Attentate ist die eigentliche Geschichte des
heutigen Islam die einer 'stillen Revolution', die unter den Muslimen im
Westen stattfindet. Angeführt wird sie vor allem von den Frauen, die
sich für Demokratie, Meinungs- und Glaubensfreiheit, gleichberechtigte
Partizipation, Pluralismus und die Herrschaft des Gesetzes stark machen.
Sie sind tatsächlich zu westlichen Bürgerinnen geworden. Und diese
schweigende Mehrheit ist es auch, die vor allem den Bombenattentätern
von London gegenübersteht. Weil diese nämlich wollen, das wir [Muslime]
eine binäre Sicht auf die Welt und uns selbst haben, ist es eine
Niederlage für sie, wenn ihr Ansatz des 'Wir gegen sie' zurückgewiesen
wird.
Die Motivation der Londoner
Attentäter, die Linie zu überschreiten und zu Selbstmordattentätern zu
werden, bleibt noch unklar. Dennoch lassen sich eine Reihe von Faktoren
ausmachen. An erster Stelle steht ein persönliches Motiv: Die Annahme,
sich durch die Ermordung seiner Feinde, selbst zu reinigen. Zweitens
glauben die Attentäter, einer Strategie zu folgen, indem sie gegen die
Hauptfeinde des Islam vorgehen, das heißt gegen die USA sowie einige
europäische Staaten, die hinter den diktatorischen Regimen in der
arabisch-islamischen Welt stehen. Drittens spielt sicherlich die binäre
Sicht vom 'Kampf der Kulturen' eine Rolle."
'Gegen Hassprediger müssen
wir mit dem Staat und der Polizei zusammenarbeiten'
"Angesichts so dramatischer
Ereignisse wie der Ermordung des Regisseurs Theo van Gogh oder der
Anschläge in London, die einen Schatten auf die Zukunft der Integration
der Muslime in Europa werfen [...], müssen wir Muslime uns klar darüber
sein, dass diese Attacken nicht so bald aufhören, sondern wohl ein Teil
unserer Zukunft in Europa bleiben werden.
Deshalb brauchen die Muslime
eine Art von Selbstkritik. Sie müssen Bereiche abstecken, in denen sie
effektiv jene stoppen, die derartige Angriffe ausführen oder andere dazu
anstiften. Zu diesen Bereichen gehören zuerst einmal der Dialog der
Religionen sowie der Kampf gegen jene Lesarten und Interpretationsarten
[des Islam], die zu Hass und zur Gewalt anstiften. Diese verstoßen gegen
den Islam. [...]
Dabei reicht es aber nicht aus,
diese Interpretationen nur zu verurteilen. Wir müssen auch gegen jene
vorgehen, die sie verbreiten und sie verfolgen. Das bedeutet erstens,
dass wir mit den politischen Institutionen und selbst mit der Polizei
zusammenarbeiten müssen, wenn Imame oder andere zu Hass und Gewalt
aufrufen und gegen Gesetze und Verfassungen in den europäischen Ländern
verstoßen.
Zweitens müssen wir uns mit den
Schuldgefühlen und dem Gefühl auseinandersetzen, in einem
nicht-islamischen Umfeld zu leben, weil dies von denjenigen ausgenutzt
wird, die den Hass auf ‚die unislamische Umwelt’ in den westlichen
Gesellschaften propagieren. Oft sind junge Muslime, die gewalttätig und
irrational agieren, gesellschaftlich integriert, haben Arbeit oder
studieren an Universitäten. Einige von ihnen sind verheiratet. Sie
leiden aber an einem emotionalen und psychischen Ungleichgewicht. Sie
haben das Gefühl, irgendwie unrein und weit davon entfernt zu sein, wie
ein idealer Muslim zu leben. Sie haben Schuldgefühle und denken, dass
sie nicht tun, was sie eigentlich tun müssten. Und dann kommen die
Gihad-Prediger zu diesen jungen Leuten und fragen sie: 'Wollt ihr euch
selbst retten? Wollt ihr euch reinigen?... Wir haben da eine Lösung.'
Dem müssen wir entgegen treten.
Drittens müssen wir uns mit der
Verbindung zwischen dem globalen Geschehen im Irak und in Palästina und
der lokalen Situation in Ländern wie Großbritannien, Frankreich oder
Deutschland beschäftigen. Wann immer ein junger Muslim wütend wird, wenn
er das Geschehen in Kaschmir, Guantánamo, im Irak oder in Afghanistan
sieht, muss er sich als Bürger am Kampf gegen die Politik seiner
Regierung beteiligen. Denn die Lösung liegt nicht in der Ermordung von
Unschuldigen in der Londoner U-Bahn, sondern darin, dass die Muslime
darauf bestehen, in den Demokratien in denen sie leben, ihre Stimme zu
erheben. Sie müssen insistieren, dass ihre Regierungen ausgeglichene
Positionen beziehen und nicht zweierlei Maßstäbe anlegen. Wenn Du also
wütend darüber bist, was Muslimen in aller Welt angetan wird, dann
solltest Du damit wie ein verantwortlicher Bürger umgehen und nicht zum
Selbstmordattentäter werden."
'Attentäter sind auch Kinder
der europäischen Gesellschaften'
"Wenn aber die muslimischen
Führungspersönlichkeiten in Europa angesichts dessen verstummen, weil
sie fürchten, das ganze Boot geht unter, dann wird sich die wütende
Jugend einen anderen Weg suchen, auf das zu reagieren, was sie als
Ungerechtigkeit an so vielen Orten der Welt empfindet.
Was die europäischen
Regierungen dagegen unternehmen können? Toni Blair sagte, dass es ‚den
Muslimen überlassen ist, etwas zu tun, um die der muslimischen Gemeinde
angehörenden Mörder zu stoppen.’ Meiner Meinung nach stimmt dies nur zum
Teil. Es ist doch mittlerweile wie in einer Familie: Wenn eines der
Kinder einen Fehler begeht, so sind seine beiden Elternteile dafür
mitverantwortlich. Die Attentäter von London sind in Europa geboren. Sie
sind nicht nur Kinder von Muslimen, sondern gleichermaßen Kinder der
europäischen Gesellschaft! So ist die muslimische Gesellschaft nur ein
Elternteil, der etwas tun muss. Auch der andere Teil, die europäische
Gesellschaft, muss etwas tun."
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