Qumran-"Tempelrolle":
Eine gerollte Mona Lisa
Von Philipp Gessler
Wie soll man es sagen, eigentlich ist das Exponat nicht
besonders appetitlich: "Und wenn einer einen nächtlichen Samenerguss hat,
darf er nicht betreten das ganze Heiligtum, bis er drei Tage vollendet hat",
heißt es mit allzu großer Deutlichkeit in der "Tempelrolle", die derzeit im
Martin-Gropius-Bau zu sehen ist - als Prunkstück der Ausstellung "Die Neuen
Hebräer. 100 Jahre Kunst in Israel".
Dass diese Pergamentrolle, 20 Zentimeter hoch, 313
Zentimeter lang, trotz des meist wenig ansprechenden Textes in der deutschen
Hauptstadt zu bewundern ist, kommt einer Sensation gleich. Ist diese Rolle
doch gleichsam ein Nationalheiligtum Israels, das erstmals außerhalb des
Landes bewundert werden kann - und nachher nie wieder, wie seine Gralshüter
vom Israel-Museum in Jerusalem betonen.
Denn die "Tempelrolle" ist Teil der Qumran-Schriften, die in den 40er-Jahren
in Höhlen am Toten Meer entdeckt wurden. Dies war eine archäologische
Sensation sondergleichen, obwohl von den fast 900 Textrollen, die ans Licht
kamen, nur 11 erhalten waren.
Das nun in Berlin zu sehende Exponat ist eines dieser elf. Das uralte
Schriftgut ist von besonderem Wert, da es die längste der Qumranrollen ist,
geschrieben in einer hebräischen Schrift, die heute noch gelesen werden
kann. Zusätzliche Bedeutung erhält die Rolle dadurch, dass sie
wahrscheinlich geschrieben wurde vom Gründer der jüdischen Sekte, die sich
in dieser kargen Felslandschaft bei Qumran vor mehr als 2.000 Jahren
angesiedelt hat. Es ist ein Blick in das Denken des Volkes Israel zur Zeit
Jesu - christlich gesprochen.
Tatsächlich war dieser Aspekt, ein Originalton aus der Epoche des Neuen
Testaments, für die internationale Bekanntheit der Schriften von
entscheidender Bedeutung, glaubte man doch so, dem christlichen
Religionsgründer etwas näher zu kommen, weshalb die katholische Kirche seit
Jahrzehnten die Qumran-Rollen mit auswertet. Für Israel aber sind die
Qumran-Rollen von besonderer Wichtigkeit, weil sie den Anspruch des
jüdischen Volkes auf das Land der Väter manifestieren. Es war deshalb kaum
übertrieben, wenn James Snyder, der Direktor des Israel-Museums, davon
sprach, die "Tempelrolle" sei "unsere Mona Lisa", bedeutsam für Israel, die
ganze jüdische Welt, ja alle monotheistischen Religionen! Berlin dürfte für
Religionswissenschaftler und Alttestamentler deshalb in den kommenden
Monaten zum Mekka werden - zumal, das nur als Aperçu, die Rolle so verfasst
ist, als spreche Gott selbst zum Leser, Jahwe, JHWH, um genau zu sein.
Nun wäre einzuwenden, dass eine Schriftrolle aus dem ersten vorchristlichen
Jahrhundert nicht unbedingt in das Ausstellungsmotto "100 Jahre Kunst in
Israel" passt. Aber der Einwand trifft nur halb. Denn auch wenn die
Chefkuratorin der Ausstellung, Doreet LeVitte Harten, betonte, dass es bei
der Ausstellung um israelische, nicht jüdische Kunst geht - die religiösen
Bezüge auch in der heutigen Kunst Israels sind nach einem kurzen Rundgang
durch die Schau kaum zu übersehen. Wie anders bei einer Kunst aus einem
Staat, der sich als jüdisch begründet begreift?
Die "Tempelrolle" liefert dazu auch entsprechende Textstellen, die fast wie
eine zusätzliche Legitimation des Staates Israel interpretiert werden
können: "Ich, JHWH", heißt es da etwa, "wohne inmitten der Israeliten für
immer und ewig." Oder: "Ein heiliges Volk bist du für JHWH, deinen Gott."
Die "Tempelrolle" vom Toten Meer ist deshalb mehr als nur ein wunderbares
altes Stück aus Pergament. Für Juden, Christen und Muslime ist sie viel
mehr.
Die Neuen Hebräer. 100 Jahre Kunst in Israel
Martin-Gropius-Bau, 20. Mai – 5. September 2005
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hagalil.com 24-05-2005 |