Avitall Gerstetter:
"Musik ist transzendental"
Vor sieben
Jahren schrieb sie Geschichte: Avitall Gerstetter wurde die erste
deutsche Kantorin, angestellt bei der Jüdischen Gemeinde ihrer
Heimatstadt Berlin. Nach dem Abitur absolvierte Gerstetter eine
Ausbildung an einer Jeschiwa, einer jüdischen Lehranstalt in
Jerusalem. Danach studierte sie Gesang an der Hochschule der Künste
und Englisch an der TU. Ihre Ausbildung als Kantorin schloss sie
2001 in New York ab. Sie amtiert in der Synagoge an der
Oranienburger Straße und gibt Konzerte in Deutschland, in England,
Italien und den USA. Zwei CDs sind erschienen, mit liturgischen
Gesängen und jiddischen Liedern. Nun hat die Jüdische Gemeinde sie
gekündigt.
Interview: Philipp Gessler
taz: Wir sind hier im
Betraum der Synagoge an der Oranienburger Straße - ist dies ein
besonderer Raum für Sie?
Avitall Gerstetter:
Sicherlich ist das ein ganz besonderer Ort für mich. Ich bin hier
seit sieben Jahren tätig als Kantorin der Jüdischen Gemeinde zu
Berlin. Das ist meine Hauptsynagoge.
Hat der Raum eine besondere
Atmosphäre für Sie?
Ja. Er hat noch etwas Dunkles, was mit
der Vergangenheit dieser Synagoge zusammenhängt - mit dem, was er
erlebt und mitgemacht haben. Man fühlt, da ist noch etwas Gedrücktes
in diesem Raum. Aber durch positive Menschen, von denen einige auch
zur Synagoge kommen am Schabbat-Gottesdienst, wird der Raum mit
Leben gefüllt. Auch durch positive Energie, die ich durch meine
Tätigkeit fördern will.
Sieben Jahre lang haben Sie
hier gesungen - nun hat die Jüdische Gemeinde Ihnen gekündigt. Haben
Sie nicht gut genug gesungen?
Nein, das hat gar nichts mit der
Qualität meines Gesangs zu tun. Ich bin gut ausgebildet als
Kantorin, habe ein Pädagogik- und Englischstudium auf Lehramt
absolviert - habe aber mein Referendariat für den Schuldienst nicht
machen können, weil ich von der Gemeinde einen Vertrag über eine
Festeinstellung bekommen habe. Ich wollte natürlich Kantorin werden.
Sonst wäre ich meinen Weg als Lehrerin schnurstracks weitergegangen.
Kantorin zu sein ist für mich meine Berufung.
Ist Ihre Kündigung Zeichen
eines orthodoxen Durchmarschs in der Jüdischen Gemeinde - auch der
liberale Rabbiner Walter Rothschild und die Rabbinerin Elisa
Klapheck fanden hier keine Anstellung oder verloren sie.
Ich verstehe das überhaupt nicht, da
die Jüdische Gemeinde mich unterstützt hat. Sie hat die Ausbildung
finanziert. Der damalige Vorsitzende, Andreas Nachama, hatte mich
angesprochen, mehrere Seiten haben mich bestärkt, die erste Kantorin
zu werden.
Sie sind gar die erste
Kantorin, die es jemals in Deutschland gab.
Ja, vor dem Krieg gab es auch keine.
Damit bin ich eine Vorreiterin, die es natürlich immer schwer hat.
Die Gemeinde unterstützte mich auf diesem Weg. Sie beauftragten mich
quasi. Sie erkannte, dass ich für sie die Richtige bin, die dieses
Amt machen soll. Und jetzt hat man mich gekündigt! Das kann ich bei
bestem Wissen nicht verstehen - zumal ich sehr viel für diese
Gemeinde getan habe. Das gilt auch für den interreligiösen Dialog.
Ich bin da eine Vorzeigefrau für die Gemeinde.
Ihnen wurde als liberaler
Kantorin gekündigt. Gleichzeitig bekommt die orthodoxe Gruppe Chabad
immer mehr Einfluss, sie wollte bei einem Gemeindefest sogar Männer
und Frauen beim Tanz trennen. Ist das eine Art Kulturkampf in der
Gemeinde?
Der Vorsitzende der Gemeinde, Albert
Meyer, unterstützt immer mehr die orthodoxe Richtung, die jedoch
nicht die ursprünglich orthodoxe ist. Das geht in eine Richtung, die
mich enttäuscht, weil das liberale Judentum schon vor dem Krieg,
gerade in Berlin, blühte. Der Vorsitzende hat immer wieder
öffentlich bekundet, dass er sich für das liberale Judentum
weiterhin einsetzen werde. Mir, die ich dieses liberale Judentum
vertrete und es weiterführen will, ist es unverständlich, dass er an
mir sparen will.
Im Gemeindeparlament hat
die Gruppe Meyers eine 90-Prozent-Mehrheit - trotzdem streitet man
sich dort wie selten zuvor. Gerieten Sie in diesem Streit etwa
zwischen die Räder?
Wahrscheinlich schon. Die Gemeinde muss
eben sparen. Dann ist es immer am einfachsten, am vermeintlich
schwächsten Glied zu sparen, bei mir als einer der Vorreiterinnen
des liberalen Judentums. Es ist ja sonst nicht erklärbar, dass diese
Stelle gestrichen werden soll, obwohl die Synagoge an der
Oranienburger Straße in jedem Stadtführer steht. Das ist die
Synagoge überhaupt in Berlin. Unerklärlich, dass gerade eine solche
Stelle mit dieser Außenwirkung gekürzt werden soll.
Vielleicht gelten Propheten
im eigenen Land einfach nichts. Ihr Renommee außerhalb Berlins
scheint fast größer zu sein als innerhalb der Stadt.
Vielleicht liegt es daran, dass dies
immer noch eine sehr männlich dominierte Gesellschaft hier ist. Den
Vertrag damals habe ich nur mit Männern geschlossen. Nun kommen
solche Kompliziertheiten, dass Frauen das Kantorenamt angeblich
nicht gut genug ausfüllen könnten.
Sie haben schon erwogen,
nach Israel oder New York zu gehen.
Ohne falsche Bescheidenheit: Ich würde
an vielen Orten der Welt sicherlich gern genommen. In den USA, wo
ich meine Ausbildung abgeschlossen habe, waren die Leute begeistert.
In den dortigen Gemeinden habe ich immer wieder gehört: "So eine
Frau, so eine Kantorin hätten wir auch gern!" Ein Mann, der Berlin
vor dem Krieg verlassen hatte, hat mich einmal hier gehört in der
Synagoge bei seinem ersten Besuch der Stadt nach der Schoah. Er
kennt nun viele Kantorinnen und sagte zu mir, dass er eigentlich
keine Frauen in diesem Amt möge - aber ich sei etwas ganz Besonderes
und würde so singen, das Amt so ausfüllen, wie man es ausfüllen
müsse oder sollte.
Zumal Sie Ihr Amt ja auch
hier angetreten haben, um einen Beitrag zum Wiederaufleben des
Judentums in Deutschland zu leisten.
Ganz genau. Das ist mir sehr wichtig.
Meine Großeltern sind in den 30er-Jahren mit gefälschten Pässen nach
Israel emigriert - Gott sei Dank. Sie haben sich dort eine ganz neue
Existenz aufbauen müssen. Meine Eltern sind nach dem Krieg nach
Deutschland, nach Berlin gekommen, einerseits mit einem unguten
Gefühl, andererseits mit dem Willen, wieder jüdisches Leben in
Deutschland aufzubauen zu helfen. Mir, als ihrem Kind, ist es
selbstverständlich auch ein Anliegen, jüdisches Leben und besonders
das Reformjudentum wieder mit aufzubauen. Die jüdischen Menschen
müssen integriert sein in der Gesellschaft, da will ich mithelfen.
Ein Miteinander soll herrschen, weshalb ich jetzt mit dem
Online-Magazin "Hagalil" am kommenden Sonntag ein Fußballspiel
zwischen Muslimen und Juden mit initiiert habe. Die Mannschaften
werden gemischt.
Manche Gemeindemitglieder
nennen Sie den "weiblichen Nachama", in Erinnerung an den
verstorbenen, fast legendären Kantor der Gemeinde, dem
Auschwitz-Überlebenden Estrongo Nachama - ist dieser Vergleich
schmeichelhaft oder eher eine Last?
Nachama hat mich sehr geprägt. Mit
seinem Gesang bin ich aufgewachsen, ich habe ihn Woche für Woche in
der Synagoge gehört. Wenn er nicht da war, hat er mir gefehlt. Er
war für mich der Inbegriff des Kantors. Es ist ein großes
Kompliment, als die Nachfolgerin Nachamas bezeichnet zu werden, weil
er eine Innigkeit hatte, die kaum ein Kantor hat. Und dass mir dies
auch zugeschrieben wird, macht mich sehr glücklich.
Sie haben in Berlin Gesang,
Englisch und Pädagogik studiert, Ihre Ausbildung als Kantorin dann
in New York abgeschlossen. Kann das jüdische Leben hier in Berlin so
selbstverständlich werden wie in New York?
Ich bin sicher, wenn Juden und
Nichtjuden aufeinander zugehen würden, wenn wir Juden uns nicht
abkapseln, die Schtetl-Atmosphäre wieder zu beleben versuchen, uns
stattdessen ein Stück assimilieren und trotzdem florieren - dann
wäre es möglich. Aber das Judentum in Deutschland geht gerade in
eine orthodoxe Richtung, die die andere Frömmigkeitsform ein Stück
ausschließt. Das kann man in einer christlich geprägten
Gesellschaft, in der auch andere Religionen zu finden sind, nicht
tun, sich so abzuschotten.
Sie kommen aus einem
traditionellen jüdischen Elternhaus. Gab es nie eine Zeit, wo Sie
gegen die Religion Ihrer Familie rebellierten, wie das junge Leute
etwa in der Pubertät tun?
Komischerweise war das bei mir immer
sehr harmonisch. Es fing damit an, dass ich im jüdischen
Kindergarten war - und das sind ja die prägendsten Jahre überhaupt.
Von da an war die Religion ein Stück meines Lebens. Ich bin sehr
froh, dass ich in diese Religion hineingeboren wurde. Wenn man sie
richtig lebt, ist sie relativ frei im Sein und Denken. Das ist
häufig das Problem, dass manche denken, alles müsse so laufen, wie
es in der Thora steht. So ist es nicht. Man muss Dinge
interpretieren - und gleichzeitig immer bemüht sein, die 613 Gebote
und Verbote möglichst auch einzuhalten. Es darf aber nie etwas
Doktrinäres sein und statisch bleiben, vielmehr immer lebendig und
beweglich. Das macht das Judentum aus. Deshalb kann ich mich mit der
Orthodoxie nicht anfreunden. Sie ist mir zu statisch.
Sie haben in Jerusalem an
einer Jeschiwa, einem jüdischen Lehrhaus, studiert. Hilft Ihnen das
religiöse Wissen bei Ihrem Gesang - oder könnte man auch religiös
unwissend eine gute Kantorin, eine Chasanit sein?
Nein, natürlich nicht. Man muss das
religiöse Wissen haben. So wie ich Englisch können muss, um eine
englische Lektüre zu verstehen. Der Gesang ist sehr wichtig, aber
der Inhalt ist genauso wichtig, wenn nicht sogar wichtiger. Durch
den Inhalt kommt meine Interpretation, sonst könnte ich die nicht
geben.
Von J. S. Bach heißt es
manchmal pathetisch in protestantischen Kreisen, er sei der fünfte
Evangelist. Auf Sie übertragen: Kann Musik ein Weg der
Gotteserkenntnis sein?
Absolut! Musik ist transzendental.
Musik und gerade Gesang, ja Kantorengesang kann eine Ebene
erreichen, die nicht mehr greifbar und in höheren Sphären gelegen
ist. Dorthin wollen wir Kantoren die Beter ja auch tragen. Wir
wollen ihnen den Weg zu Gott zeigen. Das kann eine große Macht sein,
aber man muss mit dieser Macht behutsam und gut umgehen, sodass man
sie nie ins Negative, sondern nur ins Positive bringt. Damit man den
Menschen etwas Gutes tut. Aber das ist eine Kunst, die nicht viele
beherrschen.
Ist Musik an sich etwas
Göttliches?
Sie verbindet. Die Stimme ist von Gott
gegeben.
Sie kennen den Satz von
Theodor W. Adorno: "Nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben ist
barbarisch." Muss man als Kantorin anders singen nach Auschwitz?
Prinzipiell nicht. Aber es gibt ja bei
uns Juden Gebete, bei denen man direkt auf Auschwitz eingeht - und
da singt man dann schon anders, natürlich. Aber was die täglichen
Gebete angeht: nein.
Zum Abschluss: Ihr Vorname
Avitall bedeutet Gottes Morgentau. Was stellen Sie sich darunter
vor?
Ich habe mir natürlich den Namen nicht
gegeben. Aber er hat einen sehr positiven Aspekt. Er sagt wohl: von
Gott gegeben. Mit einer Aufgabe behaftet. Der Tau muss da sein,
damit das Gras grünt.
Abdruck
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Anpfiff am 12. Juni:
Muslimisch-jüdisches Freundschaftsspiel
Zu selten und leider meist in nur kleinen
Veranstaltungen, die von Kirchen organisiert und oft nur von wenigen
Menschen wahrgenommen werden, gibt es die Gelegenheit, mit Leuten
anderer Religionen in Kontakt zu kommen.
Zu viele Menschen lehnen Traditionen, die ihnen persönlich fremd
sind, von vornherein ab...
haGalil onLine
06-06-2005 |