Vermeintliche Ruhe:
Nahöstliche Dilemmas
Von Ulrich W. Sahm, Jerusalem
Die vermeintliche Ruhe in Nahost bietet Luft, über
anstehende Probleme zum bevorstehenden Rückzug aus Gaza zu diskutieren.
Dabei mangelt es nicht an Ereignissen, die vor Wochen noch Schlagzeilen
gemacht hätten. So die Erschießung von drei palästinensischen Minderjährigen
in einer israelischen Sperrzone an der Grenze zu Ägypten. Ob die nun harmlos
Fußball gespielt haben oder Waffenschmuggler waren, wie es Polizeichef Mussa
Arafat eingestand, hinderte die Hamas nicht daran, mehr als hundert Raketen
auf Siedlungen abzuschießen.
Solange nur ein Pferd und kein Mensch getötet wurde, hält
sich die israelische Armee an eine von den Politikern auferlegte
"Übergehung" der palästinensischen Waffenstillstandsverletzungen. Im
Westjordanland kam es zu Verhaftungen von "gesuchten Terroristen". Sie
endeten für manche Palästinenser tödlich. Das wird ebenso wenig als
Verletzung der Waffenruhe gewertet, wie die Entdeckung eines 15-Jährigen am
Checkpoint Chawara mit fünf Rohrbomben in seinem dicken Wintermantel. Den
Soldaten war er aufgefallen, weil ein Wüstenföhn an dem Tag die Temperaturen
auf 30 Grad ansteigen ließ.
Die Diskussionen um den israelischen Rückzug aus Gaza und dem
Norden des Westjordanlandes sind nicht abgeschlossen, obgleich die meisten
Siedler zum Umzug bereit sind. Nur steht noch kein Haus, das sie beziehen
könnten. Die Höhe der Kompensation, mit der sie ein neues Leben innerhalb
Israels beginnen sollen, ist noch nicht entschieden. Derweil gehen
Naturschützer auf die Barrikaden, um die letzten Dünen Israels nördlich von
Aschkelon zu retten, während Minister schwören, dass die Neuansiedlung für
die "Gaza-Deportierten" neben und nicht inmitten des Naturschutzgebiets
entstehen werde.
Unklar ist noch das Schicksal der rund 1600 Villen der
Gaza-Siedler. Die Militäranlagen sollen gesprengt werden, die Synagogen
versetzt und die Gräber umgebettet. Doch was soll mit den Häusern geschehen?
Ein Kabinettsbeschluss, sie allesamt zu sprengen, ist hinfällig. Von allen
Seiten kommen widersprüchliche Meinungen. Palästinenser wollen leeres Land.
Um die Wohnungsnot im übervölkerten Gazastreifen zu lindern, brauchen sie
Hochhäuser, keine Villenviertel für Bonzen. Die Israelis fürchten um ihren
"guten Ruf", falls Bilder einer ungezügelten Zerstörungswut um die Welt
gehen. Verhandlungen mit der Weltbank über einen Verkauf der Häuser zwecks
Weitergabe an die Palästinenser sind noch nicht spruchreif.
Heftige Debatten werden um die Frage eines ägyptischen
Aufmarsches im Sinai geführt. Der Friedensvertrag erlaubt Ägypten nur die
Stationierung von Polizisten mit leichten Waffen. Die erwiesen sich als
wenig effektiv, als sie palästinensischen Waffenschmuggel in Richtung Gaza
unterbinden sollten. Israel bot Kairo per "Ausnahmeregelung" den Einsatz von
150 Soldaten nach der Räumung des Gazastreifens an, inklusive des
befestigten Grenzstreifens, der "Philadelphi-Achse". Inzwischen fordern die
Ägypter, ganze 3000 Soldaten in den Sinai verlegen und einen Militärhafen
bei Rafah einrichten zu dürfen. Scharons innerparteilicher Opponent Benjamin
Netanjahu sieht darin schon einen Bruch des Friedensvertrags und zieht einen
Verbleib israelischer Soldaten in der Pufferzone zwischen Ägypten und Gaza
vor. Davon hält aber das israelische Außenministerium nichts, da er Rückzug
nicht perfekt wäre. Israels führender Diplomat Ron Prosor möchte den
Gazastreifen zum "Testfall" für palästinensisches Verhalten nach der
Überlassung eines kompletten Territoriums machen. Sollten aber israelische
Soldaten im Gazastreifen verbleiben, und sei es nur in dem 100 Meter breiten
Grenzstreifen, könnten Palästinenser und internationale Organisationen
behaupten, dass Israel seinen Status als verantwortlicher Besatzer nicht
aufgegeben habe. Das könnte als Vorwand für weitere Anschläge gegen
Besatzersoldaten dienen.
Ein weiteres Dilemma liefert die Bewaffnung der Siedler "zum
Selbstschutz gegen Angriffe von Palästinensern". Wochenlang verhandelten
Regierung und Siedler stillschweigend, um ein Blutvergießen auszuschließen.
Weder Siedler noch Soldaten sollten während des Rückzugs Waffen tragen. Doch
dann machte Verteidigungsminister Schaul Mofas das Thema publik. Sollten
Soldaten die Waffen einsammeln, oder die Siedlervereinigung? Siedlersprecher
Pinchas Wallerstein hält die Veröffentlichungen für eine "Erniedrigung, als
wären die Siedler schießwütige Mörder". Die Siedler seien überzeugte
Nationalisten: "Kein Jude wird je das Blut eines Juden vergießen." Jetzt ist
unklar, ob die Siedler ihre Waffen freiwillig abliefern.
Vor schweren Dilemmas steht auch Palästinenserpräsident
Mahmoud Abbas: Zum Beispiel die versprochene Übergabe weiterer Städte unter
palästinensische Militärkontrolle. Nach Jericho und Tulkarem geriet der
Prozess ins Stocken, offiziell wegen Anschlägen, aber tatsächlich wohl, weil
Abbas den Israelis signalisierte, "noch nicht bereit" zu sein. Denn
Kontrolle bedeutet auch Übernahme von Verantwortung, dass von jenen Städten
keine Anschläge mehr auf Israel ausgehen. Abbas will nicht beschuldigt
werden, die verkündete Waffenruhe gebrochen zu haben, mangels Wille oder
Fähigkeit. Deshalb überlässt er es vorläufig den Israelis, aufzupassen,
obgleich ihn das schwächt, weil die Palästinenser keine Besatzer mehr sehen
wollen.
hagalil.com 18-04-2005 |