Am Tempelberg, Jerusalem:
Eskalation mit Toten und viel PR
von Ulrich W. Sahm, Jerusalem, 10. April 2005
Der Zugang zur Altstadt Jerusalems war schon am Freitag
unmöglich. Der Parkplatz auf dem Zionsberg nahe der deutschen
Dormitio-Kirche war in ein Polizeilager verwandelt worden. "Du weißt genau,
warum wir hier keinen durchlassen", sagte ungeduldig der Polizeioffizier und
ließ sich auf keine Diskussion ein. Scharfschützen hatten Stellung bezogen.
In den Gassen der Altstadt patrouillierten Grenzschützer und Polizisten. An
jeder Ecke standen junge Männer und Frauen mit dem Finger am Abzug ihrer
M-16 Schnellfeuergewehre.
Am Freitag durften nur Männer über vierzig zum Moslem-Gebet auf den
Tempelberg. Nur "blaue Ausweise" wurden reingelassen, also israelische
Bürger, während Inhaber orangefarbener Identitätskarten aus den
Palästinensergebieten schon vor den Stadtmauern abgefangen wurden.
Anlass für die Spannungen war der geplante "Marsch der Tausenden"
rechtsextremistischer Juden. Sie wollten auf dem Tempelberg die Moscheen
stürmen, Unruhen auslösen und so von dem Rückzug aus Gaza ablenken oder ihn
gar verhindern. 3000 Polizisten hatten bis Sonntag früh die Zugangsstraßen
zur Altstadt mit Gittern versperrt. Alle paar hundert Meter verlangte ein
Uniformierter den Ausweis.
"Ich hab mich als Weltlicher verkleidet", erzählt ein Aktivist der Radikalen
vom "Marsch der Tausenden". Die Schaufäden frommer Juden hatte er in der
Tasche versteckt und anstelle einer gestickten Kipa trug er eine
Schiebermütze: "Im jüdischen Staat werden Juden nicht zu ihren Heiligen
Städten zum Gebet durchgelassen, weil die Moslems mit Gewalt drohen." Ein
Journalist hatte ihn auf dem Vorplatz der Klagemauer entdeckt, nahe dem
schwerbewachten Mugrabi-Tor zum Tempelplatz. Auf seinem T-Shirt stand
"Marsch der Tausenden". Das Interview wurde unterbrochen, weil die Polizei
ihn doch festnahm, kurz verhörte und für 12 Stunden aus der Altstadt
verbannte. "Die Polizei wird noch erklären müssen, wie dieser Aktivist trotz
Kontrollen bis zur Klagemauer vordringen konnte", meinte der Reporter.
Aufmerksamer waren die Polizisten an einem anderen Zugang zu den
Heiligtümern. Sie entdeckten einen jungen als Frau verkleideten
Palästinenser. Er trug keine Waffe und wollte sich hunderten Jugendlichen
anschließen, die in der Nacht auf den Tempelplatz gelangten. Sogar Scheich
Hassan Jusuf von der Hamas-Organisation aus Ramallah hatte sich heimlich bis
zum Tempelplatz durchgeschlagen. "Wir Moslems werden mit unserem Leben das
erhabene Heiligtum verteidigen. Falls die Juden wagen sollten, El Aksa zu
stürmen, wird es eine Dritte Intifada geben", wettere er durch die
Lautsprecher der drittheiligsten Moschee des Islam. Für den Scheich war der
medienwirksame Auftritt in Jerusalem eine Gelegenheit, seine Position im
bevorstehenden Wahlkampf zum palästinensischen Parlament zu
verbessern. Die beabsichtigte "Explosion" in Jerusalem blieb vorläufig aus,
dank eines präzedenzlosen Polizeiaufgebots, der gelungenen Unterbindung
einer Provokation rechtradikaler Rückzugsgegner und der Altersbeschränkung
für Moslems, die auf dem Tempelplatz ihr Gebet verrichten durften. Die
Steinwürfe wütender Palästinenser nahe dem Rockefellermuseum und gegenüber
dem Garten Getsemane, wobei zwei Polizisten leicht verletzt wurden, fielen
nicht mehr ins Gewicht.
Gefährlicher waren die Ereignisse bei Rafah im südlichen Gazastreifen. Drei
palästinensische Jugendliche im Alter von 14 bis 15 wurden an der Grenze
nach Ägypten von israelischen Soldaten erschossen. Radikale palästinensische
Organisationen betrachteten den Tod der Kinder als eine Aufkündigung des
Waffenstillstandes und jagten über 70 Mörsergranaten auf israelische
Siedlungen. Es entstand Sachschaden und ein Pferd wurde getötet. "Solches
Töten unserer Kinder werden wir nicht hinnehmen. Israel sollte die
Beruhigung respektieren", protestierte Präsident Mahmoud Abbas.
Ein namentlich nicht genannter "Augenzeuge" machte weltweite Schlagzeilen
mit der Behauptung, die Jugendlichen hätten Fußball gespielt. Soldaten
schossen, als sie ihrem Ball hinterhergelaufen seien. Doch die Wirklichkeit
sah wohl anders aus. Insgesamt fünf palästinensische Jugendliche wollten
wohl illegal die Grenze überqueren, um Waffen zu schmuggeln. Das verrieten
die beiden Überlebenden der palästinensischen Polizei nach ihrer Festnahme.
Das israelische Militär schickte einen "scharfen Protest" an die
palästinensischen Sicherheitskräfte. Gemäß den Abmachungen wäre es deren
Aufgabe gewesen, die Kinder von der israelischen Sperrzone entlang der
Grenze fernzuhalten. Der palästinensische Innenminister Nassar Jusuf erhielt
die "dringende Aufforderung", den Beschuss der Siedlungen mit Mörsergranaten
"umgehend zu stoppen".
Angesichts des in Kairo unter den Palästinensern ausgehandelten
"Waffenstillstands" hat das israelische Militär seinen Soldaten befohlen,
nur noch in Extremfällen das Feuer zu eröffnen. In den vergangenen Monaten
wurden 600 Zwischenfälle registriert, bei denen sich Palästinenser dem
Grenzzaun genähert hätten, um nach Israel einzudringen, ohne dass es Tote
gab. Am Samstag entschärften Feuerwerker eine frische 200 Kilo Bombe neben
der Zufahrtsstraße zu einer der Siedlungen. "Wir hörten die aufgestiegenen
Hubschrauber, aber sie haben nicht einen Schuss abgegeben, während wir uns
wegen der palästinensischen Granaten in unsere Schutzkeller verkriechen
mussten", empörte sich eine Siedlerin.
hagalil.com 10-04-2005 |