Märkische Halluzinationen:
Die Potsdamer "Gewaltspirale"In Potsdam
herrscht ein Klima rechtsextremer Bedrohung
Potsdam - Am vergangenen Wochenende überfielen zirka 15
einschlägig bekannte Rechtsextreme einen Angehörigen der linken Szene und
seinen Freund. Mit abgeschlagenen Flaschen und mit Springerstiefel-Tritten
ins Gesicht bzw. auf den Kopf wurden die beiden Opfer des rechtsextremen
Terrors der letzten Woche traktiert. Das eine Opfer erlitt unter Anderem
eine zentimeterlange Schnittverletzung am Kinn, das zweite musste mehrere
Tage wegen eines Schädel-Hirn-Traumas stationär im Krankenhaus behandelt
werden.
In den Augen des diensthabenden Haftrichters handelte es
sich hierbei lediglich um eine „gefährliche Körperverletzung“ – die Täter
sind demnach weitgehend auf freiem Fuß. Die Lokalpresse redet von einer
„Gewaltspirale“ und kriegsähnlichen Szenarien zwischen rechten und linken
Jugendlichen. Sowohl die öffentliche Hatz gegen angebliche linke Killer als
auch der ständige Vergleich zwischen Rechts und Links täuschen über die
realen Verhältnisse hinweg. Es gibt in Potsdam keine „Gewaltspirale“, in der
sich linke und rechte Jugendliche regelmäßig gegenseitig die Köpfe
einschlagen. Vielmehr herrscht in Potsdam ein Klima rechtsextremer
Bedrohung, wie es diese Stadt seit Jahren nicht mehr erlebt hat. Teilnehmer
vermeintlich linker Veranstaltungen werden angegriffen, alternative
Jugendliche auf offener Straße mit Waffen bedroht, Fensterscheiben
eingeworfen usw. Auf einer spontanen Demonstration gegen rechte Gewalt am
Dienstag verteilten die Demonstranten Flugblätter mit einer Chronik rechter
Übergriffe der letzten zwei Monate*.
Dieser ganzen Kette von Gewalttaten gegenüber steht ein einziger Übergriff
von linken Jugendlichen auf einen einschlägig vorbestraften Rechtsextremen,
der – ohne dies in irgendeiner Weise gutheißen zu wollen – außer einer
Platzwunde und einigen Prellungen keinerlei Schäden davontrug. Wegen dieser
augenscheinlich harmlosen Schlägerei wird wegen versuchten Mordes ermittelt.
Eine 21-jährige Jugendliche sitzt seit Wochen deshalb in Untersuchungshaft.
Der Verein „Chamäleon e.V.“, in welchem sie mitarbeitet, wird von Sven Petke
(CDU) in Sippenhaft genommen – er fordert die Stadt in seiner jüngsten
Pressemitteilung auf, die Förderungen an den Verein zu streichen – als wenn
die Beschuldigte im Namen des Vereins handelte. Das ist nicht der erste
Vorfall, in dem Petke Ermittlungsergebnisse vorwegnimmt und gegen
linksalternative Projekte hetzt. Damit stellt er sich auf dieselbe Stufe mit
Neonazi-Schlägern, die mehrfach das Vereinsgebäude des Chamäleon e.V.
beschädigten und die Bewohner bedrohten - der Unterschied besteht nur in den
Methode. Leider bemüht sich die Presse ebenso, einen Zusammenhang zu dem
Überfall auf den Chamäleon e.V. in der Silvesternacht 2002/2003
herzustellen. Für dieses inszenierte Schmierentheater genügt hier allein die
personelle Überschneidung.
Die zuständige Staatsanwaltschaft und das Polizeipräsidium Potsdam sind
offenbar ebenso der Wahnvorstellung eines Kleinkrieges zwischen Rechts und
Links erlegen. In einer gemeinsamen Pressemitteilung heißt ist von
„wechselseitigen Gewaltstraftaten“ die Rede. Man wolle mit einer neuen
Ermittlungsgruppe „eine weitere Eskalation von politisch-motivierter Gewalt“
verhindern. Wie bereits geschildert gab es im Jahr 2005 lediglich eine
registrierte Gewalttat Links gegen Rechts in Potsdam, dafür aber über zehn
Vorfälle von rechts allein in den letzten beiden Monaten. Die
Arbeitsgemeinschaft Antifaschismus möchte in diesem Zusammenhang ebenso
darauf hinweisen, dass ein Opfer des Übergriffes vom Wochenende in keinerlei
Hinsicht politisch aktiv ist. Neonazis ist es egal, ob jemand den sie für
links oder einen sonstigen Gegner halten, dies auch wirklich ist. Jeder kann
der nächste sein: ein politischer Aufnäher, eine alternative Frisur, eine
krumme Nase, die falsche Hautfarbe, ein T-Shirt einer linken Musikgruppe
oder eben Engagement gegen Rechts sind Anlass genug, um Opfer rechter Gewalt
zu werden.
Die Polizei hat bisher keine vernünftige Strategie, um gegen die
überschaubare Gruppe von Neonazis vorzugehen, die in den vergangenen Wochen
für fast sämtliche rechten Straftaten in Potsdam verantwortlich ist.
Polizisten, die in die Aufklärung diverser rechter Straftaten in den letzten
Wochen involviert sind, äußerten persönliche Angstgefühle, bestätigten ein
Klima der Unsicherheit und bestätigten, dass es Koordinationsprobleme bei
der Polizei gebe. So wird der Staatsschutz zu spät oder gar nicht zu
Straftaten mit rechtem Hintergrund gerufen. Bereitschaftspolizei und
Revierpolizisten funken auf unterschiedlichen Frequenzen.
Anstatt also den Teufel an die Wand zu malen, wäre es angebracht, die
Ermittlungsarbeiten auf die rechtsextreme Gruppe zu forcieren, welche – wie
bereits erwähnt – seit Wochen die Straße Potsdams unsicher macht. Besonders
pikant ist hierbei, dass Potsdamer Neonazis und Berliner Aktive aus den
„freien Kameradschaften“ gemeinsam agieren. Ein großer Teil der beteiligten
Berliner Neonazis ist der „Kameradschaft Tor“ und der „Berliner Alternative
Süd-Ost“ zuzuordnen. Beide Organisationen wurden Anfang März vom Berliner
Innensenator Körting (SPD) verboten. Die betroffenen Neonazis legten
hiergegen Widerspruch ein. Es ist offensichtlich, dass Berliner Neonazis ihr
Betätigungsfeld nach Potsdam verlagern, um der Repression in Berlin zu
entgehen. Die Potsdamer Gruppe, die an den letzten Ereignissen beteiligt
hat, nennt sich „Anti-Antifa Potsdam“. Tatsächlich arbeiten Potsdamer
Neonazis vorrangig gegen ihren politischen Feind – daher der Name
Anti-Antifa. Hier sei an die bekannt gewordenen Homepages eines „Anti-Antifa
Networks“ erinnert, die bereits für Schlagzeilen sorgen. Das neueste Projekt
im Internet ist hierbei die „Initiative Linke Übergriffe in Berlin/Potsdam“,
die mittels eines Internet-Meldeformulars angeblich linke Übergriffe
sammelt. Für den ursprünglichen Provider der Seite war nach einem Hinweis
schnell klar, dass die Seite abgeschaltet wird. Mittlerweile ist sie auf
einem bundesweiten Neonazi-Server gehostet. das macht deutlich, dass die
lokal aktiven Neonazis gute Kontakte in größere, überregional aktive
Netzwerke haben.
Der Traum von einer „national befreiten Zone“ in Potsdam darf nicht in
Erfüllung gehen – dies ist sowohl Aufgabe von Polizei und Justiz als auch
von bürgerlichem Engagement gegen Rechts. Der ständige Vergleich zwischen
Links und Rechts sowie das Herbeireden einer Streitigkeit zwischen politisch
unterschiedlich gelagerten Gruppierungen verharmlost die Gefahr, die von den
Rechtsextremen ausgeht und sorgt für eine Repression gegen Links, die
weiterhin die effektivste Arbeit gegen Rechtsextremismus leistet. Anstatt
eine regelrechte Hetzkampagne gegen alternative Projekte loszutreten,
sollten sich politische Akteure auf die Ursache der neonazistischen
Gewaltwelle konzentrieren: Die rechtsextremen Täter, ihr Weltbild,
Aktionsformen und Auftreten.
Antifaschistische Gruppierungen und die vielschichtigen Initiativen, welche
von linksalternativen Potsdamerinnen und Potsdamern angestoßen worden, sind
hierbei die Ansprechpartner und nicht etwa Feinde der Demokratie. Nicht
jedes Projekt, was sich gegen Rechts engagiert ist gleich gewalttätig,
sondern in erster Linie ein Partner, der sich in der Materie auskennt und
damit Fakten ans Licht bringen kann.
Quelle: Arbeitsgemeinschaft Antifaschismus an der
Universität Potsdam, www.inforiot.de -
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hagalil.com 06-07-2005 |