Der Sieg des "Non" beim Volksentscheid:
Welche Rolle spielte die extreme Rechte?
Von Bernhard Schmid, Paris
Frankreich hat zu 55 Prozent "Non" zur Ratifizierung
des "Verfassung" genannten Staatsvertrags der EU gesagt. Ein Ergebnis, das
nach den Umfragen der letzten Wochen durchaus erwartet kam, aber in seiner
Deutlichkeit dann doch leicht überraschte.
An der extremen Rechten hat es definitiv nicht gelegen,
auch wenn die Figur Jean-Marie Le Pens im Abstimmungswahlkampf beständig
beschworen worden war - vor allem durch die Befürworter des Vertragswerks.
Das belegt die Auswertung der Stimmenzahlen, auf die im Anschluss näher
eingegangen werden soll. Doch zunächst zu den Positionen, welche die extreme
Rechte selbst einnahm.
Die Positionen der extremen Rechten vor dem Referendum
Die mit Abstand dominierende Partei der französischen
extremen Rechten, der Front National (FN), rief dazu auf, bei der
Volksabstimmung vom 29. Mai 2005 mit "Non" zu stimmen. Absolut im
Vordergrund stand dabei die
Ablehnung eines zukünftigen EU-Beitritts der Türkei als angebliche
Bedrohung.
Daneben traten allerdings andere, minoritäre Teile der
extremen Rechten zugunsten einer Annahme des Vertragswerks ein. Vor allem
bei der regionalistischen extremen Rechte, welche die vom FN vertretene
weitgehende Fixierung auf den klassischen Nationalstaat überwunden hat (und
neben diesem auch "die regionale Identität" und "die europäische
Kulturgemeinschaft" als positive Identifikationsmuster anerkennt) fanden
sich Befürworter des Verfassungsvertrags. Beispielsweise erklärte der
Generalsekretär der vom FN abgespaltenen, regionalistischen Partei Alsace
d'abord (Elsass zuerst), Jacques Cordonnier, seine Unterstützung für die
Annahme des Vertrags.
Flugblatt des Front National vor der Abstimmung über
den Verfassungsvertrag: "Für ein Europa ohne Türkei".
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Aus verwandten Gründen erklärte der ehemalige Regional-
und Europaparlamentarier des FN, Jean-Marc Brissaud, am Sonntag mit "Ja" zu
stimmen. Er tritt für ein machtpolitisch stärkeres Europa ein und führte
dazu aus: "In kontinentalen Zusammenhängen zu denken, ist unsere einzige
Heilschance (...) Nur Europa kann, wenn es die Kräfte seiner aus derselben
Kultur hervorgegangenen Völker vereint, auf dem abschüssigen Hang unserer
Dekadenz wieder hochsteigen." (Zitiert aus "Le Monde", 26. 05. 05) Ein
"mächtigeres", auch militärisch stärkeres Europa wurde übrigens auch im
konservativen Lager der Vertrags-Befürworter als zentrales Argument benannt.
Der MNR (Mouvement national républicain) unter Bruno
Mégret, der sich zu Anfang des Jahres 1999 vom Front National abspaltete,
steht einer solchen Argumentation im Prinzip nicht ferne. Mégret hatte sich
im Verlauf der Abstimmungsdebatte bereit erklärt, "zum Ja-Stimmen
aufzurufen, wenn Präsident Jacques Chirac sich verpflichtet, gegen den
EU-Beitritt der Türkei einzutreten" (Erklärung vom 8. April bei einem
Auftritt in Lyon). Doch mangels Masse wird der MNR nicht ernst genommen: Die
Splitterpartei hat zwar bei der Spaltung von 1999 die Mehrheit der damaligen
Kader aus dem "alten" FN mitgenommen, danach jedoch einen beispiellosen
Niedergang erlebt. Bei den Europaparlamentswahlen 2004 erhielt der MNR unter
0,5 % der Stimmen. Deswegen ging Chirac auch verständlicher Weise nicht auf
das "Angebot" Bruno Mégrets ein, der solcherart allein gelassen
späterhin dazu aufrief, "wegen der Türkei mit Nein zu stimmen". Bruno
Mégrets großmännisches Gebaren war dabei vor allem lächerlich. Es zeigt aber
symptomatisch, welch absolut zentrale Rolle in den Augen vieler
Rechtsextremisten die "Türkeifrage" einnahm und einnimmt.
Die Bedeutung des türkischen EU-Beitritts
Diese Frage stand zwar im Prinzip am letzten Sonntag gar
nicht zur Abstimmung, zumal die Aufnahme der Türkei in die Union erst in 10
bis 15 Jahren spruchreif werden dürfte. Aber auch die
bürgerlich-konservative Rechte griff dieses Thema, also die mit einem
eventuellen Beitritt der Türkei verbundenen Ressentiments, zur Mobilisierung
ihrer eigenen Wählerschaft auf (und um ihrer Abstimmungskampagne ein
"Ausgreifen" bis nach weit rechts zu ermöglichen). Der ehemalige
Innenminister und jetzige Parteichef der konservativen Regierungspartei UMP,
Nicolas Sarkozy, etwa hatte die UMP-Mitglieder am 6. März dieses Jahres über
eine Vorlage abstimmen lassen, in welcher das "Ja" zum Verfassungsvertrag
explizit mit dem "Nein" zum türkischen EU-Beitritt verbunden wird.
Auch die christdemokratische UDF, die momentan mit einem
Minister in der Regierung vertreten ist, führte eine dezidiert feindliche
Kampagne zum derzeit noch virtuellen türkischen Beitritt. Führende
UDF-Vertreter wie die ehemalige Industrieministerin Nicole Fontaine machten
etwa mit dem Argument Werbung, das im Verfassungsvertrag vorgesehene
"Petitionsrecht" würde es "einer Million EU-Bürgern erlauben, mit ihrer
Unterschrift den Beitritt der Türkei definitiv zu verhindern". Das war in
der Sache gelogen, denn das vom Verfassungsvertrag vorgesehene
"Petitionsrecht" enthält lediglich die Möglichkeit, sich (mit einer Million
Unterschriften aus "einer signifikanten Anzahl von Mitgliedsländern") an die
EU-Kommission zu wenden mit der Bitte, sich mit diesem oder jenem Thema
nochmals zu befassen. Ob die Kommission sich aber wirklich damit befasst,
und erst recht der Inhalt ihrer Entscheidung, bleibt allein ihr überlassen.
Die während des UDF-Wahlkampfs explizit behauptete
demokratische Qualität BürgerInnen könnten durch ihre Unterschrift ein
Vorhaben definitiv beeinflussen stellt also eine Falschbehauptung dar.
Aber dieses Wahlkampfargumente diente den Ressentiments, die sich vor allem
auf der Rechten mit der eventuellen Aufnahme der Türkei in die Union
verbinden, als Resonanzboden und damit als Verstärker: Alles musste so
aussehen, als sei der Beitritt dieses Landes wirklich ein vordringliches
Problem für die Einwohner der (anderen) Mitgliedsländer. Dagegen traten
größere Teile der Linken, die überwiegend für die Ablehnung des
Verfassungsvertrags eintrat, explizit für das Recht der Türkei auf einen
EU-Beitritt ein, jedenfalls unter der Bedingung demokratischer Reformen wie
der Abschaffung der Folter und einer Anerkennung des Armenier-Genozids. Die
Frage des türkischen Beitritts lag also weitgehend quer zur Frontstellung
zwischen Opponenten und Kritikern des konkreten Vertragswerks, über das am
Sonntag abgestimmt wurde.
Welchen Einfluss hatte die extreme Rechte auf den Ausgang der
Abstimmung?
Die Ergebnisse des Referendums vom Sonntag, 29. Mai hat
die extreme Rechte nicht entscheidend beeinflussen können. Auch wenn
Jean-Marie Le Pen - aus völlig anderen Gründen als die Mehrheit der
sonstigen Gegner des Verfassungsvertrags - zum "Nein"-Stimmen aufrief, so
hätte das "Non" auch dann gewonnen, wenn die Anhängerschaft Le Pens nicht
existiert hätte oder zu Hause geblieben wäre.
Der Front National durchquert zur Zeit die schwerste Krise
seiner Geschichte, aufgrund des absehbaren altersbedingten Abgangs seines
Chefs und Übervaters Jean-Marie Le Pen: Er führt seit ihrer Gründung im
Oktober 1972 die Partei ohne Unterbrechung, in den letzten Jahren zunehmend
wie ein absoluter Monarch, nachdem er die ihm gefährlich werdenden Kader zum
Jahreswechsel 1998/99 ausgeschlossen hatte. Doch Le Pen, der in Juni 77 wird
und im Sommer 2002 eine Krebs-, im Februar 2005 eine schwere Hüftoperation
erlitt, wird in näherer Zukunft seine Partei nicht mehr führen können. Doch
seine Nachfolge ist nicht geregelt, das hat er selbst stets verhindert. Der
Führungskader ist im Hinblick auf die absehbare Ablösung Le Pens heillos
zerstritten, persönlicher Hass hat sich ausgebreitet.
In der Gunst der Franzosen liegt der Front National
derzeit bei knapp 9 Prozent, laut der jüngsten Monatsumfrage des
"Figaro-Magazine". Das wäre rund ein Prozent weniger als bei den letzten
Europaparlamentswahlen im Juni 2004. Der Abstand zwischen dem NON und dem
OUI beim Ausgang der Abstimmung beträgt aber gut 10 Prozent. Demnach hätten
die Kritiker des Verfassungsvertrags auch dann noch die Abstimmung gewonnen,
wenn am Sonntag alle Le Pen-Anhänger durch eine rätselhafte Krankheit
befallen worden wären und mit einer plötzlichen Lähmung hätten zu Hause
bleiben müssen.
Ferner muss erwähnt werden, dass zumindest in den
verbliebenen "Kleine Leute"-Vierteln von Paris (wie dem 18., 19. und 20.
Arrondissement) alle FN-Plakate systematisch von den Parteigängern des "Nein
von Links zum Verfassungsvertrag" überklebt wurden. (Vgl. auch unser Foto)
Überklebt vom "Appell der 200", einem Aufruf für das "Nein
von Links zum Verfassungsvertrag": Plakate des rechtsextremen Front national
(Stellschild 6) und von Pro-Vertrags-Parteien wie der Mehrheitsgrünen (die
Partei war vor der Abstimmung in zwei Hälften gespalten), Stellschild Nummer
7, und der konservativen Regierungspartei UMP (Stellschild Nummer 8).
19. Pariser Bezirk, drei Tage vor der Abstimmung.
Die "Instrumentalisierung" der extremen Rechten im Abstimmungskampf
durch andere Parteien
Trotz seiner tendenziellen Abwesenheit aus dem Wahlkampf
vor der Abstimmung wurde Le Pen ständig durch die Regierungspartei UMP und
durch den rechten Flügel der Sozialdemokratie beschworen. Und zwar als eine
Art Schreckgespenst: "Wenn Ihr mit Nein abstimmt, dann stimmt Ihr genauso
wie Le Pen". Dabei verschwiegen die Politiker aus dem Mitte-Rechts- und
Mitte-Links-Spektrum freilich vornehm, dass eine "Ja"-Stimme ihrerseits
identisch mit der Position eines Silvio Berlusconi, eines italienischen
"Postfaschisten" Gianfranco Fini (der als Mitglied des "Verfassungskonvents"
sogar Co-Autor des Textes war) und eines Jörg Haider zum Verfassungsvertrag
ist. Eine binäre Ja-Nein-Entscheidung bei einem Referendum ist nun einmal
dazu geeignet, dass sich unterschiedliche Leute aus unterschiedlichen
Gründen mit demselben Stimmzettel in der Hand wiederfinden. Das ist nicht
identisch damit, ein politisches Programm oder Projekt gemeinsam mit der
extremen Rechten zu vertreten, wie bürgerliche Regionalregierungen in
Frankreich es 1998 taten, als sie mit den Stimmen des FN ins Amt gelangten.
Dieser Unterschied wurde systematisch verwischt, dadurch wurde die Gefahr
einer tatsächlichen politischen Annäherung an die extreme Rechte verwischt.
In ihrer Ausgabe vom 26. Mai behauptete die Pariser
Abendzeitung "Le Monde" - gewöhnlich die seriöseste überregionale
Publikation, die jedoch in den letzten Wochen sehr parteiisch berichtete und
für die Annahme des Verfassungsvertrags warb -, "über 50 Prozent der
Nein-Wähler" drei Tage später kämen von der extremen Rechten. Eine Aussage,
die bereits rein mathematisch nicht richtig sein konnte, auch wenn man den
Wählern Le Pens jene des Grafen Philippe de Villiers hinzuzählte. De
Villiers ist ein katholischer Nationalkonservativer, dessen Stimmenpotenzial
de Villiers erhielt rund 7 Prozent der Stimmen bei der letztjährigen
Europaparlamentswahl zwar auch zugunsten des "Non" in die Waagschale fiel,
sich aber von seiner gesellschaftlichen Natur her nicht wesentlich von der
Basis der Regierungspartei UMP unterscheidet. Philippe de Villiers
bezeichnet sich und seine Parteigänger im übrigen als den europaskeptischen
oder "souveränistischen" Flügel der derzeitigen konservativ-liberalen
Minderheit: In sozial-, wirtschafts- und gesellschaftspolitischen Fragen
liegen die regierende UMP oder die christdemokratische UDF auf derselben
Wellenlänge wie Philippe de Villiers und seine bisher erst in Keimzellenform
existierende Organisation, der MPF (Mouvement pour la France, Bewegung für
Frankreich). Lediglich in der Frage von "mehr Nationalstaat oder stärkere
europäische Einbindung" weichen beide voneinander ab. Deswegen sollte das
Potenzial des konservativ-reaktionären Grafen de Villiers auch nicht mit
jenem des rechtsextremen Front National gleichgesetzt werden. Obwohl es
zutrifft, dass de Villiers in Zeiten der Schwäche des FN auch dessen
Wählerschaft teilweise "herüberzuziehen" versucht und ihm dies teilweise
auch gelingt.
Das tendenziell "erpresserische" Argument des ständigen
Hinweises auf Le Pen (um nicht von der konkreten Kritik am Inhalt des
Verfassungsvertrags sprechen zu müssen), das vor allem sozialdemokratische
und linksliberale Wähler vom Nein-Stimmen abhalten sollte, hat sich im Laufe
der Wochen abgenutzt: Kaum jemand wollte es mehr hören. Aber seine
Verwendung bis zum Überdruss durch die bürgerliche Propagandamaschinerie und
die Verwischung des Unterschieds zwischen "Nein-Stimmen, während auch Le Pen
(aus anderen Gründen) mit Nein stimmt" einerseits und "gemeinsam mit den
Rechtsextrem regieren" andererseits birgt längerfristig ein größeres Risiko
in sich: Das einer Banalisierung und Verharmlosung der extremen Rechten.
Denn falls künftig tatsächlich echte politische Allianzen mit den
Rechtsextremen stattfinden und denunziert werden müssten, dann sich das in
den letzten Wochen inflationär (und inhaltlich falsch) verwendete Argument
bereits abgenutzt.
Bis zur letzten Minute hatte vor allem die
Mehrheitssozialdemokratie ihren Wahlkampf darauf ausgerichtet, die
unterschiedlich motivierten Kritiken an dem Vertragswerk auf den Nenner des
Rechtspopulismus zu bringen. Auch wenn die eigene Parteilinke selbst zum
"Non" aufrief.
Während theoretisch am Tag der Abstimmung selbst jede
politische Werbung verboten ist, hatten Aktivisten des rechten Flügels des
Parti Socialiste (PS) noch in der Nacht oder am frühen Sonntag morgen vor
Metrostationen und auf Wochenmärkten Handzettel auf dem Boden verstreut.
Darin wurden "die Wähler der Linksparteien" eindringlich vor einer
"Wiederholung des 21. April 2002" gewarnt, also des Wahltriumphs von Le Pen
bei der letzten Präsidentschaftswahl, falls das "Non" gewinne.
Man nenne es die Kunst, dauernd von etwas (im konkreten
Falle) nicht Ausschlaggebendem zu reden, um vom wirklich Ausschlaggebenden
der Kritik an der Sozial- und Wirtschaftspolitik, die durch den
Verfassungsvertrag auf Dauer festgegossen werden sollte nicht sprechen zu
müssen.
Soziale Polarisierung
Unbestreitbar ist die soziale Polarisierung, die dem Votum
vom Sonntag zugrunde liegt. 81 Prozent der Industriearbeiter und 79 Prozent
der Erwerbslosen stimmten gegen die Annahme des Verfassungsvertrag, hingegen
votierten vier Fünftel der höheren und leitenden Angestellten mit "Ja".
Wenn in der, von ihren "kleinen Leuten" (aufgrund der
Mietpreisentwicklung der letzten 30 Jahre) größerenteils "gesäuberten"
Hauptstadt Paris 66 Prozent der WählerInnen mit "Ja" stimmen und in den
nördlich angrenzenden Trabantenstädten weit über 60 Prozent mit "Nein", ist
dies ein deutliches Signal. So stimmten in der KP-regierten
Bezirkshauptstadt des nördlich an Paris angrenzen Départements
Seine-Saint-Denis, in Bobigny, 72 Prozent mit Nein. In diese Banlieue-Zone
hat Paris in den letzten drei Jahrzehnten einen Großteil seiner armen
Familien, "kleinen Leute" und Lohnabhängigen , die sich nur hier noch eine
Wohnung leisten können, abgeschoben.
Ein "Nein" wogegen? Ein NON von Links, ein anderes von Rechts
Sicherlich sind europapolitische Entscheidungen komplexer
Natur, da unterschiedliche, ja gegensätzliche Motive sich in einer
gemeinsamen Ablehnung oder Zustimmung bündeln können und dies nicht nur in
Frankreich. Man kann die politische Grundkonstellation als eine Art
Koordinatenkreuz darstellen: Auf der einen Achse steht "Mehr nationale
Souveränität oder mehr europäische Integration". Auf dieser Ebene ist die
Opposition von rechts gegen das supranationale Europa, oder "zu viel" davon,
angesiedelt. Der CSU-Abgeordnete Peter Gauweiler steht ebenso für eine
solcherart motivierte Ablehnung wie die britische United Kingdom
Independance Party (UKIP), die bei zu den Gewinnern der letzten
Europaparlamentswahlen zählte, oder die Franzosen Jean-Marie Le Pen und
Philippe de Villiers.
Doch zu einem richtigen Koordinatenkreuz gehört noch eine
zweite Achse, die quer zur anderen liegt, und auf der steht:
"Wirtschaftsliberales oder soziales Europa". Es ist diese Dimension, die am
Sonntag abstimmungsentscheidend war. Die Anhänger der Rückkehr zur
nationalstaatlichen Souveränität erschienen im zurückliegenden Wahlkampf
vorwiegend als Vertreter eines Anachronismus. Sie schlugen vor, in einen Zug
einzusteigen, der längst nicht mehr auf dem Fahrplan steht: Seit dem Euro
gibt es keine nationale Währungspolitik mehr, die Osterweiterung der EU wird
auch durch das Ergebnis des Volksentscheids vom Sonntag nicht rückgängig
gemacht werden. Tatsächlich drehte sich die Debatte der letzten Woche kaum
darum, ob man einen Schritt hinter diese Entwicklung zurück machen möchte -
sondern vor allem darum, was man mit dem politischen Raum jetzt anfangen
will, der in großen Teilen des Kontinents entstanden ist.
Was der "Verfassung" genannte Staatsvertrag dazu
vorschlug, konnte die Mehrheit der französischen Wähler nicht befriedigen.
Soziale Probleme und individuelle politische Rechte sollen weiterhin den
Nationalstaaten überlassen bleiben, und nur der Markt und die Konkurrenz
sollten die Bevölkerungen der EU miteinander verbinden: In seinem Artikel
III-210-2 schloss der Verfassungsvertrag explizit eine Angleichung der
sozialpolitischen Gesetzgebung der verschiedenen EU-Länder aus, eine
"Harmonisierung" auf diesem Gebiet soll allein einer vermeintlichen
spontanen Entwicklung der Gesetzgebungen auf jeweils nationaler Ebene
überlassen bleiben. Und bei den Bürgerrechten bringt der Vertrag denen, die
beispielsweise noch immer kein Recht auf Ehescheidung oder Abtreibung haben
in Polen, Portugal, Irland oder Malta keinerlei Fortschritt.
Gesellschafts- und Sozialpolitik im nationalen Rahmen, überwölbt von einem
transnationalen Markt: Nein, dieses neoliberale Europa wollten die Franzosen
mehrheitlich nicht.
Unterschiedliche Antworten auf ein reales Problem
Der Abstimmungskampf konzentrierte sich über weite
Strecken hinweg auf die Frage des Umgangs mit osteuropäischen Arbeitnehmern,
die bereits heute auf Arbeitssuche nach Frankreich kommen. Derzeit können
sie das offiziell noch nicht als abhängig Beschäftigte, da Frankreich sich
ebenso wie Deutschland und die meisten anderen EU-Staaten mit Ausnahme der
britischen Inseln einen Vorbehalt bezüglich der Freizügigkeit
osteuropäischer EU-Bürger geltend macht. Deswegen kommen polnische und
andere Arbeitnehmer im Moment überwiegend als Scheinselbständige nach
Frankreich.
Ein Ausspruch des ehemaliges niederländischen
EU-Kommissars Frits Bolkestein rückte den, inzwischen sprichwörtlichen,
"polnischen Klempner" in das Zentrum der Debatte. Der Herr beschwerte sich
Anfang April darüber, dass er für sein Haus in der Nähe des
nordfranzösischen Arras "kein geeignetes Personal" finde: Die Klempner und
Elektriker, die er beauftragt habe, waren anscheinend nicht billig oder
nicht willig genug. Deshalb würde er gern "polnische Klempner" importieren
und ans Werk lassen, befand Bolkestein. Derselbe Herr war in den vier Wochen
vorher als Namengeber der EU-Richtlinie zum Dienstleistungsgewerbe berühmt
geworden. Diese sieht vor, dass in solchen Fällen Arbeitnehmer von
Dienstleistungsunternehmen aus anderen EU-Ländern (etwa: die polnischen
Klempner, sofern sie Beschäftigte einer polnischen Firma sind, die in
Frankreich ihre Dienste anbietet) zu sozial- und arbeitsrechtlichen
Bedingungen ihrer Herkunftsländer beschäftigt werden können. Also
beispielsweise polnische Klempner in Frankreich zu polnischen Stundensätzen,
Arbeitszeiten und Sozialversicherungsbedingungen.
Nachdem diese, bereits in erster Lesung verabschiedete
Richtlinie im März 2005 erstmals durch französische Gewerkschaften einer
breiteren Öffentlichkeit bekannt wurde, hatte man sie Brüssel eilends
"verschoben", um den Ausgang des französischen Referendums nicht zu
gefährden. Doch aufgeschoben bedeutet keineswegs aufgehoben: Ihre
Verabschiedung in zweiter Lesung ist nunmehr für September 05 programmiert.
Nach dem französischen Votum dürfte ihre Annahme jedoch schwerer fallen.
Im Laufe der Abstimmungskampagne wurde immer wieder
publik, dass die durch die "Bolkestein-Richtlinie" vorgesehen sozialen
Zustände zum Teil bereits heute Wirklichkeit sind: Polnische Fernfahrer sind
gezwungen, in Frankreich Nächte über Nächte auf Autobahnraststätten in ihren
LKWs zu übernachten, damit sie auf dem Papier in Polen gemeldet bleiben und
nicht auffällt, dass sie in Wirklichkeit in Frankreich für französische
Speditionsfirmen arbeiten. Es gab bereits Fälle, in denen französische
Fernfahrer ihre polnischen Kollegen-"Konkurrenten" verprügeln wollten und
nur durch gewerkschaftlich organisierte Leute aus ihren eigenen Reihen
mühsam davon abgehalten werden konnten. Und wie Mitte Mai bekannt wurde,
sind portugiesische Arbeiter seit längerem Auftrag der französischen
Telekom, bei deren Subfirma Constructel, in Zentralfrankreich zu
portugiesischen Löhnen tätig. Die Liste der Beispiele ließe sich verlängern.
Auf dieses reale Problem gab es drei unterschiedliche
Antworten, die in diesem Abstimmungskampf vertreten wurden. Die erste
lautet: Diese ausländische Arbeiter müssen "raus". Dafür steht tendenziell
die extreme Rechte, auch wenn sie es nicht allzu hinaus posaunte, da
beispielsweise der FN offiziell "für ein Europa ohne Türkei" eintritt und
gegenüber den christlichen Völkern und "alten Zivilisationen" Europas
mindestens theoretisch Respekt bekundet. A propos: Bisher 0tritt der FN
gewöhnlich nicht für einen Austritt aus der EU ein, sondern für ihre
Umwandlung in ein "Europa der Vaterländer" mit möglichst souveränen
Nationalstaate. In der dritten Maiwoche sprach Jean-Marie Le Pen sich
plötzlich, in einem Anflug verbaler Kraftmeierei, in den Medien für einen
EU-Austritt Frankreichs aus. Ihm widersprach sogar der FN-Generalsekretär in
der Pariser Abendzeitung "Le Monde" (vom Samstag, 28. 05. 05) offen. Ein
solcher Zirkus ist freilich eher der Ausdruck der momentanen Schwäche und
Konfusität des FN.
Die zweite mögliche Antwort darauf lautet: Ignorieren.
Dafür steht die bürgerliche Rechte, die im Kern der Ansicht ist, in den
beschriebenen Phänomenen liege kein Problem: Zwar würden in Frankreich
Arbeitsplätze durch Vergabe an Billiglohnländer oder "Import" billigerer
Arbeitskräfte zwecks Lohndrückens verschwinden. Aber dies würde allemal
durch den Vorteil (aus Sicht des nationalen Kapitals) des Zugewinns an
Marktanteilen für große westeuropäische Firmen in Polen und anderswo
wettgemacht. Wen kümmert also die "Konkurrenz unter Arbeitern"? Dagegen
überspielte eine linksliberale Schickeria, die auf der Seite der
Mehrheitssozialdemokratie am Wahlkampf teilnahm, das Problem durch
Schöngeisterei. So der Schauspieler Philippe Torreton, der in einem jüngst
erschienenen Film den historischen Sozialistenführer Jean Jaurès verkörpert.
Auf die Frage eines Radiojournalisten bei France Info, was er vom Einsatz
und den Arbeitsbedingungen osteuropäischer "Billigarbeitskräfte" halte,
antwortete er mit moralischem Pathos: "Und ich habe gedacht, dass man nach
dem Horror (des Faschismus) nie wieder einen Polen als Ausländer bezeichnen
würde!" Im Namen eines abstrakten gesamteuropäischen Ideals klagte er jene
an, die auf das konkrete materielle Problem hinweisen, und nicht jene, die
für ungleiche Lohn- und Arbeitsbedingungen sorgen und damit den Grundstein
für Konkurrenz und Hass legen.
Die dritte Antwort war jene, die durch den von links
kommenden, überwiegenden Anteil der Vertragsgegner in diesem
Abstimmungskampf gegeben wurde: Die Annäherung der Lebensbedingungen in
Europa, durch Angleichung der sozialen Mindeststandards "nach oben". Also
durch Einführung EU-weit verbindlicher Mindestlöhne, durch Schranken für die
Mobilität des Kapitals, durch Niederlassungsfreiheit für Einwanderer bei
gleichen Rechten statt für Firmen und Unternehmen.
Dieses "dritte Lager", das in einem größeren Bogen von der
sozialdemokratischen Parteilinken um den Senator Jean-Luc Mélenchon über die
französische KP und Attac bis zu den Trotzkisten unter Alain Krivine und
Olivier Besancenot reichte, hat den Abstimmungskampf argumentativ bei weitem
bestimmt.
Das Votum vom Sonntag stellt, alles in allem, eine gute
Nachricht dar. Es ist auch Ausdruck einer im Prinzip unerwünschten
"Einmischung" in die "große Politik": Die Stimmbeteiligung war vor allem
auch in Arbeiter- und Unterschichtsbezirken so hoch wie seit 20 Jahren bei
fast keiner Wahl, und vor allem bei keiner Europaparlamentswahl: Die
Betroffenen legten meist Desinteresse an den Tag, unter der kleiner
werdenden Zahl der Wahlteilnehmer wuchs entsprechend proportional der Anteil
der rechtsextremen ("Protest"-)Stimmen. Erstmals konnten am Sonntag diese
Schichten wieder stärker für ein "europapolitisches" Thema interessiert und
mobilisiert werden.
Wäre es nach der Regierung gegangen, dann sollte das
Europathema den vermeintlichen Experten überlassen bleiben, die für
Nichtjuristen schwer lesbare Verfassungstexte entwerfen oder exegieren
können, die Debatte in den bürgerlichen Medien monopolisierten und alle
Einwände auf den Nenner des Rechtspopulismus zu bringen versuchten. Am
Sonntag wurden sie Lügen gestraft. Diese "Einmischung" sollte andauern, und
nicht nur in Frankreich: Nur so können die sozial marginalisierten Teile der
Gesellschaft wieder stärker in die gesellschaftliche Debatte einbezogen
werden - ein wichtiges Mittel unter anderen, um den Einfluss der extremen
Rechten zurückzudrängen. Am besten wäre es, wenn die Debatte über den Wunsch
nach einem "anderen als dem neoliberalen Europa", der am Sonntag durch eine
Mehrheit der Franzosen geäußert wurde, ab jetzt grenzüberschreitend
organisiert würde. Um zu zeigen, dass Solidarität jenseits nationaler
Kollektive möglich ist, und allemal eine bessere Alternative als alle
"Volksgemeinschaften" und "Ausländer Raus"-Parolen.
[FORUM]
hagalil.com 30-05-2005 |