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Der Sieg des "Non" beim Volksentscheid:
Welche Rolle spielte die extreme Rechte?

Von Bernhard Schmid, Paris

Frankreich hat zu 55 Prozent "Non" zur Ratifizierung des "Verfassung" genannten Staatsvertrags der EU gesagt. Ein Ergebnis, das nach den Umfragen der letzten Wochen durchaus erwartet kam, aber in seiner Deutlichkeit dann doch leicht überraschte.

An der extremen Rechten hat es definitiv nicht gelegen, auch wenn die Figur Jean-Marie Le Pens im Abstimmungswahlkampf beständig beschworen worden war - vor allem durch die Befürworter des Vertragswerks. Das belegt die Auswertung der Stimmenzahlen, auf die im Anschluss näher eingegangen werden soll. Doch zunächst zu den Positionen, welche die extreme Rechte selbst einnahm.

Die Positionen der extremen Rechten vor dem Referendum

Die mit Abstand dominierende Partei der französischen extremen Rechten, der Front National (FN), rief dazu auf, bei der Volksabstimmung vom 29. Mai 2005 mit "Non" zu stimmen. Absolut im Vordergrund stand dabei die Ablehnung eines zukünftigen EU-Beitritts der Türkei als angebliche Bedrohung.

Daneben traten allerdings andere, minoritäre Teile der extremen Rechten zugunsten einer Annahme des Vertragswerks ein. Vor allem bei der regionalistischen extremen Rechte, welche die vom FN vertretene weitgehende Fixierung auf den klassischen Nationalstaat überwunden hat (und neben diesem auch "die regionale Identität" und "die europäische Kulturgemeinschaft" als positive Identifikationsmuster anerkennt) fanden sich Befürworter des Verfassungsvertrags. Beispielsweise erklärte der Generalsekretär der vom FN abgespaltenen, regionalistischen Partei Alsace d'abord (Elsass zuerst), Jacques Cordonnier, seine Unterstützung für die Annahme des Vertrags.


Flugblatt des Front National vor der Abstimmung über den Verfassungsvertrag: "Für ein Europa ohne Türkei".
Zur Vergrößerung bitte anklicken.

Aus verwandten Gründen erklärte der ehemalige Regional- und Europaparlamentarier des FN, Jean-Marc Brissaud, am Sonntag mit "Ja" zu stimmen. Er tritt für ein machtpolitisch stärkeres Europa ein und führte dazu aus: "In kontinentalen Zusammenhängen zu denken, ist unsere einzige Heilschance (...) Nur Europa kann, wenn es die Kräfte seiner aus derselben Kultur hervorgegangenen Völker vereint, auf dem abschüssigen Hang unserer Dekadenz wieder hochsteigen." (Zitiert aus "Le Monde", 26. 05. 05) Ein "mächtigeres", auch militärisch stärkeres Europa wurde übrigens auch im konservativen Lager der Vertrags-Befürworter als zentrales Argument benannt.

Der MNR (Mouvement national républicain) unter Bruno Mégret, der sich zu Anfang des Jahres 1999 vom Front National abspaltete, steht einer solchen Argumentation im Prinzip nicht ferne. Mégret hatte sich im Verlauf der Abstimmungsdebatte bereit erklärt, "zum Ja-Stimmen aufzurufen, wenn Präsident Jacques Chirac sich verpflichtet, gegen den EU-Beitritt der Türkei einzutreten" (Erklärung vom 8. April bei einem Auftritt in Lyon). Doch mangels Masse wird der MNR nicht ernst genommen: Die Splitterpartei hat zwar bei der Spaltung von 1999 die Mehrheit der damaligen Kader aus dem "alten" FN mitgenommen, danach jedoch einen beispiellosen Niedergang erlebt. Bei den Europaparlamentswahlen 2004 erhielt der MNR unter 0,5 % der Stimmen. Deswegen ging Chirac auch verständlicher Weise nicht auf das "Angebot" Bruno Mégrets ein, der ­ solcherart allein gelassen ­ späterhin dazu aufrief, "wegen der Türkei mit Nein zu stimmen". Bruno Mégrets großmännisches Gebaren war dabei vor allem lächerlich. Es zeigt aber symptomatisch, welch absolut zentrale Rolle in den Augen vieler Rechtsextremisten die "Türkeifrage" einnahm und einnimmt.

Die Bedeutung des türkischen EU-Beitritts

Diese Frage stand zwar im Prinzip am letzten Sonntag gar nicht zur Abstimmung, zumal die Aufnahme der Türkei in die Union erst in 10 bis 15 Jahren spruchreif werden dürfte. Aber auch die bürgerlich-konservative Rechte griff dieses Thema, also die mit einem eventuellen Beitritt der Türkei verbundenen Ressentiments, zur Mobilisierung ihrer eigenen Wählerschaft auf (und um ihrer Abstimmungskampagne ein "Ausgreifen" bis nach weit rechts zu ermöglichen). Der ehemalige Innenminister und jetzige Parteichef der konservativen Regierungspartei UMP, Nicolas Sarkozy, etwa hatte die UMP-Mitglieder am 6. März dieses Jahres über eine Vorlage abstimmen lassen, in welcher das "Ja" zum Verfassungsvertrag explizit mit dem "Nein" zum türkischen EU-Beitritt verbunden wird.

Auch die christdemokratische UDF, die momentan mit einem Minister in der Regierung vertreten ist, führte eine dezidiert feindliche Kampagne zum ­ derzeit noch virtuellen ­ türkischen Beitritt. Führende UDF-Vertreter wie die ehemalige Industrieministerin Nicole Fontaine machten etwa mit dem Argument Werbung, das im Verfassungsvertrag vorgesehene "Petitionsrecht" würde es "einer Million EU-Bürgern erlauben, mit ihrer Unterschrift den Beitritt der Türkei definitiv zu verhindern". Das war in der Sache gelogen, denn das vom Verfassungsvertrag vorgesehene "Petitionsrecht" enthält lediglich die Möglichkeit, sich (mit einer Million Unterschriften aus "einer signifikanten Anzahl von Mitgliedsländern") an die EU-Kommission zu wenden mit der Bitte, sich mit diesem oder jenem Thema nochmals zu befassen. Ob die Kommission sich aber wirklich damit befasst, und erst recht der Inhalt ihrer Entscheidung, bleibt allein ihr überlassen.

Die während des UDF-Wahlkampfs explizit behauptete demokratische Qualität ­ BürgerInnen könnten durch ihre Unterschrift ein Vorhaben definitiv beeinflussen ­ stellt also eine Falschbehauptung dar. Aber dieses Wahlkampfargumente diente den Ressentiments, die sich vor allem auf der Rechten mit der eventuellen Aufnahme der Türkei in die Union verbinden, als Resonanzboden und damit als Verstärker: Alles musste so aussehen, als sei der Beitritt dieses Landes wirklich ein vordringliches Problem für die Einwohner der (anderen) Mitgliedsländer. Dagegen traten größere Teile der Linken, die überwiegend für die Ablehnung des Verfassungsvertrags eintrat, explizit für das Recht der Türkei auf einen EU-Beitritt ein, jedenfalls unter der Bedingung demokratischer Reformen wie der Abschaffung der Folter und einer Anerkennung des Armenier-Genozids. Die Frage des türkischen Beitritts lag also weitgehend quer zur Frontstellung zwischen Opponenten und Kritikern des konkreten Vertragswerks, über das am Sonntag abgestimmt wurde.

Welchen Einfluss hatte die extreme Rechte auf den Ausgang der Abstimmung?

Die Ergebnisse des Referendums vom Sonntag, 29. Mai hat die extreme Rechte nicht entscheidend beeinflussen können. Auch wenn Jean-Marie Le Pen - aus völlig anderen Gründen als die Mehrheit der sonstigen Gegner des Verfassungsvertrags - zum "Nein"-Stimmen aufrief, so hätte das "Non" auch dann gewonnen, wenn die Anhängerschaft Le Pens nicht existiert hätte oder zu Hause geblieben wäre.

Der Front National durchquert zur Zeit die schwerste Krise seiner Geschichte, aufgrund des absehbaren altersbedingten Abgangs seines Chefs und Übervaters Jean-Marie Le Pen: Er führt seit ihrer Gründung im Oktober 1972 die Partei ohne Unterbrechung, in den letzten Jahren zunehmend wie ein absoluter Monarch, nachdem er die ihm gefährlich werdenden Kader zum Jahreswechsel 1998/99 ausgeschlossen hatte. Doch Le Pen, der in Juni 77 wird und im Sommer 2002 eine Krebs-, im Februar 2005 eine schwere Hüftoperation erlitt, wird in näherer Zukunft seine Partei nicht mehr führen können. Doch seine Nachfolge ist nicht geregelt, das hat er selbst stets verhindert. Der Führungskader ist im Hinblick auf die absehbare Ablösung Le Pens heillos zerstritten, persönlicher Hass hat sich ausgebreitet.

In der Gunst der Franzosen liegt der Front National derzeit bei knapp 9 Prozent, laut der jüngsten Monatsumfrage des "Figaro-Magazine". Das wäre rund ein Prozent weniger als bei den letzten Europaparlamentswahlen im Juni 2004. Der Abstand zwischen dem NON und dem OUI beim Ausgang der Abstimmung beträgt aber gut 10 Prozent. Demnach hätten die Kritiker des Verfassungsvertrags auch dann noch die Abstimmung gewonnen, wenn am Sonntag alle Le Pen-Anhänger durch eine rätselhafte Krankheit befallen worden wären und mit einer plötzlichen Lähmung hätten zu Hause bleiben müssen.

Ferner muss erwähnt werden, dass zumindest in den verbliebenen "Kleine Leute"-Vierteln von Paris (wie dem 18., 19. und 20. Arrondissement) alle FN-Plakate systematisch von den Parteigängern des "Nein von Links zum Verfassungsvertrag" überklebt wurden. (Vgl. auch unser Foto)


Überklebt vom "Appell der 200", einem Aufruf für das "Nein von Links zum Verfassungsvertrag": Plakate des rechtsextremen Front national (Stellschild 6) und von Pro-Vertrags-Parteien wie der Mehrheitsgrünen (die Partei war vor der Abstimmung in zwei Hälften gespalten), Stellschild Nummer 7, und der konservativen Regierungspartei UMP (Stellschild Nummer 8).
19. Pariser Bezirk, drei Tage vor der Abstimmung.

Die "Instrumentalisierung" der extremen Rechten im Abstimmungskampf durch andere Parteien

Trotz seiner tendenziellen Abwesenheit aus dem Wahlkampf vor der Abstimmung wurde Le Pen ständig durch die Regierungspartei UMP und durch den rechten Flügel der Sozialdemokratie beschworen. Und zwar als eine Art Schreckgespenst: "Wenn Ihr mit Nein abstimmt, dann stimmt Ihr genauso wie Le Pen". Dabei verschwiegen die Politiker aus dem Mitte-Rechts- und Mitte-Links-Spektrum freilich vornehm, dass eine "Ja"-Stimme ihrerseits identisch mit der Position eines Silvio Berlusconi, eines italienischen "Postfaschisten" Gianfranco Fini (der als Mitglied des "Verfassungskonvents" sogar Co-Autor des Textes war) und eines Jörg Haider zum Verfassungsvertrag ist. Eine binäre Ja-Nein-Entscheidung bei einem Referendum ist nun einmal dazu geeignet, dass sich unterschiedliche Leute aus unterschiedlichen Gründen mit demselben Stimmzettel in der Hand wiederfinden. Das ist nicht identisch damit, ein politisches Programm oder Projekt gemeinsam mit der extremen Rechten zu vertreten, wie bürgerliche Regionalregierungen in Frankreich es 1998 taten, als sie mit den Stimmen des FN ins Amt gelangten. Dieser Unterschied wurde systematisch verwischt, dadurch wurde die Gefahr einer tatsächlichen politischen Annäherung an die extreme Rechte verwischt.

In ihrer Ausgabe vom 26. Mai behauptete die Pariser Abendzeitung "Le Monde" - gewöhnlich die seriöseste überregionale Publikation, die jedoch in den letzten Wochen sehr parteiisch berichtete und für die Annahme des Verfassungsvertrags warb -, "über 50 Prozent der Nein-Wähler" drei Tage später kämen von der extremen Rechten. Eine Aussage, die bereits rein mathematisch nicht richtig sein konnte, auch wenn man den Wählern Le Pens jene des Grafen Philippe de Villiers hinzuzählte. De Villiers ist ein katholischer Nationalkonservativer, dessen Stimmenpotenzial ­ de Villiers erhielt rund 7 Prozent der Stimmen bei der letztjährigen Europaparlamentswahl ­ zwar auch zugunsten des "Non" in die Waagschale fiel, sich aber von seiner gesellschaftlichen Natur her nicht wesentlich von der Basis der Regierungspartei UMP unterscheidet. Philippe de Villiers bezeichnet sich und seine Parteigänger im übrigen als den europaskeptischen oder "souveränistischen" Flügel der derzeitigen konservativ-liberalen Minderheit: In sozial-, wirtschafts- und gesellschaftspolitischen Fragen liegen die regierende UMP oder die christdemokratische UDF auf derselben Wellenlänge wie Philippe de Villiers und seine bisher erst in Keimzellenform existierende Organisation, der MPF (Mouvement pour la France, Bewegung für Frankreich). Lediglich in der Frage von "mehr Nationalstaat oder stärkere europäische Einbindung" weichen beide voneinander ab. Deswegen sollte das Potenzial des konservativ-reaktionären Grafen de Villiers auch nicht mit jenem des rechtsextremen Front National gleichgesetzt werden. Obwohl es zutrifft, dass de Villiers in Zeiten der Schwäche des FN auch dessen Wählerschaft teilweise "herüberzuziehen" versucht und ihm dies teilweise auch gelingt.

Das tendenziell "erpresserische" Argument des ständigen Hinweises auf Le Pen (um nicht von der konkreten Kritik am Inhalt des Verfassungsvertrags sprechen zu müssen), das vor allem sozialdemokratische und linksliberale Wähler vom Nein-Stimmen abhalten sollte, hat sich im Laufe der Wochen abgenutzt: Kaum jemand wollte es mehr hören. Aber seine Verwendung bis zum Überdruss durch die bürgerliche Propagandamaschinerie und die Verwischung des Unterschieds zwischen "Nein-Stimmen, während auch Le Pen (aus anderen Gründen) mit Nein stimmt" einerseits und "gemeinsam mit den Rechtsextrem regieren" andererseits birgt längerfristig ein größeres Risiko in sich: Das einer Banalisierung und Verharmlosung der extremen Rechten. Denn falls künftig tatsächlich echte politische Allianzen mit den Rechtsextremen stattfinden und denunziert werden müssten, dann sich das in den letzten Wochen inflationär (und inhaltlich falsch) verwendete Argument bereits abgenutzt.

Bis zur letzten Minute hatte vor allem die Mehrheitssozialdemokratie ihren Wahlkampf darauf ausgerichtet, die unterschiedlich motivierten Kritiken an dem Vertragswerk auf den Nenner des Rechtspopulismus zu bringen. Auch wenn die eigene Parteilinke selbst zum "Non" aufrief.

Während theoretisch am Tag der Abstimmung selbst jede politische Werbung verboten ist, hatten Aktivisten des rechten Flügels des Parti Socialiste (PS) noch in der Nacht oder am frühen Sonntag morgen vor Metrostationen und auf Wochenmärkten Handzettel auf dem Boden verstreut. Darin wurden "die Wähler der Linksparteien" eindringlich vor einer "Wiederholung des 21. April 2002" gewarnt, also des Wahltriumphs von Le Pen bei der letzten Präsidentschaftswahl, falls das "Non" gewinne.

Man nenne es die Kunst, dauernd von etwas (im konkreten Falle) nicht Ausschlaggebendem zu reden, um vom wirklich Ausschlaggebenden ­ der Kritik an der Sozial- und Wirtschaftspolitik, die durch den Verfassungsvertrag auf Dauer festgegossen werden sollte ­ nicht sprechen zu müssen.

Soziale Polarisierung

Unbestreitbar ist die soziale Polarisierung, die dem Votum vom Sonntag zugrunde liegt. 81 Prozent der Industriearbeiter und 79 Prozent der Erwerbslosen stimmten gegen die Annahme des Verfassungsvertrag, hingegen votierten vier Fünftel der höheren und leitenden Angestellten mit "Ja".

Wenn in der, von ihren "kleinen Leuten" (aufgrund der Mietpreisentwicklung der letzten 30 Jahre) größerenteils "gesäuberten" Hauptstadt Paris 66 Prozent der WählerInnen mit "Ja" stimmen und in den nördlich angrenzenden Trabantenstädten weit über 60 Prozent mit "Nein", ist dies ein deutliches Signal. So stimmten in der KP-regierten Bezirkshauptstadt des nördlich an Paris angrenzen Départements Seine-Saint-Denis, in Bobigny, 72 Prozent mit Nein. In diese Banlieue-Zone hat Paris in den letzten drei Jahrzehnten einen Großteil seiner armen Familien, "kleinen Leute" und Lohnabhängigen , die sich nur hier noch eine Wohnung leisten können, abgeschoben.

Ein "Nein" wogegen? Ein NON von Links, ein anderes von Rechts

Sicherlich sind europapolitische Entscheidungen komplexer Natur, da unterschiedliche, ja gegensätzliche Motive sich in einer gemeinsamen Ablehnung oder Zustimmung bündeln können ­ und dies nicht nur in Frankreich. Man kann die politische Grundkonstellation als eine Art Koordinatenkreuz darstellen: Auf der einen Achse steht "Mehr nationale Souveränität oder mehr europäische Integration". Auf dieser Ebene ist die Opposition von rechts gegen das supranationale Europa, oder "zu viel" davon, angesiedelt. Der CSU-Abgeordnete Peter Gauweiler steht ebenso für eine solcherart motivierte Ablehnung wie die britische United Kingdom Independance Party (UKIP), die bei zu den Gewinnern der letzten Europaparlamentswahlen zählte, oder die Franzosen Jean-Marie Le Pen und Philippe de Villiers.

Doch zu einem richtigen Koordinatenkreuz gehört noch eine zweite Achse, die quer zur anderen liegt, und auf der steht: "Wirtschaftsliberales oder soziales Europa". Es ist diese Dimension, die am Sonntag abstimmungsentscheidend war. Die Anhänger der Rückkehr zur nationalstaatlichen Souveränität erschienen im zurückliegenden Wahlkampf vorwiegend als Vertreter eines Anachronismus. Sie schlugen vor, in einen Zug einzusteigen, der längst nicht mehr auf dem Fahrplan steht: Seit dem Euro gibt es keine nationale Währungspolitik mehr, die Osterweiterung der EU wird auch durch das Ergebnis des Volksentscheids vom Sonntag nicht rückgängig gemacht werden. Tatsächlich drehte sich die Debatte der letzten Woche kaum darum, ob man einen Schritt hinter diese Entwicklung zurück machen möchte - sondern vor allem darum, was man mit dem politischen Raum jetzt anfangen will, der in großen Teilen des Kontinents entstanden ist.

Was der "Verfassung" genannte Staatsvertrag dazu vorschlug, konnte die Mehrheit der französischen Wähler nicht befriedigen. Soziale Probleme und individuelle politische Rechte sollen weiterhin den Nationalstaaten überlassen bleiben, und nur der Markt und die Konkurrenz sollten die Bevölkerungen der EU miteinander verbinden: In seinem Artikel III-210-2 schloss der Verfassungsvertrag explizit eine Angleichung der sozialpolitischen Gesetzgebung der verschiedenen EU-Länder aus, eine "Harmonisierung" auf diesem Gebiet soll allein einer vermeintlichen spontanen Entwicklung der Gesetzgebungen auf jeweils nationaler Ebene überlassen bleiben. Und bei den Bürgerrechten bringt der Vertrag denen, die beispielsweise noch immer kein Recht auf Ehescheidung oder Abtreibung haben ­ in Polen, Portugal, Irland oder Malta ­ keinerlei Fortschritt. Gesellschafts- und Sozialpolitik im nationalen Rahmen, überwölbt von einem transnationalen Markt: Nein, dieses neoliberale Europa wollten die Franzosen mehrheitlich nicht.

Unterschiedliche Antworten auf ein reales Problem

Der Abstimmungskampf konzentrierte sich über weite Strecken hinweg auf die Frage des Umgangs mit osteuropäischen Arbeitnehmern, die bereits heute auf Arbeitssuche nach Frankreich kommen. Derzeit können sie das offiziell noch nicht als abhängig Beschäftigte, da Frankreich sich ebenso wie Deutschland und die meisten anderen EU-Staaten mit Ausnahme der britischen Inseln einen Vorbehalt bezüglich der Freizügigkeit osteuropäischer EU-Bürger geltend macht. Deswegen kommen polnische und andere Arbeitnehmer im Moment überwiegend als Scheinselbständige nach Frankreich.

Ein Ausspruch des ehemaliges niederländischen EU-Kommissars Frits Bolkestein rückte den, inzwischen sprichwörtlichen, "polnischen Klempner" in das Zentrum der Debatte. Der Herr beschwerte sich Anfang April darüber, dass er für sein Haus in der Nähe des nordfranzösischen Arras "kein geeignetes Personal" finde: Die Klempner und Elektriker, die er beauftragt habe, waren anscheinend nicht billig oder nicht willig genug. Deshalb würde er gern "polnische Klempner" importieren und ans Werk lassen, befand Bolkestein. Derselbe Herr war in den vier Wochen vorher als Namengeber der EU-Richtlinie zum Dienstleistungsgewerbe berühmt geworden. Diese sieht vor, dass in solchen Fällen Arbeitnehmer von Dienstleistungsunternehmen aus anderen EU-Ländern (etwa: die polnischen Klempner, sofern sie Beschäftigte einer polnischen Firma sind, die in Frankreich ihre Dienste anbietet) zu sozial- und arbeitsrechtlichen Bedingungen ihrer Herkunftsländer beschäftigt werden können. Also beispielsweise polnische Klempner in Frankreich zu polnischen Stundensätzen, Arbeitszeiten und Sozialversicherungsbedingungen.

Nachdem diese, bereits in erster Lesung verabschiedete Richtlinie im März 2005 erstmals durch französische Gewerkschaften einer breiteren Öffentlichkeit bekannt wurde, hatte man sie Brüssel eilends "verschoben", um den Ausgang des französischen Referendums nicht zu gefährden. Doch aufgeschoben bedeutet keineswegs aufgehoben: Ihre Verabschiedung in zweiter Lesung ist nunmehr für September 05 programmiert. Nach dem französischen Votum dürfte ihre Annahme jedoch schwerer fallen.

Im Laufe der Abstimmungskampagne wurde immer wieder publik, dass die durch die "Bolkestein-Richtlinie" vorgesehen sozialen Zustände zum Teil bereits heute Wirklichkeit sind: Polnische Fernfahrer sind gezwungen, in Frankreich Nächte über Nächte auf Autobahnraststätten in ihren LKWs zu übernachten, damit sie auf dem Papier in Polen gemeldet bleiben und nicht auffällt, dass sie in Wirklichkeit in Frankreich für französische Speditionsfirmen arbeiten. Es gab bereits Fälle, in denen französische Fernfahrer ihre polnischen Kollegen-"Konkurrenten" verprügeln wollten und nur durch gewerkschaftlich organisierte Leute aus ihren eigenen Reihen mühsam davon abgehalten werden konnten. Und wie Mitte Mai bekannt wurde, sind portugiesische Arbeiter seit längerem Auftrag der französischen Telekom, bei deren Subfirma Constructel, in Zentralfrankreich zu portugiesischen Löhnen tätig. Die Liste der Beispiele ließe sich verlängern.

Auf dieses reale Problem gab es drei unterschiedliche Antworten, die in diesem Abstimmungskampf vertreten wurden. Die erste lautet: Diese ausländische Arbeiter müssen "raus". Dafür steht tendenziell die extreme Rechte, auch wenn sie es nicht allzu hinaus posaunte, da beispielsweise der FN offiziell "für ein Europa ohne Türkei" eintritt und gegenüber den christlichen Völkern und "alten Zivilisationen" Europas mindestens theoretisch Respekt bekundet. A propos: Bisher 0tritt der FN gewöhnlich nicht für einen Austritt aus der EU ein, sondern für ihre Umwandlung in ein "Europa der Vaterländer" mit möglichst souveränen Nationalstaate. In der dritten Maiwoche sprach Jean-Marie Le Pen sich plötzlich, in einem Anflug verbaler Kraftmeierei, in den Medien für einen EU-Austritt Frankreichs aus. Ihm widersprach sogar der FN-Generalsekretär in der Pariser Abendzeitung "Le Monde" (vom Samstag, 28. 05. 05) offen. Ein solcher Zirkus ist freilich eher der Ausdruck der momentanen Schwäche und Konfusität des FN.

Die zweite mögliche Antwort darauf lautet: Ignorieren. Dafür steht die bürgerliche Rechte, die im Kern der Ansicht ist, in den beschriebenen Phänomenen liege kein Problem: Zwar würden in Frankreich Arbeitsplätze durch Vergabe an Billiglohnländer oder "Import" billigerer Arbeitskräfte zwecks Lohndrückens verschwinden. Aber dies würde allemal durch den Vorteil (aus Sicht des nationalen Kapitals) des Zugewinns an Marktanteilen für große westeuropäische Firmen in Polen und anderswo wettgemacht. Wen kümmert also die "Konkurrenz unter Arbeitern"? Dagegen überspielte eine linksliberale Schickeria, die auf der Seite der Mehrheitssozialdemokratie am Wahlkampf teilnahm, das Problem durch Schöngeisterei. So der Schauspieler Philippe Torreton, der in einem jüngst erschienenen Film den historischen Sozialistenführer Jean Jaurès verkörpert. Auf die Frage eines Radiojournalisten bei France Info, was er vom Einsatz und den Arbeitsbedingungen osteuropäischer "Billigarbeitskräfte" halte, antwortete er mit moralischem Pathos: "Und ich habe gedacht, dass man nach dem Horror (des Faschismus) nie wieder einen Polen als Ausländer bezeichnen würde!" Im Namen eines abstrakten gesamteuropäischen Ideals klagte er jene an, die auf das konkrete materielle Problem hinweisen, und nicht jene, die für ungleiche Lohn- und Arbeitsbedingungen sorgen und damit den Grundstein für Konkurrenz und Hass legen.

Die dritte Antwort war jene, die durch den von links kommenden, überwiegenden Anteil der Vertragsgegner in diesem Abstimmungskampf gegeben wurde: Die Annäherung der Lebensbedingungen in Europa, durch Angleichung der sozialen Mindeststandards "nach oben". Also durch Einführung EU-weit verbindlicher Mindestlöhne, durch Schranken für die Mobilität des Kapitals, durch Niederlassungsfreiheit für Einwanderer bei gleichen Rechten statt für Firmen und Unternehmen.

Dieses "dritte Lager", das in einem größeren Bogen von der sozialdemokratischen Parteilinken um den Senator Jean-Luc Mélenchon über die französische KP und Attac bis zu den Trotzkisten unter Alain Krivine und Olivier Besancenot reichte, hat den Abstimmungskampf argumentativ bei weitem bestimmt.

Das Votum vom Sonntag stellt, alles in allem, eine gute Nachricht dar. Es ist auch Ausdruck einer im Prinzip unerwünschten "Einmischung" in die "große Politik": Die Stimmbeteiligung war vor allem auch in Arbeiter- und Unterschichtsbezirken so hoch wie seit 20 Jahren bei fast keiner Wahl, und vor allem bei keiner Europaparlamentswahl: Die Betroffenen legten meist Desinteresse an den Tag, unter der kleiner werdenden Zahl der Wahlteilnehmer wuchs entsprechend proportional der Anteil der rechtsextremen ("Protest"-)Stimmen. Erstmals konnten am Sonntag diese Schichten wieder stärker für ein "europapolitisches" Thema interessiert und mobilisiert werden.

Wäre es nach der Regierung gegangen, dann sollte das Europathema den vermeintlichen Experten überlassen bleiben, die für Nichtjuristen schwer lesbare Verfassungstexte entwerfen oder exegieren können, die Debatte in den bürgerlichen Medien monopolisierten und alle Einwände auf den Nenner des Rechtspopulismus zu bringen versuchten. Am Sonntag wurden sie Lügen gestraft. Diese "Einmischung" sollte andauern, und nicht nur in Frankreich: Nur so können die sozial marginalisierten Teile der Gesellschaft wieder stärker in die gesellschaftliche Debatte einbezogen werden - ein wichtiges Mittel unter anderen, um den Einfluss der extremen Rechten zurückzudrängen. Am besten wäre es, wenn die Debatte über den Wunsch nach einem "anderen als dem neoliberalen Europa", der am Sonntag durch eine Mehrheit der Franzosen geäußert wurde, ab jetzt grenzüberschreitend organisiert würde. Um zu zeigen, dass Solidarität jenseits nationaler Kollektive möglich ist, und allemal eine bessere Alternative als alle "Volksgemeinschaften" und "Ausländer Raus"-Parolen.

[FORUM]

hagalil.com 30-05-2005

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