Bundeskanzler Schröder
und der Aufstand der Anständigen:
Ein richtiges und wichtiges Signal - schlecht umgesetzt
Ein Brief an Deutschlands Kanzler im Januar
2005
Unser Dossier in dieser Angelegenheit finden Sie
hier...
Dieser
Brief erreichte das Bundeskanzleramt in Berlin Anfang Februar 2005. Wir
haben bisher von keiner Reaktion des Kanzleramts erfahren.
Im Februar hatten wir, nachdem zuerst der zuständige Referatsleiter Dr.
Sven-Olaf Obst jede weitere Kommunikation abgebrochen hatte, uns an den
zuständigen Staatssekretär im Bundesministerium für Familien, Senioren,
Frauen und Jugend gewandt. Unsere Hoffnung hier Unterstützung und
Vermittlung zu finden, wurde enttäuscht. Nachdem auch Staatssekretär
Ruhenstroth-Bauer jede Diskussion ablehnte, blieb uns nichts anderes übrig
als unsere Freunde und Leser über die schwierige Lage zu informieren. Dass
unsere Bitte um Hilfe und Spenden zu einer Reaktion der Öffentlichkeit
führen würde, hätte den zuständigen Beamten des Ministeriums von vorneherein
klar sein müssen, hatten wir doch immer die "Breitenwirksamkeit des unter
haGalil online entstandenen Bildungsangebots" hervorgehoben. Dass die
Zerstörung dieses Angebots nicht unbemerkt und in diskreter Stille von
statten gehen würde, hätte klar sein müssen.
Uns wurde zwar mitgeteilt man reagiere auf ministerialer Ebene grundsätzlich
nicht auf "Offene Briefe", inzwischen wissen wir aber, dass man auch nach
"diskreten Briefen" nicht auf Antwort hoffen darf. Den Inhalt unseres
Schreibens möchten wir Ihnen aber trotzdem mitteilen. Dies auch im Rahmen
der vom Bundesministerium in einer Pressemeldung in's Gespräch gebrachte
Transparenz, die das Ministerium durch ständig wechselnde und zum Teil
widersprüchliche Verlautbarungen sicher nicht fördert.
Abb./Photo:
Andrea Bienert,
Bundeskanzler Schröder,
http://www.bundeskanzler.de
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Sehr geehrter Herr Bundeskanzler,
zum 60. Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz haben Sie
erneut und richtigerweise zur Bekämpfung von Antisemitismus und
Rechtsextremismus aufgerufen. Auf der Gedenkveranstaltung des
Internationalen Auschwitz Komitees sagten Sie, nie wieder dürfe es den
Antisemiten gelingen, jüdische Bürger zu bedrängen und zu verletzen - und
damit Schande über Deutschland zu bringen. Die Auseinandersetzung mit
Neonazis und Altnazis erklärten Sie zur gesamtgesellschaftlichen Aufgabe.
Ihrer Rede ist zuzustimmen und Ihnen gebührt Anerkennung und Dank, auch
im Hinblick auf den schon früher von Ihnen ausgerufenen "Aufstand der
Anständigen". Abseits feierlicher Gedenkreden sehen wir uns aber mit
ganz anderen Realitäten konfrontiert, und diese Konfrontation ist um so
schmerzlicher und trifft um so unvorbereiteter, je mehr man diesen Reden
vertraute.
Es war sicher ein wichtiger und richtiger Schritt, 200
Millionen Euro zur Bekämpfung des Rechtsextremismus zur Verfügung zu
stellen. Es sind aber nicht alle anständig, die aufstehen, wenn Fördermittel
in Aussicht gestellt werden, und es sind sicher nur wenige der Zuständigen
so engagiert und kompetent, wie es dieses Thema erfordern würde. Wie sonst
ist zu erklären, dass schon seit Langem vom Scheitern des "Aufstands der
Anständigen" gesprochen wird und immer häufiger der "Zustand der
Zuständigen" beklagt wird.
Am sinnvollsten lassen sich die Gründe
dieses Scheiterns an Beispielen aus der Praxis erklären. Bis vor Kurzem war
mit "haGalil onLine", wenn auch nur indirekt, unter den fast 4.000
unterstützten Projekten und Initiativen auch eine außerordentlich
erfolgreiche und nachweisbar effektive Maßnahme gegen die antisemitische
Hetze im Internet vertreten. Aus angeblich formalen und
verwaltungstechnischen Gründen fand es der zuständige Referatsleiter im
BMFSFJ nun legitim, diese Unterstützung zu streichen und haGalil online
aufzugeben, nur um einem Antrag auf Trägerwechsel, und damit direkte
Unterstützung, nicht nachgeben zu müssen.
Die immer neuen und z.T.
widersprüchlichen Auskünfte und Argumentationen will ich hier nicht
kommentieren. Erwähnt werden soll jedoch, dass das Referat 503 im BMFSFJ
bereits zu einem früheren Zeitpunkt die Tatsache ins Feld führte, dass
keines der geförderten Projekte so massiv attackiert werde, wie "haGalil".
Dass diese Tatsache nur die Effektivität unserer Arbeit, wie auch die
Virulenz des Antisemitismus beweist, wollte der zuständige Referatsleiter
damals nicht begreifen. Dass er sich deshalb schon im Jahre 2003 von uns
distanzierte, war erschreckend. Viel folgenschwerer ist aber, dass nun ein,
nach früherer Auskunft des Ministeriums, durchaus nicht ungewöhnlicher
Antrag auf Trägerwechsel zum Anlass genommen wird, haGalil komplett aus der
Bundesförderung zu entfernen. Dies ist um so bitterer, als doch der
"Aufstand der Anständigen" einmal unter dem Motto "Zivilcourage" ausgerufen
wurde. Dabei geht es aber nicht nur um Mut und Courage, sondern auch um
Kompetenz und Sachverstand, ohne die selbst eine Investition von 200
Millionen Euro nur sehr kurzfristige und symbolische Wirkung haben wird.
Sehr geehrter Herr Bundeskanzler, ich gehe
davon aus, dass Sie haGalil selbst nicht kennen, deshalb erlaube ich mir,
Sie darauf aufmerksam zu machen, dass Sie ohne unsere Arbeit wohl auch von
den antisemitischen Tiraden des MdB Hohmann nichts wüssten. Dessen
"Rede zum Nationalfeiertag" wurde nämlich erstmals in haGalil als hetzerisch
bezeichnet und erst nachdem wir Presse, Rundfunk und Bundestag darauf
aufmerksam gemacht hatten, wurde der damalige Unionsabgeordnete so bekannt,
dass seine Position auch in der Union unhaltbar wurde. Dies ist nur ein
Beispiel, wie unser Engagement weit über das Internet hinaus wirkt.
Erst vor wenigen Tagen bezeichneten Sie die
nazistische Hetze als "widerlich". Sicher wissen Sie, dass sich diese Hetze
nirgendwo so widerlich und unverblümt zeigt, wie im Internet. Das Internet
ist zum wichtigsten Medium zur Verbreitung antisemitisch-nazistischer Hetze
und rechtsextremistischer Vernetzung geworden. Gleichzeitig findet aber auch
die oft beschworene Zivilgesellschaft in keinem anderen Medium einen
stärkeren Ausdruck. Es ist deshalb notwendig, dem Antisemitismus im Internet
auch im Internet
etwas entgegen zu setzen.
Sehr geehrter Herr Bundeskanzler, alle
Teile der deutschen Kultur und Gesellschaft, sollten in allen
gesellschaftlichen Bereichen vertreten sein, so auch der von Ihnen
angesprochene unersetzliche jüdische Anteil. Dies muss auch für moderne
Ausdrucksformen und Medien gelten, denn die jüdische Gemeinschaft ist nicht
nur Teil der Geschichte, sondern auch der Gegenwart.
Dies zu
demonstrieren, ist uns mindestens so wichtig, wie die Rückeroberung
öffentlicher Räume und das Zurückdrängen rechtsextremistischer Propaganda.
Vielleicht liegt der Erfolg unseres auch international wahrgenommenen
Modells gerade darin begründet, dass wir von Anfang an nicht gegen, sondern
für etwas gearbeitet haben: Wir haben weniger gegen die Lüge
gearbeitet als vielmehr für die Wahrheit, wir waren nicht gegen die
Einfalt, sondern haben die Vielfalt mitgestaltet.
Ich zweifle nicht
an der Aufrichtigkeit Ihrer Worte, im Gegenteil, ich bin froh, dass gerade
Sie in dieser Zeit dieser Regierung vorstehen. Selten hat sich eine
Bundesregierung, so deutlich gegen Rechts positioniert. Es ist
unerträglich, wenn die Chance, die in Programmen wie entimon liegt, vertan
wird und effektive und sinnvolle Aktionen durch symbolhafte Projekte, die
nur immer wieder alte Wege neu erfinden, erdrückt werden. Ein tatsächlich
kraftvolles Engagement kann durch den falschen Eindruck, "es werde ja etwas
getan" vereitelt werden.
Mit dem Aus für haGalil onLine wäre das
größte Informations- und Aufklärungsangebot zum Judentum außerhalb der USA
und Israels zerstört. Eine Umleitung deutschsprachiger Schüler, Lehrer und
sonstiger Interessierter auf englischsprachige Bildungseinrichtungen ist nur
bedingt sinnvoll, u.U. sogar kontraproduktiv. Für viele am rechten Rand
wäre das Ende unserer Arbeit ein Triumph, den wir ihnen nicht gönnen dürfen,
denn er wird nur Auftakt sein für weiteren Terror und weitere Hetze - und
das sicherlich nicht nur im Internet.
Seit zehn Jahren bauen wir
diesen Schutzwall gegen die rechte Propagandaflut kontinuierlich auf und
stützen uns dabei auf drei strategische Grundpfeiler: Gegensteuerung durch
Aufklärung, Kommunikationsangebote und Nutzung der gegebenen
Rechtsvorschriften.
Wie ist es möglich, dass man im Bundesministerium noch nicht einmal an der
Absicherung der nachhaltigen
Wirksamkeit bereits investierter Bundesmittel interessiert ist?
Es kann doch nicht
sein, dass die notwendige Fortsetzung einer erwiesenermaßen effektiven,
erfolgreichen und dauerhaft wirksamen Arbeit gefährdet wird, weil man der
Frage der formellen Trägerschaft eines Programms größere Bedeutung beimisst,
als dem Projekt selbst.
Noch im Dezember wurde uns versichert, der politische Wille zur
Unterstützung unserer Arbeit sei eindeutig.
Heute müssen wir Sie darum bitten, Ihren
Einfluss zu nutzen, um eine unbürokratische Lösung herbei zuführen.
Mit freundlichen Grüßen aus München,
Eva Ehrlich 1. Vorsitzende haGalil e. V.
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