Eindrücke aus Berlin:
Richard Wagner und das Mahnmal
Uri Avnery
Was soll man am "Herzl-Tag" machen, dem Geburtstag des
Gründers der zionistischen Bewegung? Er wurde in dieser Woche das erste Mal
offiziell gefeiert. Wie soll man das Gedenken dieses eigenartigen Mannes
ehren, der noch immer solch enormen Einfluss auf unser Leben hat? An diesem
Tag befand ich mich mit Rachel, meiner Frau, in Berlin. Ich schaute mir den
Veranstaltungskalender der Stadt an und entdeckte die perfekte Antwort: an
diesem Tage wurde in der Deutschen Staatsoper Richard Wagners Oper
"Tannhäuser" aufgeführt.
Welche Verbindung kann es zwischen Wagner, dem
antisemitischen Komponisten geben, dessen Werke in Israel bis auf den
heutigen Tag nicht aufgeführt werden, und dem Mann, der offiziell als der
"Prophet des Staates" bezeichnet wird? In seiner Autobiographie erzählt
Theodor Herzl, dass er unter dem Einfluss dieser Oper stand, während er "Der
Judenstaat" schrieb – ein Buch, das die jüdische (und arabische)
Geschichte veränderte. Während dieser Zeit in Paris ging er Abend für Abend
in diese Oper. Wenn es keine Aufführung gab, sei er am nächsten Tage nicht
in der Lage gewesen, am Text weiterzuarbeiten. Die Oper wirkte anscheinend
wie eine berauschende Droge auf ihn.
Vier Stunden lang saß ich inmitten des deutschen Publikums
- einige Besucher im vornehmen Anzug und in Abendkleidern, einige salopp
gekleidet - und konzentrierte mich auf die Musik und die Worte – beide
natürlich von Wagner – und versuchte zu verstehen, was genau solch großen
Einfluss auf Herzl hatte und wie sie die Revolution bei ihm in Gang gebracht
hatte.
Die Geschichte von Tannhäuser gründet sich auf verschiedene deutsche
mittelalterliche Legenden. Tannhäuser selbst war eine historische
Persönlichkeit: ein Minnesänger, der das Heilige Land mit dem 5. Kreuzzug
(1228) erreichte. Nach seiner Rückkehr nahm er auf der Wartburg an einem
Sängerwettstreit teil, der der Mittelpunkt der Oper ist. Er ist hin- und
hergerissen zwischen Venus und Maria, zwischen weltlicher Liebe und
christlicher Marienfrömmigkeit. Die Oper ist weit entfernt von
germanisch-heidnischen Motiven wie einige andere von Wagners Werken. Sie ist
durchdrungen von frommen christlichen Gefühlen.
Was hat Herzl so angezogen? Die von Pathos durchtränkte
Musik? Die dramatischen Gegenüberstellungen? Die germanische Mystik, die das
ganze Werk durchdringt?
Herzl war ein großer Bewunderer des deutschen
Kaiserreiches. Er war begeistert von deutscher Ordnung, der deutschen Armee,
der deutschen Regierung. Man erinnere sich aber auch daran, dass dies das
autoritäre, machtbesessene, kolonialistische Zweite Deutsche Reich war, das
einige Jahre später in Südwestafrika einen Völkermord beging. Seine
herrschende Klasse war von Antisemitismus durchdrungen, (einem in jener Zeit
in Deutschland geprägten Terminus). Nachdem Kaiser Wilhelm II. Herzl vor den
Toren Jerusalems traf, erklärte er: "Zionismus ist eine große Idee, kann
aber nicht mit den Juden verwirklicht werden."
Der Psychologe Gustave Le Bon bemerkte einmal, dass die
Realisierung jeder Vision drei Generationen zu spät kommt. Der Schöpfer
einer Vision wird von seinen Lehrern beeinflusst, die zur vorhergehenden
Generation gehören. Und die Menschen, die seine Vision realisieren, gehören
zur nächsten Generation. In der Zwischenzeit haben sich die Umstände, die
der Vision zum Leben verhalfen, vollständig verändert. Wenn die Idee
schließlich Wirklichkeit wird, ist sie schon überholt.
War das bei Herzl auch so? Haben die Werte des deutschen
Kaiserreichs und Wagners - er starb 13 Jahre, bevor Herzl "Der Judenstaat"
schrieb - das Wesen des Staates Israel infiziert, der 50 Jahre nach dem
Schreiben dieses Buches gegründet worden war?
An jenem Morgen ging ich das neue Holocaust-Mahnmal im
Zentrum Berlins ansehen. Ich hatte schon vieles darüber gehört, einiges
Gute, einiges weniger Gute – und nun wollte ich es mir selber ansehen.
Allein die Tatsache, dass diese weiträumige Stätte mitten im Herzen der
Hauptstadt in der Nähe der nationalen Symbole des deutschen Kaiserreichs,
des Brandenburger Tores und des Reichstagsgebäudes, errichtet wurde, ist
erstaunlich. Ein paar Tage nach seiner offiziellen Eröffnung war es schon zu
einem Teil des Stadtlebens geworden. Massen von Menschen werden davon
angezogen, gehen durch den labyrinthartigen Bau zwischen Tausenden von
grauen, verschieden hohen Betonstelen, durch enge unebene Passagen. Ich sah
viele Besucher, die sich der Bedeutung dieser Stätte bewusst waren, in
Meditation versunken. Andere schienen nur aus Neugierde zu kommen, machten
Fotos von einander, hier und dort stand in einer entlegenen Ecke ein sich
küssendes Paar. Auf einigen der Stelen lagen weiße Blumen, auf anderen lagen
die Rucksäcke von jungen Besuchern. Kinder sprangen von Stele zu Stele oder
spielten Verstecken.
Einzelne Personen und ganze Familien standen eine Stunde
Schlange und warteten geduldig, um ins Informationszentrum, das sich unter
den Stelen befindet, hineingelassen zu werden. Es ist eine maßvolle,
zweckbetonte und überwältigende Örtlichkeit. Fünf große Räume. Im ersten:
der Aufstieg des Nationalsozialismus’ und seine Verbrechen in sparsamen,
trockenen Worten, von Fotos begleitet. Mit Erleichterung bemerkte ich, dass
die Beschreibung nicht den von Nazis begangenen Massenmord an Nicht-Juden,
Roma und Sinti, den psychisch Kranken, den Homosexuellen, den slawischen
"Untermenschen", den Kriegsgefangenen und den deutschen Opponenten des
Regimes vergessen hat. In einem anderen Raum wurden ohne Unterbrechung Filme
über jüdische Gemeinden in Europa gezeigt. Jede Gemeinde mit dem, was ihr
während des Holocaust zugestoßen war. In einem dritten Raum wurden die Namen
einzelner Opfer ausgesprochen und mit ihrem Schicksal gezeigt. Wenn man alle
Namen lesen wollte, bräuchte man Wochen und Monate. In einem weiteren Raum
konnte man mit Hilfe von Computern nach den ermordeten Verwandten suchen
(Ich fand den Namen meiner Tante).
Aber der eindrucksvollste und bedrückendste Raum ist der,
in dem einzelne Familien gezeigt werden. Familien aus verschiedenen Ländern
und Klassen: Familienfotos vom Beginn des letzten Jahrhunderts,
Familienfeste, Hochzeiten, Kollegen, Kinder in festlichen Kleidern,
Großvater und Großmutter in der Mitte, alle schauen feierlich in die Kamera
- und danach die detaillierte Beschreibung des Schicksals der einzelnen
Familienmitglieder, die auf den Fotos gezeigt worden waren – wer ermordet
worden, wer spurlos verschwunden, wem es gelungen war, nach Palästina oder
Australien zu emigrieren. So nah, so persönlich, so zum Vergleich einladend:
dieser ist in meinem Alter, dieser im Alter meiner Eltern, dieser könnte
mein Sohn, diese meine Tochter gewesen sein.
Wenn ich gefragt worden wäre, hätte ich in einem
besonderen Raum Vergrößerungen der Gesichter der Deutschen – Soldaten,
Polizisten, gewöhnliche Zivilisten – gezeigt, die auf Fotos der Vernichtung
in allen Stadien klar erkennbar sind: schreiend, misshandelnd, lachend,
ihren Job tuend, der zufällig Mord war.
In den Räumen herrschte totale Stille. Viele brachten ihre
Kinder mit. Ich sah in die Gesichter der Deutschen, als sie aus dem
Untergrund, dem Informationszentrum, auftauchten. Sie waren erschüttert.
Einige schrieben ihre Gefühle ins Gästebuch: "Schrecklich!" "Unfassbar!"
"Wie konnte so etwas geschehen?" "Wir müssen alles tun, dass sich so etwas
nicht mehr ereignet". Ich schrieb ein paar Worte der Anerkennung für die
Initiatorin des Mahnmales, der TV-Journalistin Lea Rosh, die Himmel und Erde
bewegte, um diesen Plan zu verwirklichen.
Mit diesen Bildern vor Augen betrat ich einige Stunden
später das eindrucksvolle Gebäude der Staatsoper "Unter den Linden".
Inwieweit war Wagner schuldig? Inwieweit beeinflusste er nicht nur Herzl,
sondern auch den krankhaften Geist Adolf Hitlers, der in seinem Bunker
Selbstmord beging – nur wenige Meter vom Holocaust-Mahnmal entfernt. (Der
Film "Untergang" wird gerade auch in Israel gezeigt.)
Als ich nach Hause fliegen will, hörte ich, dass
es einen Kampf zwischen einer privaten Initiative, die junge Israelis nach
Auschwitz fliegt, und dem Erziehungsministerium gibt, die das Monopol für
solche Flüge sichern will, um dafür zu sorgen, dass die jungen Leute nur die
nationalistische Betrachtungsweise kennenlernen, ganz im Sinne von "Alle
Welt ist gegen uns". Um des Ausgleichs willen und um das Bild zu
vervollständigen, würde ich diesen jungen Leuten auch das Mahnmal in Berlin
zeigen wollen.
(Aus dem Englischen übersetzt von Ellen Rohlfs und vom
Verfasser autorisiert)
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hagalil.com 23-05-2005 |