Zum Beispiel Treuenbrietzen:
Ludwigsburgs letzte Mordpuzzles
Von Heike Kleffner
1.657.567. Die siebenstellige Zahl ist in einer
sauberen Handschrift auf das weiße Papierschild geschrieben worden,
das auf einem der Karteikästen steckt. Wer durch die mit Geheimzahl
gesicherte Tür den Raum betritt, bleibt unwillkürlich davor stehen.
1.657.567, so viele Karteikarten werden hier aufbewahrt. 608.945 mit
Orten, 687.380 mit Namen, 361.242 mit Einheiten und 26.346 mit
Gebieten. Orte, Namen, Einheiten und Gebiete, die im Zusammenhang
mit Konzentrationslagern, Massenerschießungen oder so genannten
Einsatzgruppen stehen. 1.657.567 Ausschnitte von Verbrechen.
Der Raum befindet sich in einem ehemaligen
Frauengefängnis in Ludwigsburg bei Stuttgart. Hier arbeitet die
"Zentrale Stelle der Landesjustizbehörden zur Aufklärung
nationalsozialistischer Verbrechen". Es gibt sie seit 1958. Behutsam
öffnet Oberstaatsanwalt Kurt Schrimm eine Rollschublade und gibt den
Blick frei auf endlose Reihen gelber Karteikärtchen. Einige hundert
der Karten hat er zurzeit in Arbeit. Er ist 55 Jahre alt. Seit fünf
Jahren leitet er die Zentrale Stelle. Er rechnet damit, dass er der
letzte Chef sein wird. Schrimm sagt: "Irgendwann stoßen wir an
biologische Grenzen. Die jüngsten Täter sind inzwischen über 80
Jahre alt."
Aber noch arbeitet Ludwigsburg. Schrimm, eine Hand
voll weitere Staatsanwälte und der Kriminalhauptkommissar Manfred
Haag. Die "Tatkomplexe", zu denen sie Täter suchen, liegen in ganz
Europa: in Italien, in der Ukraine, im Baltikum oder in Polen. Und
in Deutschland. Treuenbrietzen, eine Kleinstadt bei Potsdam, hat
eine eigene Karteikarte. 127 Italiener wurden am 23. April 1945 in
einer Kiesgrube nahe der Stadt erschossen. Die Wehrmacht hatte sie
als "Militärinternierte" gefangen genommen, nachdem Italien 1943 aus
dem Krieg an der Seite Deutschlands ausgetreten war. Fast zwei Jahre
lang mussten die Gefangenen in Treuenbrietzen Zwangsarbeit leisten.
Dann führten Deutsche sie zu einer Kiesgrube und töteten sie. Wer
die Täter sind, versuchen die Ludwigsburger zu rekonstruieren. Es
ist eine Kleinarbeit, ein Puzzle, das sie zu einem Bild
zusammenfügen müssen, obwohl ihnen bislang ganze Puzzleteile fehlen.
Eigentlich hatte die Suche nach den Tätern früh
begonnen, schon wenige Tage nach dem Morden in der Kiesgrube.
Offiziere der Roten Armee befragten Überlebende und Dorfbewohner -
ergebnislos. Den nächsten Versuch der Strafverfolgung startete die
Generalstaatsanwaltschaft der DDR. Sie wandte sich 1965 mit einem
Amtshilfeersuchen an die Staatsanwaltschaft Köln und regte
bundesweite Ermittlungen an. Doch weil das Verfahren in Köln, das
vor allem einem SS-Lagerkommandanten eines Außenkommandos von
Sachsenhausen galt, 1974 eingestellt wurde, kam es zu einer
folgenschweren Kettenreaktion. Auch die Ermittlungen in der Sache
Treuenbrietzen wurden eingestellt. Das Massaker geriet in
Vergessenheit.
Das änderte sich erst, als die italienische Justiz
aufgrund der Aussagen eines Überlebenden im Jahr 2002 eigene
Ermittlungen begann und um Amtshilfe in Deutschland bat. Mord
verjährt nicht. Doch bei der Staatsanwaltschaft Potsdam, die als
"ortszuständig" die Ermittlungen eigentlich hätte angehen müssen,
war das Interesse gering. Man schrieb das Jahr 2003, als Potsdam die
Akte nach Ludwigsburg schob. Ein weiteres Jahr verging. Wertvolle
Zeit in einem jener Verfahren, in dem die Täter so alt wie die
überlebenden Opfer sind: Männer mit grauweißen Haaren, die ihr
achtes Lebensjahrzehnt begonnen haben.
Antonio Ceseri ist 81 und hat weiße Haare. Er
überlebte das Massaker, einer von vier. Ceseri war 21, als die
Italiener in den Reihen vor und hinter ihm vor Schmerzen und Angst
zu schreien begannen, während sie von den Kugeln der Männer
getroffen wurden, die vom oberen Rand der Grube auf sie feuerten.
Ceseri trug einen Regenmantel, drei Kugeln durchlöcherten den Mantel
am Arm, eine auf Kniehöhe. Der Italiener sitzt in der Aula eines
Berliner Gymnasiums, das sich für die Aufarbeitung des Verbrechens
engagiert. "Wehrmachtssoldaten", sagt er auf die Frage nach den
Tätern. Und dass er und sein Freund Edo Magnarlado nach den Jahren
in deutscher Gefangenschaft SS und Wehrmacht gut unterscheiden
konnten.
Ceseris Freund Magnarlado starb im vergangenen April.
Im Herbst 2003 hat er der taz seine Geschichte erzählt. Kommissar
Haag, der Italienisch spricht, wollte ihn als Zeugen vernehmen. Doch
dazu kam es nicht mehr. Nun lebt nur noch Ceseri. Demnächst, sagt
Kommissar Haag, will er mit ihm sprechen.
Dass die Ermittlungen im letzten Jahr überhaupt
weitergekommen sind, verdanken die Ludwigsburger einem "glücklichen
Zufallsfund", wie Oberstaatsanwalt Schrimm sagt. Im Frühjahr wurde
in der Berliner Wehrmachtserfassungsstelle eine Liste von Soldaten
der "Armee Wenck", die in den letzten Aprilwochen 1945 in
Treuenbrietzen und Umgebung eingesetzt waren, gefunden. Die Liste
hatte der Chef einer Kompanie der 215. Infanteriedivision "Theodor
Körner" verfasst, der seinen ehemaligen Untergebenen nach 1945
Pensionsansprüche sichern wollte. Der Kompaniechef ist längst tot.
Für die Ermittler in Ludwigsburg jedoch ist die Liste einer der
wenigen Anhaltspunkte bei dem Versuch, das Puzzle mit den fehlenden
Teilen doch noch aufzufüllen. Namen und Anschriften, ein halbes
Jahrhundert alt, müssen nun bei Meldeämtern in ganz Deutschland
erfragt werden. Die Ludwigsburger hangeln sich von Ort zu Ort, je
häufiger ein ehemaliger Soldat umgezogen ist, desto schwieriger die
Recherche. "Leichter wird die Suche, wenn man weiß, wo die Leute
geboren sind. Denn dann kann man bei den Einwohnermeldeämtern am
Geburtsort nachfragen, ob dort inzwischen eine Sterbemeldung
eingegangen ist", erklärt Haag.
Ein knappes Dutzend Zeugen hat der Kommissar
gefunden. Was sich daraus ergeben hat? Schrimm und Haag werden
einsilbig: "Wir haben Personen vernommen, die tatsächlich in und um
Treuenbrietzen waren", lautet ihre Antwortformel. Mehr sagen sie
nicht. Sie wollen ihre Chance nicht vergeben, dieses verschüttete
Verbrechen vielleicht doch noch aufzuklären.
Ruft man Günther Reichhelm an, den ehemaligen
Stabschef des Panzergenerals Wenck, und fragt nach einer möglichen
Verstrickung von Soldaten der "Armee Wenck" in das Massaker bei
Treuenbrietzen, wird der 91-Jährige energisch. "Nicht von der Armee
Wenck", ruft er ins Telefon. Die Armee habe den Auftrag gehabt,
Menschen zu retten und nicht zu erschießen: "Die Soldaten sind so
eng angewiesen worden, was sie tun sollten, dass ein Pogrom
undenkbar wäre. Das hätten wir in der Kommandoebene mitbekommen."
Auf dem Schreibtisch von Oberstaatsanwalt Schrimm
halten dicke Baumwollgürtel die blassgelben Aktendeckel zusammen,
zwischen denen Blätter in Schattierungen von Blütenweiß bis Graugelb
das Alter der Ermittlungen verraten. Schlagworte wie "oberster
Nazijäger" liest er nur ungern. "Jagen klingt nach Sport. Wir suchen
nach Mördern." Wenn er und Haag davon sprechen, dass sie die Arbeit
umgestellt haben und jetzt weltweit in Archiven, die erst seit
kurzem zugänglich sind wie in Russland oder der Ukraine, nach
Ansätzen suchen, strahlen sie eine Energie und Zuversicht aus, die
überrascht. Denn die bundesdeutsche Bilanz der Verfolgung von
Nazi-Verbrechen ist dünn. In der alten Bundesrepublik wurden wegen
NS-Verbrechen gegen 106.496 Personen Vorermittlungs- und
Ermittlungsverfahren geführt, davon wurden lediglich 6.495
Angeklagte rechtskräftig verurteilt.
In Ludwigsburg wurden die meisten dieser Verfahren
mit vorbereitet. Doch trotz der Bundesländer-übergreifenden
Ermittlergruppe verliefen viele Verfahren im Sande. Christiaan
Frederik Rüter von der Universität Amsterdam erklärt das mit einer
Mischung aus Desinteresse in der Bevölkerung und mangelnder
politischer Unterstützung für die Justiz. Rüter veröffentlicht
gemeinsam mit Historikern und Juristen die Urteile der deutschen
Justiz in Bezug auf NS-Verbrechen. Er hat festgestellt, dass die
westdeutsche Bevölkerung der Verfolgung von Nazi-Verbrechen keinen
Reiz abgewinnen konnte: "Das hatte Konsequenzen, denn die Justiz
arbeitet nicht, wie Laien oft glauben, nur dem Gesetz unterworfen in
einem ansonsten wert- und politikfreien Raum. Sie braucht Gesetze,
die ihr Ermittlungs- und Verurteilungsmöglichkeiten geben, sie
braucht Geld und Personal. Sie braucht kurzum die Unterstützung der
Politik."
Daran jedoch mangelte es. Einerseits verabschiedeten
die Abgeordneten des Bonner Bundestages Verjährungsvorschriften, die
die Verfolgung vieler Verbrechen unmöglich machte. Andererseits
definierten Richter viele Tätergruppen zu Helfern, die sich als
bloße Befehlsempfänger entlasten konnten.
So wurde eine jahrelange Ermittlungsarbeit der
Staatsanwälte aus Ludwigsburg und anderen Städten zunichte gemacht,
die 18 Ermittlungsverfahren gegen 300 ehemalige Mitarbeiter des
Reichssicherheitshauptamtes bis zur Anklage vorbereitet hatten. Die
Taten der Schreibtischtäter waren 1969 verjährt, und was als eine
der größten Prozessreihen gegen Planer des Holocausts gedacht war,
endete ergebnislos.
Fragt man Kurt Schrimm nach den Folgen der
Verjährungsklauseln, beugt er sich über den Tisch in seinem
Arbeitszimmer und sagt: "Wir müssen deshalb die meisten Fälle
einstellen."
Im April 2001 ist es ihm noch einmal gelungen, einen
Täter zu überführen, obwohl der schon über 80 war. Den ehemaligen
SS-Untersturmführer Julius Viel verurteilte das Ravensburger
Landgericht 2001 mit 83 Jahren zu zwölf Jahren Haft. Viel hatte 1945
sieben jüdische Häftlinge des KZ Theresienstadt erschossen. Nach
Kriegsende arbeitete er als Redakteur in Stuttgart, 1983 verlieh ihm
der damalige Bundespräsident Carl Carstens gar das
Bundesverdienstkreuz.
Dass Viels Pensionärsdasein im Allgäustädtchen Wangen
1999 jäh durch einen Haftbefehl beendet wurde, kam überraschend. Es
begann mit einer Postkarte aus Kanada. Ein ehemaliger Untergebener
Viels hatte sie ans Simon-Wiesenthal-Center geschrieben und darin
sein Wissen um die Erschießung der sieben jüdischen Gefangenen
preisgegeben. Das Simon-Wiesenthal-Center sandte die Karte weiter an
die Zentrale Stelle in Ludwigsburg. Die Telefonnummer in Montreal,
die auf der Postkarte stand, rief Kurt Schrimm dann an. "Ich habe
den Mann, der inzwischen Professor an der Universität Montreal in
Kanada geworden war und vor allem nicht wollte, dass man in seiner
neuen Umgebung etwas von seiner Vergangenheit erfuhr, gefragt, ob er
auch aussagen würde." In Ludwigsburg wurden Fragebögen erarbeitet,
mit denen Polizisten rund 400 ehemalige SS-Männer befragten. "Kein
einziger von denen wollte sich erinnern", sagt Schrimm. "Der
Korpsgeist ist auch nach 60 Jahren unglaublich." Nur der Professor
aus Montreal sagte aus. Aber das reichte.
Zurzeit führen Schrimm und seine Kollegen neben
Treuenbrietzen noch ein knappes Dutzend Vorermittlungsverfahren. In
Räumen, die nach altem Papier riechen, packen derweil Mitarbeiter
des Bundesarchivs schon viele Akten um: In graue Schachteln, die 500
Jahre lang halten.
Hat die Arbeit überhaupt noch Sinn? "Die Botschaft an
die Täter kommt nicht an", sagt Schrimm. Den Opfern müsse jedoch
gezeigt werden, dass die Justiz Wiedergutmachung leistet. Noch
arbeitet Ludwigsburg.
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19-05-2005 |