Kameri zeigt spiegelgleiche Gesellschaften:
Verwirrtes Theater
Von Ulrich W. Sahm, Jerusalem
Zwei Soldaten mit Gewehr stehen am Eingang des Saals 4
im Tel Aviver Kameri Theater. Unwirsch fordern sie: "Ausweis". Das
Eintrittsbillet zum Stück "Verwirrung" reicht nicht. "Haben Sie keinen
Ausweis?" schnauzt der missgelaunte Soldat und stößt arabische Flüche aus.
So werden die Zuschauer in eine groteske Wirklichkeit mitten in ihrem Land
eingeführt. Neun junge Schauspieler, Juden wie Palästinenser, spielen
abwechselnd den israelischen Besatzungssoldaten, den palästinensischen
Selbstmordattentäter, den unterdrückten Araber, die jüdische Frau, die bei
einem Terroranschlag ihr Kind verlor. Soldaten versetzen einen verhafteten
palästinensischen Steinewerfer in Todesangst, indem sie ihm die Hinrichtung
androhen, aber in die Luft schießen. Sie bringen den Jungen nach Hause, wo
ihn dessen Vater fast zu Tode prügelt. Die verblüfften Soldaten gebieten dem
Vater Einhalt. Der Palästinenser brüllt die Israelis an: "Dies ist mein
Land. Das ist mein Haus. Macht mir keine Vorschriften, wie ich mein Kind zu
erziehen habe."
In der nächsten Szene steht die "mausgraue Mauer", wie sie Israel zum Schutz
vor Terror errichtet, "mitten in der Wohnung" eines Palästinensers. Der will
zur Toilette "jenseits der Mauer". Der Mauer-Erbauer fordert den
Palästinenser auf "zu helfen, statt zu diskutieren". Fügsam hält der
Palästinenser das Zentimetermaß. Die Frau des Palästinensers ruft ihrem Mann
zu: "Wie kannst du nur den Israelis helfen?" Solidarisch erwidern die
Männer: "Stör uns nicht bei der Arbeit". Auch in der Wirklichkeit sind die
Grenzen der Feindschaft fließend. Wen stört es ernsthaft, dass eine Firma
des palästinensischen Ministerpräsidenten den Zement für die Segmente der
"Mauer" liefert? Und wer errichtet die Siedlungen, wenn nicht
palästinensische Arbeiter?
Der Zuschauer ist verwirrt, zumal die Schauspielerin, die eben noch fröhlich
als palästinensische "Schahida", Selbstmordattentäterin, herumtanzte,
Minuten später die fromme jüdische Siedlerin spielt.
"Es ist das erste zweisprachige Theaterstück in Arabisch und Hebräisch",
sagt nach der Vorstellung Theaterdirektor Noam Semel. Die Übersetzung wird
an eine Wand geworfen. Die "Israelis" sagen exakt das Gleiche wie die
"Palästinenser". Beide Gesellschaften werden wie ein Spiegel dargeboten, was
manche emotionalisierte Zuschauer nicht wahrhaben wollen. "Die Araber sind
mir nicht aggressiv genug dargestellt worden, während die Kritik an der
israelischen Seite übertrieben ist", meinte eine israelische Frau. "Das
Stück ist eindeutig pro-israelisch", beschwerten sich palästinensische
Zuschauer nach einer Vorstellung in Ostjerusalem. Manche Zuschauer waren aus
persönlicher Betroffenheit den Tränen nahe, während eingeladene Journalisten
lachten. Presseleute kennen die Wirklichkeit beiderseits der "Mauer" und
wissen, dass Israelis und Palästinenser allen kulturellen, religiösen und
politischen Gegensätzen zum Trotz fast identisch reden und denken, mit
umgekehrten Vorzeichen. Genau das haben die Schauspieler mit eingearbeiteten
eigenen Erlebnissen und subtilen wie grotesken Pointen hervorgehoben. Das
Theaterstück, auf Hebräisch "Plonter" genannt, könnte Verwirrung, Knoten
oder Durcheinander heißen.
Die Schauspieler sind ein bunter Haufen, Moslems, Christen und Juden,
darunter Abgänger israelischer Kampfeinheiten und echte Siedler. Nach ihrer
"Identität" gefragt sagt die bildhübsche Schauspielerin Raida Adon, 33, auf
dem Heimweg nach Jerusalem: "Ich bin muslimisch geboren, katholisch getauft
und halte die jüdischen Sabbatgesetze." Als siebenjährige hatte sie die
Ehre, in ihrer Schule die israelische Flagge zu hissen. Mit 19 zog sie für
zwei Jahre in ein Kloster. 2001 bedrohten sie jüdischen Nachbarn, weil sie
Araberin sei. Sie wurde als "Terroristin" verdächtigt. Heute wohnt sie in
einer Studentenbude im vornehmen Jerusalemer Viertel Rehavia neben Café
Moment, das im März 2002 von einem Selbstmordattentäter gesprengt wurde. Auf
der anderen Straßenseite befindet sich die Residenz des Ariel Scharon.
"Ich suche noch meine Identität", sagt Raida Adon zum Abschied.
[FORUM]
© Ulrich Sahm/haGalil.com
hagalil.com 07-06-2005 |