In Deutschland und in Russland:
Der Sieg über den Faschismus
Von Anna Schor-Tschudnowskaja
Laut einer deutschen, vor ein paar Monaten
veröffentlichten Umfrage stimmten knapp 70 % der Befragten der folgenden
Aussage zu: "Ich ärgere mich darüber, dass den Deutschen auch heute noch die
Verbrechen an den Juden vorgehalten werden". Laut einer anderen, bereits vor
zwei Jahren veröffentlichten Studie stimmten 28 % der Befragten der
folgenden Aussage zu: "Auch heute noch ist der Einfluss der Juden zu groß".
Auch heute noch... Obwohl man ja so viel dagegen getan hat?
Dieses "auch heute noch" steht beinahe in einem logischen
Zusammenhang mit der ersten Aussage: Wenn die Juden auch heute noch einen zu
großen Einfluss haben, dann ärgert man sich, dass den Deutschen die
Verbrechen an den Juden auch heute noch vorgehalten werden – wo sie ja
nichts gebracht haben. Und selbst wenn man sich nur deswegen ärgert, weil
man das Vorhalten als erniedrigend empfindet und sich bessere,
symmetrischere Beziehungen zu anderen Staaten wünscht, ist dieses Ärgern ein
beunruhigendes Zeichen.
Die Menschen, die der zweiten Aussage zugestimmt haben,
können als antisemitisch bezeichnet werden. Es sind in Deutschland, wenn man
der Studie glaubt, 28 Prozent, sagen wir jeder Vierte. Was ist aber mit den
70 % der sich Ärgernden? Das wichtigste an dieser Einstellung, die eher ein
Gefühl als rationale Überlegung zu sein scheint, ist, dass sie ein absolut
sicheres Zeichen für eine nachlassende Angst vor Faschismus ist. Sie drückt
das Unwissen darüber aus, wie schleichend Faschismus sich etablieren und wie
scheinbar unbemerkt er in Massentötung münden kann. Und wenn man die sich
verbreitende Angst und Verunsicherung angesichts der Sozialreform in
Deutschland berücksichtigt, bekommen diese Ergebnisse eine zusätzliche
Bedeutung: es ist ein gefährliches Zusammenspiel zwischen individueller und
sozialer Verunsicherung einerseits und dem nachgelassenen Bewusstsein für
die Schrecken einer selbst auch nur faschistoiden Ideologie und Politik
andererseits.
In Russland ist der Sieg über Faschismus beinahe der
einzige übrig gebliebene staatliche Feiertag, der großzügig und mit Stolz
veranstaltet wird. Die durch viel Wandel im postsowjetischen Russland
geprägte Bevölkerung erlebt ihn aber auch als sehr persönlich und aktuell.
Die Gründe dafür sind verschiedener Natur und es gilt, über sie zu
reflektieren, denn in diesem Jahr des 60. Jubiläums des Sieges geht es
ernsthafter als in den Jahren zuvor darum, ob der Faschismus tatsächlich
besiegt worden ist.
Die Angst und Verunsicherung in Russland sind nicht mit
jener unter Deutschen vergleichbar. In Russland sind die Lebensbedingungen
wesentlich härter, der Anteil der wirklich Armen wesentlich größer, die
politische und wirtschaftliche Krise wesentlich verheerender. Vor diesem
Hintergrund erheben sogar die russischen Intellektuellen immer lauter die
Frage nach dem Russlands Überleben – angesichts der vielen äußeren und
inneren Bedrohungen. Dabei spielt Faschismus als ein neuer Sammelbegriff für
"den Feind" eine große Rolle und soll die Mobilmachung und Anwendung der
Staatsgewalt legitimieren.
Auch in Russland kann man aber eben nicht sagen, dass die
Bevölkerung eine wahre Angst vor dem Faschismus entwickelt hätte. Sonst wäre
der Begriff nicht all zu häufig eine rhetorische Karte, die von
verschiedenen politischen Gruppierungen ausgespielt wird. Sonst würden die
russischen Intellektuellen nicht so gern vom "Eurofaschismus" reden, Europa
des Verrates an der Aufklärung beschuldigen und Russland zur Verteidigung
der "aufklärerischen Werte" (gegen Europa?) wie "starke Nation" und
"geliebte Heimat" aufrufen. Sonst würde der Chef des Präsidialamtes für
interregionale und interkulturelle Beziehungen zum Ausland, Modest Kolerow,
nicht von einer "Front gegen Russland" sprechen. Man darf auch besorgt
fragen, was für Beziehungen sein Amt zu dieser "Front" wohl aufbauen will?
Sonst würde die Kreml-Administration nicht eine neue politische
Jugendbewegung mit Namen "Die Unsrigen" gründen und finanzieren, sie
offiziell als "antifaschistisch" attestieren, sie aber lediglich mit
patriotischen Parolen füllen und auf Suche nach Nicht-Unsrigen schicken, die
zu bekämpfen sind. Die antifaschistische Rhetorik wird misshandelt und als
Mittel zur Bekämpfung der Reste der sowieso schon sehr schwachen politischen
Opposition eingesetzt. Gerade weil man keine Angst vor dem Aufkommen eines
neuen Faschismus hat.
Dabei ist es tatsächlich so, dass die Faschismusgefahr in
Russland nicht zu unterschätzen ist. Man muss den Kremlherren Recht geben.
Allein in den letzten drei Wintermonaten gab es im Land mindestens 43 Opfer
von rassistischen Überfällen: mindestens 6 Tote und 37 Verletzte (davon 27
in Moskau und Petersburg). Das letzte Jahr hat Russland viele schmerzliche
Erfahrungen beigebracht. Die "farbigen" Revolutionen in Georgien, der
Ukraine und Kirgisien und der Streit mit den Republiken im Baltikum führten
nochmals deutlich vor, wie weit sich politisch die ehemaligen Verbündete
entfernt haben, deren Verhalten in Russland so verführerisch leicht als
Verrat etikettiert wird.
Bilder von einem jüdischen Friedhof in St. Petersburg.
Die Schmierereien und Schändungen wurden gestern, am 9. Mai, entdeckt.
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Knapp über 90 % der Befragten in meiner eigenen
Untersuchung in Petersburg gaben an, "Russland habe Feinde" – ein Ausdruck
der wahrgenommenen Bedrohung, von der weder Jung noch Alt verschont bleibt.
Dieses Ergebnis ist alles andere als erstaunlich, denn die Medien
propagieren täglich davon. Sie propagieren auch gerne die Idee der großen
und einmaligen russischen Nation, die auf dem Territorium eines starken
Staates, eines "Imperiums" lebt und durch ihre militärische Stärke möglichst
viel Angst ihren nahen und weiten Nachbarn macht. Wie soll diese Bevölkerung
60 Jahre nach dem Kriegsende den Faschismus bekämpfen können? Ist ihr
Potential wirklich auf das "antifaschistische" Kreml-Produkt "Die Unsrigen"
beschränkt?
Die Vorbereitung der Feierlichkeiten zum Kriegsende sind
in diesem Jubiläums-Jahr auch durch eine andere merkwürdige Diskussion
begleitet: Es soll ein Stalin-Denkmal errichtet werden, man suche nach dem
passenden Ort dafür: Moskau? Jalta? Wolgograd (ehemaliger Stalingrad)? Am
bezeichnendsten an dieser Debatte ist nicht ihr Grund, sondern der
erschreckend schlechte Kenntnisstand vor allem in der jungen Generation über
die sowjetische Geschichte. Auch hier ist eine nicht vorhandene Angst vor
Massenmord und Staatsterror festzustellen. Im Gegensatz zu Deutschland muss
man allerdings sagen, dass die Bevölkerung Russlands nie in einen
systematischen Prozess der "Vergangenheitsbewältigung" (einer öffentlichen
Auseinandersetzung damit) einbezogen war. Die fehlende Angst und mit ihr
eine fehlende Immunität (Widerstand) gegenüber Staatsterror und
faschistoider Ideologie und Gewalt sind hier bestimmt Besorgnis erregender
als in Deutschland.
Zu den Ursachen des Faschismus gibt es mehrere
theoretische Erklärungsansätze. Gemeinsam ist ihnen allen ein bestimmtes
Menschenbild, welches als Hintergrund für faschistisches Denken und Handeln
dient: Es spricht dem Menschen als solchem die rationale Erkenntnis- und
Urteilsfähigkeit ab und befürwortet konservative, anachronistische, auf
strikten Moralvorschriften gegründete Formen der gemeinschaftlichen und
zwischenmenschlichen Bindungen sowie deren Überwachung. Insofern ist
Faschismus gegen das Neue, Unbekannte, Abweichende und Widersprüchliche
gerichtet und damit auch entwicklungs- und fortschrittsfeindlich. Hinzu
kommt, dass Faschismus an "unzufriedene Massen" und schwaches
Selbstwertgefühl des Menschen appelliert, welches er aufzuwerten verspricht.
Er liebt Gewalt, sie ist es eben, das Instrument der ersehnten Aufwertung
des Selbstwertgefühls. Faschismus ist primitiv, und je primitiver seine
"Instrumente" und Versprechen sind, desto gefährlicher ist er – für alle,
seine Opfer wie seine Täter.
Faschismus speist sich unter anderem aus Unsicherheit und
diffuser, irrationaler Angst, die für sich verschiedene Feindbilder als
Objekte kreiert. Man sollte sich allerdings immer wieder vor Augen führen,
dass man sich vor dem Faschismus ebenfalls mit Angst schützen kann. Aus
Psychologie und Psychoanalyse wissen wir, dass Ängste sowohl irrationaler
als auch rationaler Natur sein können und dass nur die ersteren Zeichen
einer krankhaften Veränderung der menschlichen Psyche sind. Angst kann
durchaus adäquat sein und den Menschen rechtzeitig warnen und schützen.
Angst ist sowohl einer der Gründe für als auch eines der Mittel gegen den
Faschismus.
Die Antwort auf die Faschismusgefahr ist sicherlich eine
Reifeprüfung für demokratisches Denken. Die Erinnerung sollte daher weder
den Deutschen noch den Russen als belanglos und beleidigend vorkommen. Es
soll dabei auch nicht um einen "Vergleich" des deutschen Nationalsozialismus
mit den Verbrechen der Sowjetunion (innerhalb und außerhalb ihrer Grenzen)
gehen. Es geht eher darum, sich auch hier zumindest an die Debatten der
aktuellen kritischen Philosophie und Sozialwissenschaft zu orientieren, die
sich über das Zusammenspiel von Differentem und Identischem streiten und
damit das Existenzrecht des Differenten und der Einzigartigkeit wahren. Denn
sonst wird der Faschismus, in welcher neuen Gestalt auch immer, doch noch
siegen können. Eine wachsame Angst kann uns jedoch davor schützen.
Die Erinnerung an den "gemeinsamen Krieg" verbindet heute
Deutschland und Russland möglicherweise mehr als alte Freundschaft. Sie tut
es aber nicht zuletzt auch aufgrund der ständigen Bemühungen von deutscher
Seite, sich zu erinnern. Gemeinsam Denkmäler aufzustellen, Briefe und
persönliche Aufzeichnungen zu veröffentlichen, die Spuren von gefallenen
Verwandten in Russland zu suchen, Russen zu suchen, die damals in der
Kriegsgefangenschaft zu überleben halfen, ins Gespräch mit dem ehemaligen
Gegner zu kommen usw. Vor dem Hintergrund der großen Feier müsste man sich
erneut die Frage stellen, was Deutschland, als Teil der Europäischen Union,
gegen die gemeinsame faschistische Gefahr heute tun kann und soll.
[FORUM]
hagalil.com 10-05-2005 |