Gaza:
Rückzug bei höllischen Temperaturen
von Ulrich W. Sahm, Jerusalem, 10. August 2005
Die Szene war theaterreif. Soldatinnen hatten sich zu ihrer olivgrünen
Militärhose ein organgefarbenes T-Shirt übergezogen. Im Arm hielten sie
liebevoll eine Puppe, mit orangenen Bändchen geschmückt.
Als alle entsprechend ihrer Rolle verkleidet waren, befahl der Kommandeur
per Megaphon: "In Stellung zu gehen". Die Soldatinnen mit den Puppen
verschanzten sich in einer Übungshütte aus Beton, wo die Soldaten sonst den
Kampf gegen Terroristen und das Werfen von Handgranaten üben. Mit einem
Handzeichen begann die "Schlacht". Die Soldatinnen mit den orangenen
T-Shirts beschimpften die Räumsoldaten als Verräter und krallten sich an
ihren Babypuppen fest. Behutsam aber mit Bestimmtheit stürzte sich der
militärische Räumungstrupp auf die strampelnden "Mütter", bis sie mitsamt
ihren "Babies" mit festem Griff an Armen und Beinen weggetragen wurden.
In einer Betonhütte mit dem Schild "Synagoge" am türlosen Eingang saß ein
frommer bärtiger Rabbi. Als Erkennungszeichen hatte der sich einen
Gebetsschal über den Kopf gezogen. Seinen "Schülern" im weißen T-Shirt über
der Militärhose, bläute er mit fanatischen Worten ein, wieso der Rückzug aus
Gaza eine Versündigung an den Lehren des Judentums sei. Der "Rabbi", im
"Zivilleben" ein Siedler aus dem Westjordanland, gestaltete seine Lehrstunde
sehr überzeugend. Doch seine braven "Schüler" ließ die feurige
Rabbinerpredigt kalt. Denn die "Rückzugsgegner" in der "Synagoge" waren
zufällig Drusen. Sie fühlen sich von den jüdischen Lehren nicht betroffen.
Andere "Rückzugsgegner" verschanzten sich auf einem Dach, brüllten immer
wieder die gleichen Schlagworte gegen Scharon und seine Pläne. "Juden
deportieren keine Juden" riefen sie dem "Räumungskommando" entgegen. Als es
zu Rempeleien kam, riefen sie Ihren Soldatenkameraden zu: "Verweigert die
Befehle". Wie geplant, wechselte ein Soldat sogar die Fronten und lief zu
den "Rückzugsgegnern" über. Am Ende wurde mit einem Kran kein Käfig sondern
ein ganzer Container zu dem Dach hochgehievt, bis schließlich mit geübten
Handgriffen alle 75 Gegner und Räumer im braunen Container sicher zur ebenen
Erde herabgelassen wurden. Zwischendurch explodierte auch noch eine
"palästinensische Rakete" inmitten der Räumungsübung, sodass mit viel
Ketschup beschmierte Soldaten als "Tote und Verletzte" abtransportiert
werden mussten.
Seit Wochen üben tausende Soldaten für die Stunde X. In der kommenden Woche
wird es bei höllischen Temperaturen soweit sein. 44 Grad Hitze und
unerträgliche Luftfeuchtigkeit prophezeit Wetterfrosch Dani Rupp. Am Sonntag
Abend soll der Zugang zum Gazastreifen hermetisch abgesperrt werden. Zwei
Tage lang werden dann die tatsächlichen und vermeintlichen Bewohner des
Siedlungsblocks "Gusch Katif" die Chance haben, ihre Habseligkeiten in
Kartons und Container zu packen und das Gelände für immer zu verlassen.
Gemäß Schätzungen der Militärs dürften sich trotz der Kontrollen etwa 4000
radikale Rückzugsgegner aus Israel eingeschlichen haben. Einige plünderten
verlassene Siedlerhäuser. Andere haben am Strand zwischen ehemaligen
ägyptischen Offiziershäusern ein riesiges Zeltlager eingerichtet. In diesem
von der Armee bewachten Lager "Meeresgesang", aber auch in besonders
fanatischen Siedlungen wie Netzarim und Kfar Darom, wird der schlimmste
Widerstand befürchtet. Etwa die Hälfte der ursprünglichen 8000 Siedler sind
schon nach Israel umgezogen.
Am Dienstag werden in drei Kilometer langen Konvois rund 50.000 Soldaten,
organisiert in zwei "Räumungsdivisionen", mit Bussen, Kränen, Bulldozern und
gepanzerten Fahrzeugen in den Siedlungsblock vorrücken. Erst umstellen
hunderte Soldaten die Siedlung. Kleinere Trupps umstellen das zu räumende
Haus. Sieben Soldaten dringen in das Haus ein. Jeweils vier Soldaten sollen
widerstrebende Siedler einzeln heraustragen.
Ehe ein Bulldozer das Haus platt walzt, werden alle zurückgelassenen
Habseligkeiten fotografiert, registriert und schnell in Container gepackt.
Niemand weiß, wie viele Siedler aktiven Widerstand leisten wollen. Die
meisten Waffen dürften schon abgegeben worden sein, aber nicht alle.
Unbekannt ist auch, welche nicht-publizierten Tricks die Armee bereit hält,
falls es während des Rückzugs zu palästinensischen Raketenangriffen kommen
sollte. Gerüchteweise könnten manche Siedler mit Hubschraubern ausgeflogen,
oder mit Luftkissenbooten übers Meer evakuiert werden.
© Ulrich Sahm / haGalil.com
hagalil.com 11-08-2005 |