Rezension
/ Kritik:
Die Knospen des BösenPierre
Heumann
Vom Ursprung des jüdisch-palästinensischen Konflikts und der britischen
Mandatsmacht, fabelhaft erzählt von Tom Segev.
Deprimierend und erfrischend zugleich ist das Buch des
israelischen Historikers und Journalisten Tom Segev über die Ursprünge des
jüdisch-palästinensischen Konflikts. Deprimierend, weil es die zwangsläufige
Entwicklung zu Gewalt und Krieg dokumentiert, und erfrischend, weil es
anhand neuer Quellen das Verhalten der britischen Mandatsmacht in Palästina
von 1917 bis 1948 neu bewertet und dabei zu überraschenden Ergebnissen
kommt.
Gleich am Anfang des fast 700 Seiten starken Werks skizziert Segev mit der
Schilderung eines kleinen Friedhofs am Südhang des Berges Zion die Stimmung
im 19. Jahrhundert und nimmt das kommende Blutvergiessen in Palästina
vorweg: «Als [im 19. Jahrhundert] die ersten Toten hier bestattet wurden,
war Palästina eine entlegene Region des Osmanischen Reichs. Die Uhren
tickten langsam – das Tempo wurde bestimmt vom Schreiten des Kamels und den
Zügeln der Tradition.» Doch als gegen Ende des 19. Jahrhunderts Muslime,
Christen und Juden ins Land einwanderten, erwachte das Land aus seiner
«levantinischen Betäubung». Nach seiner packenden Darstellung der
Umwälzungen im Nahen Osten schwenkt Segev auf den Friedhof am Fuss Zions
zurück, wo inzwischen viele Tote liegen: «Die meisten von denen, die im
hinteren Teil bestattet sind, kamen bei den immer wieder aufflammenden
Gewaltausbrüchen ums Leben, die für die dreissigjährige britische Herrschaft
so charakteristisch wurden.»
An der Tragödie Palästinas sind die Briten nicht ganz unschuldig. Als sie
gegen Ende des Ersten Weltkriegs das Heilige Land eroberten, behandelten sie
es als eine politische Einheit. Sie ahnten noch nicht, dass das
Mandatsgebiet bereits zerrissen und seine idyllische Ruhe von einem
unlösbaren Konflikt bedroht war. «Von Anfang an blieben nur zwei
Möglichkeiten», schreibt Segev: «Entweder besiegten die Araber die
Zionisten, oder die Zionisten unterwarfen die Araber. Der Krieg zwischen
beiden war unvermeidlich.» Doch die «Briten taten so, als wäre die
Errichtung einer nationalen Heimstätte für die Juden durchführbar, ohne den
Arabern zu schaden, und manche mögen dies tatsächlich geglaubt haben.»
Arabischer Ausverkauf
Als Dank für die Unterstützung im Kampf gegen die Türken stellten die
Engländer Palästina den Arabern in Aussicht. Den Juden versprach London
denselben Landstrich als nationale Heimstätte, weil es die Zionisten als
Ver- bündete gewinnen wollte. Die britischen Kolonialherren waren nämlich
überzeugt, dass die Juden «das Rad der Geschichte» drehen würden. Bei ihrem
letztlich antisemitisch gefärbten Vorurteil unterlagen die Briten allerdings
einer Täuschung: Abgesehen vom Mythos der geheimen Macht, hatten die Juden
nichts zu offerieren.
Segev zeichnet das Bild einer widersprüchlich und teilweise irrational
handelnden englischen Kolonialmacht sowie einer zielbewusst agierenden
zionistischen Minderheit. Die Araber aber begriffen den Ernst der Lage nicht
und versäumten es, ihre Interessen zu verteidigen. Deshalb hatten im sich
anbahnenden Konflikt die Zionisten trotz ihrer zahlenmässigen Unterlegenheit
die besseren Chancen. Das Streben nach nationaler Unabhängigkeit war bei den
Arabern noch in den zwanziger Jahren zweitrangig. Im Vordergrund standen
Fehden zwischen den einzelnen Clans.
Die Briten unternahmen wenig, um die arabische Gemeinschaft ins 20.
Jahrhundert zu katapultieren. Treu ihrer kolonialen Politik, neigten sie
dazu, das traditionelle Dorfleben der Araber zu bewahren. Obwohl sie damit
gegen die nationalen Interessen ihres Volkes handelten, waren viele Araber
durchaus zum Landverkauf an Zionisten bereit, die sich damit in das künftige
Staatsgebiet «einkaufen» wollten. «Im Allgemeinen wurde mehr Land angeboten,
als sich die zionistische Bewegung mit den ihr zur Verfügung stehenden
finanziellen Mitteln leisten konnte», heisst es bei Segev. Die Marktkräfte
waren stärker als die Ideologie. Araber seien bereit, ihre Seele dem
Meistbietenden zu versteigern, fasste Zionistenführer Chaim Weizmann seine
Impressionen nach einem Treffen mit arabischen Würdenträgern zusammen.
Während die Araber die bedrohliche Entwicklung lange Jahre nicht
realisierten, konnten die Zionisten tüchtig zulegen. Die demografischen
Verhältnisse in Palästina verschoben sich kontinuierlich zu ihren Gunsten.
Bis zur Staatsgründung von 1948 nahm der jüdische Bevölkerungsanteil um mehr
als das Zehnfache zu. Bereits in den dreissiger Jahren diskutierten
Zionisten über Möglichkeiten, die Araber loszuwerden. Im Vordergrund stand
die Deportation: Die Vorstellung des Bevölkerungstransfers, erklärt Segev,
sei in der zionistischen Ideologie tief verwurzelt. Zudem verlangten die
Zionisten von den Briten, dass nur diejenigen Juden ein Visum erhalten
würden, die zum Aufbau des Landes beitragen könnten. Sie wollten vor allem
junge, unverheiratete Männer. Kranken Juden bezahlte die zionistische
Organisation das Rückreisebillett, weil sie verhindern wollte, dass sie der
Gemeinschaft zur Last fallen würden. Erst in den dreissiger Jahren drangen
die Zionisten auf eine Einwanderungspolitik ohne Vorbehalte, um europäische
Juden zu retten.
Der sechzigjährige Segev gehört zu einer Generation von israelischen
Historikern, die den zionistischen Gründungsmythos des Staates Israel
kritisch und aufgrund neuer Quellen untersuchen. So widerlegt er nicht nur
die bisher in den Schulbüchern vertretene These, wonach die Briten die
Zionisten von Anfang an zurückgebunden und benachteiligt hätten. Segevs
Forschung zeigt auch, dass die Zionisten während des britischen Mandats als
Staat im Staat operieren konnten. Sie setzten zum Beispiel durch, dass die
wiederbelebte hebräische Sprache offiziell anerkannt wurde. Verwendet wurde
sie auf Tickets und Fahrplänen der Eisenbahn, auf Steuerrechnungen und
Briefmarken, sogar auf allen Erklärungen der Kolonialmacht. Zionistenführer
Chaim Weizmann rang den Briten dank einer raffinierten Lobbyarbeit immer
wieder Vergünstigungen für die jüdischen Palästinenser ab. Die Kolonialmacht
verhielt sich im arabisch-zionistischen Konflikt oft so parteiisch, dass sie
die Grundlage für das künftige Entstehen des Staates Israel auf Kosten der
arabischen Bevölkerung schuf.
Erst am Vorabend des Zweiten Weltkriegs verschlechterte sich das
zionistisch-britische Verhältnis. Die Engländer wandten sich ab 1939 den
Arabern zu, um ihre Unterstützung im Kampf gegen die Nazis zu gewinnen. Ein
Weissbuch beschränkte den Verkauf von arabischem Grundbesitz an Juden und
begrenzte die jüdische Einwanderung während fünf Jahren auf 75000 Menschen.
Die Juden sollten keinesfalls mehr als ein Drittel der Bevölkerung
ausmachen. Die Zionisten betrachteten die Briten zunehmend als Feinde.
Raum für Histörchen
Segev analysiert nicht bloss die grossen politischen Zusammenhänge.
Anschaulich schildert er auch das komplexe jüdisch-arabische Verhältnis in
den zwanziger und dreissiger Jahren. Minutiös dokumentiert er
Einzelschicksale und macht die Geschichte lebendig, indem er aus
Tagebüchern, Briefen, Memoiren und Zeitungsartikeln zitiert. Ausgiebig zu
Wort kommen zionistische Politiker wie Chaim Weizmann oder David Ben Gurion,
arabische Clanführer wie die Husseinis oder die Nashashibis, aber auch die
englischen Kolonialherren.
Bis zum Schluss des Buchs bleibt Segev nicht nur Historiker, sondern auch
ein begnadeter Erzähler, der Details geschickt mit den grossen Zügen der
Geschichte verknüpft. Die Abenteuer von einzelnen Bürgern sind ihm ebenso
wichtig wie die Handlungen der Mächtigen. Dabei weiss er auch den Wert von
Anekdoten zu schätzen, die wissenschaftlich wertvoll und durch Quellen
belegt sind. Denn auch diese, so findet er zu Recht, «haben unter den
Träumen und Illusionen, den Märchen und Mythen durchaus ihren Platz».
Tom Segev:
Es war einmal ein Palästina. Juden und Araber vor der Staatsgründung
Israels. Aus dem Englischen von Doris Gerstner. Siedler. 670 S., Fr. 49.–
(c) 2005 by Die Weltwoche, Zürich - E-mail:
webmaster@weltwoche.ch
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hagalil.com 28-03-2005 |