Wirtschaftswachstum in Israel:
Bibi verleiht Euch Flügel
Leitartikel, Jedioth Achronoth, 11.04.2005
Bibi Netanjahu feierte gestern mit einiger Verspätung den
zweijährigen Erfolg seines Wirtschaftsprogramms. Sein Programm war
erfolgreich. Das zeigen die Zahlen. Aber es hatte auch einen
gesellschaftlichen Preis- das zeigen die Zahlen ebenfalls.
Netanjahu stellte gestern auch seine Zukunftsvision vor: Der
israelische Markt könne in den kommenden 10 Jahren in einem Tempo von 4% im
Jahr wachsen, und mit diesem Tempo werden wir sogar die westlichen
Industriestaaten überholen. In wieweit ist die Vision Netanjahus
realistisch? Gibt es tatsächlich Aussichten auf ein israelisches
Wirtschaftswunder?
Es ist durchaus möglich, dass Israel innerhalb von zehn
Jahren von einem nationalen pro Kopf Einkommen von heute 18.000 Dollar auf
28.000 ansteigen kann. Netanjahu tut gut daran, dass er dies als Ziel
festsetzt. Er ignoriert dabei jedoch zwei Voraussetzungen, ohne die es keine
Hoffnung auf eine Wende gibt.
Die erste Voraussetzung für die Umsetzung der Vision ist ein
umfassendes Friedensabkommen mit den Palästinensern und der arabischen Welt.
Ohne politisches Abkommen und einem Ende der Besatzung wird die israelische
Wirtschaft immer im Rückstand bleiben. In acht langen Jahren, seit der
Ermordung Rabins bis zum Ende der Intifada, betrug das israelische
Wirtschaftswachstum 0%. In dem Land, das Netanjahu gerne als Beispiel nennt,
Irland, belief sich das Wirtschaftswachstum in derselben Zeitspanne auf 65%.
Die Kluft zwischen uns und dem Westen hat sich vertieft, so auch unser
wirtschaftlicher Rückstand. Das war der Preis des blutigen Konflikts.
Die zweite Voraussetzung für Wirtschaftswachstum ist die
Wiederaufnahme des internen Dialogs in Israel. Die zivile Gesellschaft in
Israel ist gespalten, zerrissen, gewalttätig und ungleich, und das in
erschreckendem Ausmaß. Die schwachen Schichten, die Opfer der Rezession und
die Opfer des Endes der Rezession, werden nicht warten, bis der Saft, der
aus den Früchten des Wachstums gepresst wird, von oben auf sie
heruntertropft, wenn überhaupt. Auch ihre Geduld hat ein Ende. Die zwei
Millionen Angestellten wollen an der Ausarbeitung der
wirtschaftlichen-sozialen Politik teilnehmen, an der Festlegung ihrer Ziele
und ihres Preises. Das irische Wirtschaftswunder stützt sich nicht nur auf
die Übernehme einer "freien Wirtschaft", sondern in gleichem Maße auf eine
volle Beteiligung der Gewerkschaften an der Gestaltung der Wirtschafts-,
Sozial- und Umweltpolitik.
Nur so kann die Öffentlichkeit begeistert werden, und nur so
kann ihr die Vision von Israel als Irland des Nahen Ostens vermarktet
werden. Deshalb ist die theatralische Art, mit der Netanjahu gestern seine
Botschaft für das nächste Jahrzehnt vorgestellt hat, bedauerlich. Es
entsteht der Verdacht, dass er damit seinen Wahlkampf eröffnet hat. Dafür
hat das Finanzministerium sogar eine bunte Broschüre veröffentlicht, in der
die Erfolge der letzten zwei Jahre zusammengefasst werden. Solche Broschüren
nehmen meistens ein böses Ende: Normalerweise werden sie bei der nächsten
Krise zu einem Beweis für die Arroganz ihrer Verfasser.
Medienspiegel der Deutschen Botschaft Tel Aviv
hagalil.com 12-04-2005 |