"Ich schreibe über Familien":
Ein Gespräch mit Amos Oz
Von Ramon Schack
Amos OZ wurde am 4. Mai 1939 als Amos
Klausner in Jerusalem geboren. Als Sohn von Einwanderern aus Osteuropa war
seine Kindheit geprägt von den Schatten des Zweiten Weltkrieges, dem
Holocaust und den dramatischen Ereignissen um die Gründung des Staates
Israel 1948. Nach dem Tod seiner Mutter zog er 1954 in den Kibutz Hulda und
nannte sich von nun an Amos Oz (hebr: Kraft). Seit 1986 lebt er mit seiner
Familie in der Stadt Arad, in der Negev-Wüste.
Amos Oz gilt international als einer der
prominentesten Schriftsteller Israels. 1992 erhielt er den Friedenspreis des
Deutschen Buchhandels, 1998 den Israel-Preis für Literatur. Er ist Mitglied
der Akademie der Hebräischen Sprache und Professor für Hebräische Literatur
an der Ben-Gurion-Universität in Beer Sheva. Amos Oz ist eines der
Gründungsmitglieder von "Shalom Achschaw", der israelischen
Friedensbewegung. Soeben ist bei Suhrkamp sein neuester Roman "Eine
Geschichte von Liebe und Finsterniss" erschienen.
Ramon Schack: Herr Oz, rund 50 Jahre nach dem
Selbstmord Ihrer Mutter haben Sie mit der Veröffentlichung Ihres Buches
"Eine Geschichte von Liebe und Finsternis" Ihre Leser weltweit über diesen
tragischen Aspekt Ihrer Kindheit und Jugend und möglicherweise Ihres ganzen
Lebens informiert. Was hat Sie bewogen, dieses persönliche Drama literarisch
zu verarbeiten?
Oz: Ich schreibe keine Bücher mit dem
Hintergedanken an meine internationalen Leser. Bei der Entstehung dieses
Buches hatte ich die Absicht, meine Eltern meinen Kindern näherzubringen und
meine Großeltern meinen eigenen Enkelkindern. Über meine Mutter habe ich
mein Leben lang fast nie gesprochen.
Nicht mit meinen Kindern und mit keinem anderen Menschen.
Bis zu dem Tag, als ich mit der Arbeit an dem Buch begonnen habe. Ich hätte
dieses Buch wahrscheinlich auch nicht früher schreiben können und deshalb
hat es Jahrzehnte gedauert, mich dieses Themas anzunehmen. Solange ich
erfüllt war mit Wut - Wut auf meine Mutter, weil sie mich im Stich gelassen
hatte, Wut auf meinen Vater, weil er sie hat gehen lassen, ja und auch Wut
auf mich selbst, da ich nichts tun konnte um die Tragödie zu verhindern -
war, es mir nicht möglich , mich mit diesem Thema auseinanderzusetzen.
Ihre Eltern waren europäische Intellektuelle. War der
Verlust der geistigen und kulturellen Heimat Europas möglicherweise eine
Ursache für den Freitod Ihrer Mutter?
Meine Eltern und auch meine Großeltern waren so etwas wie
enttäuschte und verschmähte Liebhaber Europas. Sie haben sich bis zu Ihrer
Übersiedlung nach Palästina weder als Litauer, Polen oder Russen definiert,
sondern immer als Europäer und Kosmopoliten. Und das zu einer Zeit, als
dieses sehr gefährlich war. Mein Vater sprach bis zu elf, meine Mutter vier
bis fünf Fremdsprachen; mir haben sie einzig und alleine Hebräisch
beigebracht.
Sie wußten von der Ausstrahlungskraft und Verführungskunst
der europäischen Kultur und wollten mich vor den Enttäuschungen ihres Lebens
und vor den von diesem Kontinent ausgehenden Gefahren für Juden der 30er und
40 er Jahre des letzten Jahrhunderts bewahren.
In Israel versuchten sie, ihr Weltbürgertum gegen einen
jüdischen Nationalismus einzutauschen, blieben dabei aber Fremde in der
neuen Heimat. Besonders meine Mutter hat den Verlust ihrer geistigen und
kulturellen Heimat Europa niemals verkraftet. Sicherlich war das neben
anderen einer der Hauptgründe für ihren Suizid. Ihr Schicksal steht dabei
stellvertretend für das Schicksal zahlreicher Einwanderer in das
Mandatsgebiet Palästina zu jener Zeit.
Ihr Buch "Eine Geschichte von Liebe und Finsternis"
beschreibt das Leben der Menschen unmittelbar vor und nach der Gründung des
Staates Israel 1948. Haben Sie selbst nostalgische Gefühle gegenüber diesem
Land Ihrer Kindheit und Jugend, einem Land das damals in jeder Hinsicht noch
geprägt war von den aschkenasischen Eliten, also Einwanderern aus Mittel-und
Osteuropa? Und wo liegt der Unterschied zum heutigen Israel?
Ich würde mein Buch "Eine Geschichte von Liebe und
Finsternis" sicherlich nicht als eine nostalgische Reise in die
Vergangenheit beschreiben. Das Israel meiner Kindheit und Jugend war alles
andere als ein romantischer Ort. Es glich vielmehr einem halb-hysterischen
Flüchtlingslager, bevölkert von traumatischen Menschen, die unter der
Bedrohung einer totalen Vernichtung ihres Staates, wie auch Ihrer physischen
Existenz lebten. Das heutige Israel unterscheidet sich davon erheblich. Aber
auch nicht in jeglicher Hinsicht. Unter der Oberfläche einer modernen
westlichen Gesellschaft ist das heutige Israel immer noch ein
traumatisiertes, halb-hysterisches Flüchtlingslager geblieben. Um Ihnen eine
Frage zu beantworten, die Sie mir nicht gestellt haben: Auch Palästina ist
ein traumatisiertes, halb-hysterisches Flüchtlingslager, was auch die
tragische Komponente des Konfliktes beider Völker ausmacht. Ein Konflikt
zwischen zwei Flüchtlingslagern, zwischen zwei Völkern, die beide Opfer
sind.
Um zu Ihrer Frage zurückzukehren: Mit diesem Buch wollte
ich nicht nur die Geschichte meiner Familie erzählen, sondern auch das Leben
und die Gesellschaft der jüdischen Gemeinschaft in Palästina und des jungen
Staates Israel darstellen und es somit vor dem Vergessen und vor der
unbarmherzigen Erosionskraft der Zeit bewahren. Es handelt sich dabei nicht
um eine Art soziologische Beschreibung, sondern vielmehr um die
Tragikkomödie von Menschen in einer Einwanderungsgesellschaft in einem
harten Land in unsicheren Zeiten.
In Ihren Büchern werden immer wieder Familien und die
Beziehungen von Familien zueinander thematisiert. Handelt es sich dabei um
universelle Geschichten oder eher um spezifisch israelische Erzählungen, die
aufgrund der politischen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen so nur
Ihrer Heimat stattfinden können?
Wenn ich meine schriftstellerische Arbeit in einem Satz
zusammenfassen sollte, dann würde ich sagen: Ich schreibe über Familien.
Familien als Institutionen sind die kompliziertesten, mysteriösisten und
konfliktreichsten Einrichtungen der Menschheit. Sie funktionieren und
scheitern weltweit: in Israel, in Deutschland und in Afghanistan
beispielsweise.
Aber doch auf jeweils sehr unterschiedliche Art und
Weise?
Sicherlich. Aber weltweit funktionieren Familien mit all
ihren Widersprüchen und permanenten Frustrationen, mit Hoffnungen und
immanenten Enttäuschungen - die Kombination aus menschlicher Tragödie und
Komödie. Das ist der Schwerpunkt meiner Arbeit. Je provinzieller und lokal
begrenzter Literatur angelegt ist, um so besser wird sie international
aufgenommen. Literatur, die versucht international zu sein, deren
Geschichten in internationalen Flughäfen und Hotels spielen, schnell gelesen
von Menschen in internationalen Flughäfen und Hotels, um dann vor Ort
achtlos zurückgelassen zu werden, wie ein Gebrauchsgegenstand, erzielt in
der Regel keine internationale Aufmerksamkeit, sondern fungiert eher als
kurzweiliger Pausenfüller. "Eine Geschichte von Liebe und Finsternis" habe
ich so geschrieben wie alle meine Bücher zuvor auch: als eine regional
verankerte und provinzielle, paradoxe Geschichte über Orte und Zeiten. Wie
ich sie auch als Leser von Literatur, die ich zu schätzen weiß, bevorzuge.
In Ihrem 1982 veröffentlichten Buch "Im Lande Israel"
besuchen Sie Stätten Ihrer Kindheit, dokumentieren die Veränderungen und
beschreiben Begegnungen mit Menschen aus den verschiedensten Bereichen der
Gesellschaft Israels. Sie gehen in diesem Buch auch auf die Konflikte
zwischen religiösen und Säkularen, Sephardim und Aschkenasim ein. Inwieweit
spiegelt sich die tiefe Spaltung der israelischen Gesellschaft bei der
Reaktion auf Ihre Bücher wie auch bei Ihrem politischen Engagement? Werden
Ihre Bücher in Israel von einem breiten gesellschaftlichen Spektrum
wahrgenommen oder doch eher von einer gebildeten Oberschicht?
Bezogen auf die Höhe der Auflagen oder der Verkaufszahlen
finden meine Bücher eine breite Leserschaft in Israel. Aber meine Bücher und
meine politischen Stellungnahmen werden kontrovers diskutiert und sind
umstritten. Einige Israelis halten meine Arbeit für politisch gefährlich,
explosiv und nicht patriotisch genug. Andere wiederum vermissen konkrete
politische Aussagen und verlangen ein stärkeres Engagement. Ich denke, wer
meine meine Bücher liest, um darin konkrete politische Botschaften zu
finden, verschwendet seine Zeit. Wenn ich mir wünsche, die aktuelle
politische israelische Regierung möge sich zum Teufel scheren, dann schreibe
ich einen Artikel oder einen Essay in Zeitungen, bevorzugt in rechten
Publikationen, um meine politischen Gegner zu erreichen, aber sicher keinen
Roman. Ich denke, die meisten Israelis kennen meine politischen Kernaussagen
und meine Arbeit als politisch denkender Mensch.
Als ausländischer Beobachter könnte man den Eindruck
gewinnen, die politische Linke in Israel, also das politische Spektrum, dem
Sie angehören, verliert permanent an Einfluss. Halten Sie dieses Phänomen
für einen vorübergehenden Trend oder eher für eine unumkehrbare Entwicklung?
Das ist eine sehr komplexe Frage. Sie haben recht, die
Mitte-Links-Parteien befinden sich in einer tiefen Krise. Allerdings stelle
ich fest, dass die politischen Grundsätze, für die meine Freunde und
Weggefährten seit 1967 kämpfen, inzwischen von der jetzigen Likud-Regierung
propagiert werden. Auch die neue israelische Mittelklasse, welche nicht mehr
mit der traditionellen Mittelschicht identisch ist, hat mehr oder weniger
die schmerzhaften Kompromisse bezüglich der Zwei-Staaten-Lösung und des
Rückzugs aus den besetzten Gebieten verinnerlicht. Politische Dogmen
scheinen sich also aufzulösen. Die aktuelle Debatte ist eher von der
Einsicht in die Notwendigkeit als von Dogmen dominiert. Wenn ich Herrn
Sharon heute von der Zwei-Staaten-Lösung reden höre, ist er mit Sicherheit
noch lange keines meiner politischen Idole. Ich stelle dann aber mit
Genugtuung fest, dass sich Sharon einer Sprache bedient, für die ich noch
vor einigen Jahren als Verräter tituliert worden bin - und zwar von ihm
selbst und den Mitgliedern seiner Partei. Während die politische Linke unter
einer schmerzhaften Auszehrung leidet, befindet sich das rechte und
religiöse Spektrum in einem Stadium des totalen politischen Bankrotts der
Unglaubwürdigkeit und des absoluten mangels an politischen Alternativen,
geschweige denn eigenen Grundsätzen.
Erwarten Sie nach dem Tod von Arafat positive
Auswirkungen auf den Friedensprozess?
Arafat gehörte niemals zu meinen politischen Helden. Er
war ein fürchterlicher Präsident für die Palästinenser, so wie Sharon ein
fürchterlicher Premierminister für Israel ist. Beide Völker haben etwas
Besseres verdient. Die israelische Okkupation muss beendet werden, eher
gestern als heute. Die ersten Schritte werden ja gerade eingeleitet. Die
Zweistaaten-Lösung ist die einzige realistische Alternative. Trotzdem glaube
ich nicht, dass die palästinensischen Fundamentalisten uns dann in Ruhe
lassen werden. Diese Leute haben nur ein Ziel, die Vernichtung Israels. Als
Jude und Israeli bin ich natürlich nicht begeistert von diesen Alternativen,
trotzdem ist die Zwei-Staaten-Lösung der einzige realistische Weg. Israel
hat kein Recht, die Palästinenser unter Besatzung leben zu lassen.
Selbstverteidigung ist eine Sache, Besatzung eine andere. Bis zu einem
wahren Frieden zwischen beiden Völkern wird es noch einige Zeit brauchen.
Was bedeutet Ihnen Israel persönlich?
Israel war der Rettungsanker für meine Großeltern und
meine Eltern. Ohne die Existenz Israels wären sie ermordet worden. Ebenso
wie eine halbe Millionen andere Juden, die damals in Palästina und später in
Israel eine Heimat gefunden hatten.
Israel ist ein Land und eine Gesellschaft, die ich liebe,
selbst dann, wenn ich diese nicht ausstehen kann. Selbst dann, wenn ich
frustriert und verärgert bin, wenn ich die Schwächen und Fehler, die
Missstände und Konflikte beklage, bleibt meine Liebe erhalten.
Israel ist eine sehr argumentative Gesellschaft mit einem
tiefverwurzelten anarchistischen Gen. Es ist eine Gesellschaft, bestehend
aus 6,5 Millionen Priestern, Propheten und Missionaren. Jeder schreit -
niemand hört zu. Mit Ausnahme von mir natürlich. Ich höre wenigstens
manchmal zu. Das Leben in Israel ist nicht immer einfach. Aber diese
Atmosphäre kenne ich seit meiner Geburt, und nur in diesem Umfeld konnte ich
mich kulturell entfalten. Ich denke, ich könnte in keiner Gesellschaft
leben, wo alle Menschen entweder zufrieden oder passiv melancholisch
veranlagt sind - wie beispielsweise in vielen Gesellschaften Europas.
Ich liebe die ausgeprägte Streit- und Diskussionskultur
Israels. Wenn ich in einem Café sitze, in einen Bus steige oder mich in
einer Warteschlange vor einer Klinik befinde, beginnen sofort Konversationen
und Diskussionen mit völlig fremden Menschen. Das fehlt mir dann im Ausland
doch sehr.
Vielen Dank, Amos Oz.
hagalil.com 02-06-2005 |