Von Ulrich W. Sahm, Jerusalem
Hilal Mejaide, mit Unterhemd und Jeans bekleidet, liegt bewusstlos am
Boden. An der Stirn ein Blutfleck. Ein Stein hatte ihn am Kopf getroffen.
Ein Soldat kniet neben dem 15-jährigen Araber. "Falls Du ihn behandelst,
werden wir Dich umbringen", ruft ein Minderjähriger mit Schläfenlocken und
handtellergroßer Kipa auf dem Kopf, Kennzeichen der extremistischen
Kahana-Bewegung, dem Soldaten zu. Der Sanitäter öffnet dem Verletzten den
Gürtel. Wegen der Drohungen rückt er zögernd zur Seite. "Das ist ein Araber,
bringt ihn um", brüllen die rechtsradikalen "Demonstranten" und werfen
weitere Steine ins Gesicht des Verletzten. Der Militärsanitäter hält seine
Waffe in der Hand. Aber die Steine machen ihm Angst. Er überlässt den
Verletzten dem Schicksal.
Seit den Morgenstunden des Mittwoch wütet eine Schlacht zwischen
radikalen Rückzugsgegnern und Muwassi-Arabern. Israelischen Soldaten und
Journalisten geraten zwischen die Fronten. Rechtsradikale Juden hatten die
Trümmer verlassener ägyptischer Häuser besetzt. Die waren von der Armee
teilweise am Dienstag zerstört worden, um den Rückzugsgegnern nicht als
"Stellung" zu dienen. Im benachbarten ehemaligen Ferienclub der Siedler am
Strand von Gaza haben sich Rechtsextremisten aus ganz Israel und aus dem
Westjordanland eingefunden. Verteidigungsminister Schaul Mofas beschloss,
die Extremisten zu verhaften. Ein Sturm mit Sondereinheiten auf das "Hotel
Palm Beach", von seinen Besatzern in "Meeresfestung" umbenannt, wird
verraten. Die Blitzaktion wird abgesagt. Die Extremisten sind schwer
bewaffnet und zu gewalttätigem Widerstand bereit. Am Mittwochmorgen nisteten
sie sich zudem im Haus eines Palästinensers ein.
In der Siedler-Enklave Gusch Katif im Süden des Gazastreifens leben neben
rund 6000 Siedlern auch 8000 "Muwassi-Araber". Diese Beduinen sind keine
"Palästinenser" gemäß ihrem Selbstverständnis. Sie leben von Landwirtschaft.
Ihre Fußballfeld-großen Felder sind tief den sandigen Boden eingegraben und
von hohen Wällen umgeben. Nur so können die Wurzeln des angebauten Gemüses
das Grundwasser erreichen. Viele Muwassi-Araber haben sich bei den Siedlern
als Arbeiter in Gewächshäusern verdingt. Manche gelten als "Kollaborateure".
Bis vor Kurzem waren die Beziehungen zwischen Siedlern und Muwassi-Arabern
ohne Spannungen. "Die waren noch nie an Terroranschlägen beteiligt",
erklärte ein israelischer Wächter bei einer verlassenen Ferienanlage der
Siedler, als er den Weg zur nächsten Siedlung durch das Muwassi Gelände
wies.
Die Schlacht am Mittwoch nimmt immer gefährlichere Formen an. Soldaten
schießen in die Luft, um die erhitzten Gemüter zu beruhigen. Zu wenige
Soldaten sind vor Ort, um die minderjährigen Extremisten zu verhaften und
das besetzte Haus zu stürmen. Sowie die "Lynchjustiz" an Hilal Mejaide ihren
Lauf nimmt, fassen sich israelische Journalisten ein Herz "einzugreifen und
nicht nur zu beobachten". Steine hatten schon die Scheiben ihrer Fahrzeuge
zertrümmert. Die Reporter hatten Deckung bezogen, um nicht getroffen zu
werden. Doch sowie sie den schwerverletzten Jungen am Boden sehen und der
Militärsanitäter ihn im Stich lässt, greifen sie ein. "Bist du verrückt, du
bringst ihn um", schreit der Reporter Nir Hasson einem jüdischen Extremisten
zu. Doch die Fanatiker lachen nur. Am nächsten Tag berichtet er in seiner
Zeitung: "Ich sah Mordlust in ihren Augen. Zum ersten Mal in meinem Leben
wurde ich Zeuge eines vorsätzlichen Mordversuchs." Journalisten greifen den
Verletzten und schleppen ihn zu einer Ambulanz. Hilal wird in Khan Younis
ins Hospital eingeliefert. Er schwebt noch in Lebensgefahr.
Die Szene spielte sich vor laufenden Kameras ab. "Das ist ein Kampf um
unseren Staat. Diese Gesetzlosigkeit muss gestoppt werden", reagiert
Premierminister Ariel Scharon. Amram Mitzna, ex-General und heute Politiker,
konnte die ganze Nacht nicht schlafen: "Da sind alle rote Linien
überschritten worden. Der Sanitäter hätte auf die Steinewerfer schießen
müssen, um den Verletzten zu schützen." Ein Siedlerrabbiner ist erschüttert:
"Jene, die da angeblich im Namen Gottes um das Land kämpfen sind gottlose
Verbrecher und gewalttätige Provokateure. Sie gehören ins Gefängnis. Viele
sind nicht einmal Israelis. Sie sollten deportiert werden." Ein Sprecher der
Siedlerbewegung distanziert sich von den Extremisten und gesteht, dass
dieses Vorgehen "die Sympathien für die Rückzugsgegner in der Bevölkerung
verspielt". Vier Tage Gewalt durch angereiste Extremisten reichten aus, die
delikaten Beziehungen zwischen den Siedlern und den Muwassi-Arabern zu
zerstören. Am Abend stürmen Grenzschützer das Haus, in dem sich die
Jugendlichen einquartiert hatten. An den Wänden sehen die üblichen Sprüche
von Anhängern der verbotenen Kach-Partei: "Tod den Arabern" und "Kahana hat
doch recht".
47 Tage vor dem Rückzug und früher als geplant, wurde am Donnerstag der
Siedlungsblock Gusch Katif zum "militärischen Sperrgebiet" erklärt und für
israelische "Besucher" gesperrt. Der Rückzug hat begonnen, aber auch der
befürchtete "Bürgerkrieg". Niemand weiß, wie die Regierung den Kampf gegen
die Fanatiker gewinnen kann, trotz rund 1000 Verhaftungen. Unter den
Rückzugsgegnern dämmert die Erkenntnis, dass ihr Bündnis mit Extremisten der
Kach-Bewegung zu einem fatalen Selbsttor wird.